Ken Pierre Kleemann: Demokratischer Sozialismus – grammatikalischer Unsinn

Sozialismus=radikale Demokratie? Ken Pierre Kleemannn verwirft die Konstruktion vom «demokratischen Sozialismus» als «grammatikalischen Unsinn» und empfiehlt, die Ziele beim Namen zu nennen: «liberale Grundrechte, parlamentarische Verfahren und eine sozialistische Zukunftsperspektive, die eine Volksherrschaft erst ermöglichen soll».

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Die Bundeszentrale für politische Bildung lässt seit Jahren auf ihrer Infobroschüre zum Thema Demokratie ein wunderschönes Bild des antiken Athens auf dem Cover prangen. Lehrpläne und Schulen verweisen auf die Entscheidung der Mehrheit, welche den großen Teil des Peloponnes beherrscht haben soll. Der Feuilletonist setzt, wie selbstverständlich, die Begriffe Demokratie und Volksherrschaft gleich. Nun wundert man sich, wie sogenannte Populisten mit digitalen Wundermethoden ein vermeintlich postfaktisches Zeitalter einläuten und die Demokratie in Gefahr bringen konnten.

Kein Wort über die schon in Athen vorherrschende und problematische Selektierung und Ausschaltung von Frauen, Sklaven und anderen Minderheiten. Kein Wort über die spezifische Form moderner Demokratie, welche eben nicht homogene Volksmeinung oder Mehrheitsbeschluss bedeutet. Kein Wort, dass es zwischen «Volk» und «Volk» einen Unterschied gibt, dass völkisch nicht bürgerlich bedeutet. Kein Wort über die liberalen und parlamentarischen Grundlagen der Demokratie, welche den Minderheitenschutz durch «Checks und Balances» (die gegenseitige Kontrolle von Verfassungsorganen) in rechtliche Verfahrensweisen einlaufen lassen und damit garantieren.

Dem Begriff Demokratie wurde zu viel aufgebürdet und die reale Einrichtung des liberalen Verfassungsstaates unter propagandistischen Auslegungen des «Endes der Geschichte» vergraben. Fukuyama war nicht so lächerlich, wie er meistens rezipiert wurde und wird, denn mit dem Ende des Ostblocks und damit des «real existierenden Sozialismus» bleibt nur noch die liberale demokratische Grundordnung übrig. Nicht ein Ende der Geschichte, aber sehr wohl ein Ende im Haushalt der grammatischen Erfassung der Welt.

Heute wundert man sich, dass nun Gruppen und medialwirksame Menschen den Gap nutzen und ihre «demokratischen» Rechte gegen die Demokratie richten. Dieser  Neofascismus [sic!] rezitiert den uns allen geläufigen Anspruch auf Volksherrschaft und möchte eine neue Homogenität, sowohl im Volke, wie zwischen den Völkern herstellen. Trumps Wahlentscheidung fiel in Ohio, Wisconsin und Pennsylvania. Klassische «Blue-Collar-Gebiete», welche grundsätzlich demokratisch gesinnt waren und nun, nach allen Wohlstandverlusten der letzten zwanzig Jahre, ihre «demokratischen» Rechte zurück zu bekommen glauben, zeigen ihren Unmut. Die Landtagswahlentscheidungen zugunsten der AfD sind auch in der gesellschaftlichen Mitte und im Speckgürtel der Eigenheimringe der größeren Städte gefallen – nicht nur in den Plattenbaughettos. Neben den wirklich Rechtsradikalen gibt es eine viel größere Gruppe, die sich auf jenes Versprechen der Volksbeteiligung beruft, dass das athenische Vorbild ihnen gibt. Jenseits von postfaktischem Unsinn ist von Dresden bis Calais, von Cleveland bis Amsterdam die liberale Selbstideologisierung umgeschwungen. Das Banner des demokratisch-homogenen Volkswillens wird von Antiliberalen und Antiparlamentariern getragen.

Der  Neofascismus trägt heute auf seinen Fahnen Demokratie und nationalen Widerstand und kann neben einschlägigen Helden des internationalen starken Mannestums auch Che Guevara zu seinen Vorbildern zählen. Dass Letzterer sich ebenfalls für einen Demokraten hielt, ist nicht zu bestreiten. Auch ein Unrechtsstaat wie die DDR sah sich als die wahre deutsche demokratische Republik, gerade weil sie geglaubt hat, Parlamentarismus und Liberalismus überwunden zu haben.

Es ist ja löblich, dass ein Willy Brandt dann vom demokratischen Sozialismus redet und auch heute, in Anbetracht der Angriffe gegen die Menschenwürde, eine Diskussion über die liberalen und parlamentarischen Verfahrensweisen mit der einer demokratischen Zukunftsvision verbunden werden soll.

Dennoch: Sozialismus, und dies gilt für den utopischen, den anarchistischen, den marxistischen, – egal ob zweite oder dritte Internationale – und auch für einen möglichen wissenschaftlichen, ist immer schon eine Form von Demokratie. Soll dieser aber nicht in Extreme ausufern oder gar Arbeitslager bauen, wird die Frage nach der Erhaltung liberaler und parlamentarischer Verfahrensweisen entscheidend. Es gilt, das Erreichte zu bewahren, ohne konservativ zu sein oder gar die Steigbügelhalterrolle zu übernehmen, indem man «Ängste» ernst nimmt und seine Rhetorik daran anpasst. Das Begriffspaar «demokratischer Sozialismus» ist ein großer Widerspruch und spielt, wie Fukuyamas vielbelächelte Sichtweise, dem Gegner in die Hände. Was heute zur Debatte steht, ist ein liberal-parlamentarischer Sozialismus, welcher multilaterale Globalisierung, partizipatorische Politikgestaltung und Umverteilung durch Vermögens-, Erbschafts-, Unternehmens-, und Finanztransaktionsteuern gegen Protektionismus, Nationalismus, Führerdenken und Steuerentlastungen für Unternehmen und Spitzenverdiener erst mal in Stellung bringen muss.

Wer allerdings denkt, damit demokratische oder gar sozialistische Verhältnisse zu bekommen, hält die Geschichte wahrscheinlich für ein Tänzchen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, bei dem die Grundeigenschaft des menschlichen Wesens die Arbeit sein soll. Solche Grundlagen gefährden nicht nur die kritische Sichtung, was ein Sozialismus und damit eine Demokratie sein kann, er liefert darüber hinaus jegliche liberale und parlamentarische Grundlage dem Widerspruch der Zeit aus. Dass der Mensch tätig sein soll und muss, ist selbstverständlich, doch ist Lohnarbeit etwas anderes. Von einem Begriffsverständnis, das nur Mühsal damit verbinden konnte, ist man heute zu einer fetischisierenden Predigt einer Wesenseigenschaft des Menschen gekommen, die zusätzlich von Aufstiegsmöglichkeiten und eingehegten Klassenkonflikten träumt. Lohnarbeit ist zwar auf der einen Seite mein freier Vertragsschluss, den ich nicht annehmen muss, ich kann ja schließlich auf der Straße leben und verhungern. Aber auf der anderen Seite besteht immer noch die Notwendigkeit zu arbeiten, denn ich hab ja nichts anderes als meine Arbeitszeit und -kraft zu verkaufen. Nicht der Gegensatz von Arbeitnehmern und -gebern bestimmt die Gesellschaft, sondern die Fortdauer von Renteneinkünften aus Besitz oder Kapitalerträgen.

Sowohl gegen den heutigen  Neofascismus als auch gegen den Widerspruch der schon erreichten Demokratie sollten wir über einen liberalen und parlamentarischen Sozialismus reden, der die Demokratie als Projekt und Zukunftsziel ernsthaft zu erreichen bestrebt ist, inklusive einer Diskussion, wie eine Gesellschaft funktionieren kann, in der der Mensch nicht der Sklave seines Broterwerbs ist. Planwirtschaft und freie Marktwirtschaft kann nur für alte und verstockte Geister ein Widerspruch sein.

Ob über diesen internationalistischen und kosmopolitischen Zielanspruch hinaus ein Sozialismus möglich ist, der der Lohnarbeit ein Ende macht, ist eine ganz andere Frage. Die große Weltrevolution des Reiches der Freiheit steht nicht bevor, aber sehr wohl die Gefahr des Kippens der liberalen Grundrechte und zwar auf globalem Niveau. Noch ganz anders mag dann die Frage eines Kommunismus behandelt werden, bei dem Autorität und Herrschaft nicht mehr nötig sind. Mit Engels gilt auch für einen echten, zukünftigen demokratischen Sozialismus, der den Zwang zur Existenzsicherung durch Lohnarbeit beseitigt hat, dass er die notwendige Teilung der Arbeit und damit funktionelle Hierarchien beibehält.

In Anbetracht der tatsächlichen Ereignisse unserer Zeit sollten wir derart unsinnige Konstrukte wie den demokratischen Sozialismus vermeiden und ehrlich benennen, um was es geht: liberale Grundrechte, parlamentarische Verfahren und eine sozialistische Zukunftsperspektive, die eine Volksherrschaft erst ermöglichen soll und zwar sowohl gegen einen völkisch gesinnten  Neofascismus als auch gegen die bequeme und elitäre Behandlung der Menschen als postfaktisch verdummte Masse, die vor lauter Emotionen nicht die Demokratie sehen, die sie umgeben soll.

Es mag hart klingen, aber eine Demokratie, wie sie unsere Schulbücher beschreiben, haben wir – zum Glück oder leider – nicht mehr oder noch nicht. Solange einfache Erklärungen als demokratische Meinung durchgehen können, aber auf der Ebene der Argumentationszusammenhänge nur Menschenfeindlichkeit vorherrscht – solange sollten wir uns hüten, in dieses Horn zu stoßen und die dumme Masse im postfaktischen Idiotismus verorten zu wollen, geschweige denn uns auf dem Ende der Geschichte, der schon bestehenden Volksherrschaft, auszuruhen. Es mag absurd klingen, aber auch so mancher Trumpwähler trägt sein Herz links und vielleicht, nur vielleicht, versteht er auch Fakten.


Ken Pierre Kleemann (*1983) aus Halle/Saale. Nach mehreren Verpflichtungen im Ausland studierte er Christliche Archäologie, Evangelische Theologie und Byzantinische Kunstgeschichte an der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg, wechselte aber zur Bolognareform auf einen Bachelor in Sozialwissenschaften, Kernfach Politikwissenschaft an der Universität Leipzig. Anschließend absolvierte er einen Masterstudiengang in Philosophie. Seit 2011 ist er am Institut für Philosophie und Informatik als Dozent tätig und arbeitet an seiner Promotion. Diese beschäftigt sich mit den Problemen und Kontexten positiver Philosophie. Sein Beschäftigungsschwerpunkt befindet sich in den Bereichen praktische Philosophie, analytische Philosophie, Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie und Digital Humanities.

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