Zur ersten Ausgabe (02/2016)

Man kennt die Herausforderung in politischen Organisationen: Wenn sich die Kreise einmal geschlossen haben, kann es schwer sein, etwas Neues…

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Man kennt die Herausforderung in politischen Organisationen: Wenn sich die Kreise einmal geschlossen haben, kann es schwer sein, etwas Neues zu machen und Nachwuchs zu gewinnen. Innerhalb der HDS soll ein solches «junges Forum» entstehen, das eigenständig an Ideen arbeitet, aber auch an einem generationsübergreifenden Dialog interessiert ist. Die bestehenden HDS-Strukturen wollen wir nutzen, um sie in unserem Sinne «kreativ zu beleben». Die Älteren, die schon da sind, und die Jüngeren, die dazukommen, sind keine unversöhnlichen Antipoden, sie sollen sich wechselseitig ergänzen und konstruktive Schnittpunkte finden.

Also haben wir einen Aufruf gestartet zur Frage: «Der demokratische Sozialismus als Sammelname einer ‚besseren Welt‘?». Ausgangspunkt war eine Rede, die der junge Willy Brandt 1949 zu den «Programmatischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus» gehalten hatte. Darin mahnte Brandt, dass man bei allem notwendigen Pragmatismus und tagespolitischem Klein-Klein nicht das Fernziel einer besseren Gesellschaft aus den Augen verlieren dürfe. Da dieser Text in einem Teil der folgenden Beiträge eine Rolle spielt, wird er zur einleitenden Lektüre empfohlen (online als Volltext verfügbar). Die Resonanz auf unseren Aufruf war groß, die vorliegende Textsammlung ist nur eine Auswahl aus dem, was uns erreicht hat – was uns dazu bewegte, den Umfang deutlich zu erweitern und in naher Zukunft unser Onlineangebot auszubauen. Im nächsten Jahr planen wir, jeweils zu den beiden Jahresausgaben, zwei offene Treffen.

Zum thematischen Fokus haben wir bereits viele Ideen. Diesen ersten Call haben wir bewusst offengehalten. Ein Wasserzeichen wird sich nach und nach schon finden lassen. Die Frage nach dem «demokratischen Sozialismus» – und somit die Systemfrage – mag in «alternativlosen» Zeiten überraschen. Vielleicht kommt sie gerade deshalb aber auch zum richtigen Zeitpunkt. Der «demokratische Sozialismus» als begrifflicher Platzhalter einer besseren Welt ist eine Konstruktion. Durch Verständigung können seine Möglichkeiten in der Lebensführung sowie in bereits verwaisten Projekten erkannt und  adaptiert werden. Anschluss finden kann man, im beschleunigten Strom, nicht mehr isoliert – Verständigung und Offenheit, mit der Hoffnung auf eine progressive Bewegung, ist wohl das, was realiter noch bleibt. Wer im Elfenbeinturm sitzt, bleibt dort nicht lange, das wusste Gustave Flaubert: «Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; doch eine Flut von Scheiße schlägt an seine Mauern, so dass sie einzustürzen drohen.»

Es ist nicht nur Möglichkeit, sondern historische Notwendigkeit, die marxsche Grundlinie zeitgemäß weiterzudenken, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.» Es sind nicht nur «beachtliche Einzelne», die progressive Habitusformen ausbilden; Orientierungslosigkeit, die eben zur Entlarvung von Fremdbestimmung führen kann, wird zum Massenphänomen. Daher müssen diese Leerstellen mit Identitätsangeboten erkämpft werden. In Zukunft wird es verstärkt um die Frage gehen, wie sich ein «gutes Leben» von einem «entfremdetem Leben» unterscheidet. Hierbei wissen wir bereits einiges über den Menschen, sein soziales Wesen, über die «verborgenen Mechanismen der Macht». Für die freie Welt bleibt der «demokratische Sozialismus» das «alternative Prinzip zur jeweils existierenden Wirtschafts- und Gesellschaftsform und zugleich regulative Idee des emanzipatorischen Fortschritts» (Grebing, 2007). Eine weitere Beschreibung versucht Brandt in seiner Rede (S.129): «Der demokratische Sozialismus ist ein in sich nicht abgeschlossenes System von Vorstellungen über eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sein formuliertes Programm wird immer nur die Summe gemeinsamer grundsätzlicher Überzeugungen in einer bestimmten Periode entsprechend dem jeweiligen Grad wissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Aber diesen sich weiterentwickelnden grundsätzlichen Überzeugungen liegt eine gemeinsame Lebensanschauung zugrunde. Sie fußt auf dem Bekenntnis zur Freiheit und zum Humanismus, zum Rechtsstaat und zur sozialen Gerechtigkeit.»

Zur Einführung der Ausgabe 02/2016 steckt Alexander Amberger das Brandtsche Spannungsfeld zwischen wahlpolitischem Nah- und utopischem Fernziel ab, das jede progressive Bewegung, die sich vor der Macht nicht drückt, in Widersprüche verwickelt. Amberger warnt aber davor, es einseitig zugunsten der Tagespragmatik aufzulösen. Ken Pierre Kleemannn verwirft die Konstruktion vom «demokratischen Sozialismus» als «grammatikalischen Unsinn» und empfiehlt, die Ziele beim Namen zu nennen: «liberale Grundrechte, parlamentarische Verfahren und eine sozialistische Zukunftsperspektive, die eine Volksherrschaft erst ermöglichen soll». Moritz Rudolph fragt nach den globalpolitischen Voraussetzungen einer Emanzipationspolitik. Mit Trump, so seine These, werden sie schlechter. Auch Jonas Ganter rückt die globale Dimension ins Zentrum: Er empfiehlt sozialdemokratischen Internationalismus als Alternative, sowohl zur neurechten Abschottung als auch zur neoliberalen Markthörigkeit. Mark Fischer will, dass sich Wissenschaft in die politische Debatte einmischt. Sie darf sich nicht zu schade sein, Weltbilder und den Alltagsverstand zu formen. Schließlich rezensiert Hendrik Küpper das neue Sozialismusbuch von Axel Honneth und lobt es vorsichtig.

Fast alle, die hier schreiben, sind jünger als 35, die meisten unter 30. Sie wurden mehrheitlich nach Gründung der perspektiven ds geboren. Die deutsche Teilung kennen sie nicht mehr, Helmut Kohl ist ihnen allenfalls eine blasse Kindheitserinnerung, Willy Brandt eine Figur aus den Geschichtsbüchern; sie sind aufgewachsen im Schatten der Fukuyamaschen Posthistorie. Wahrscheinlich prägt all das ihre Sicht auf die Welt – und diese sollten sie in die politische Debatte einbringen. Unser Ziel ist es nicht, einen Generationenkonflikt herbeizuschreiben, wo keiner ist. Nicht jung gegen alt ist unsere Linie, aber wir glauben, dass politische Universalphänomene – zum Beispiel der Klassenkonflikt – durch die jeweilige Generationenbrille verschieden wahrgenommen und artikuliert werden. Wer jung ist, liest und schreibt anders. Ob es bei diesem Formunterschied bleibt oder ob es auch inhaltliche Differenzen gibt, wird sich zeigen. Im Jahr der Brandt-Rede, 1949, gründete sich in den USA die sozialistische Zeitschrift «Monthly Review». Zur Frage «Warum Sozialismus?» meldete sich auch Albert Einstein: «In unserem Zeitalter des Wandels ist Klarheit über die Ziele und Probleme des Sozialismus von größter Bedeutung. Da unter den gegenwärtigen Umständen die offene und ungehinderte Diskussion dieser Probleme einem allgegenwärtigen Tabu unterliegt, halte ich die Gründung dieser Zeitschrift für ausgesprochen wichtig.» Eine Ermutigung, die auch wir für unsere erste Ausgabe gelten lassen würden.

Danken wollen wir insbesondere Helga Grebing, Klaus-Jürgen Scherer, Kira Ludwig und Horst Heimann für die gemeinsame Initiierung und ständige Unterstützung des Vorhabens. Auch Hendrik Küpper gilt ein großer Dank, der uns durch die kritische Sichtung des Manuskripts unterstützt hat.

Moritz Rudolph & Simon Obenhuber, Dezember 2016

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