Mark Fischer: Zur Rolle von Wissenschaft und Theorie für transformative Politik

Antiintellektualismus = Nährboden für reaktionäre Politik? Mark Fischer will, dass sich Wissenschaft in die politische Debatte einmischt. Sie darf sich nicht zu schade dafür sein, Weltbilder und den Alltagsverstand bewusst zu formen. Sonst tun es andere.

By

Politische Legitimationsmöglichkeiten bestehen nicht nur im Verweis auf Demokratie, Recht oder Moral, sondern sie können und werden sich heute immer auch auf «Erkenntnisse» berufen. Wissenschaft spielt dabei selbstredend eine herausgehobene Rolle. Im Folgenden soll ein Zusammenhang zwischen Theorie, Politik und ihrer öffentlichen Wahrnehmung, auch vor dem Hintergrund eines angeblich «postfaktischen« Zeitalters, aufgezeigt werden.

Aktuelle Wirkungsmacht und Herausforderung in Wissenschaft und Praxis
Der «Demokratische Sozialismus» sieht sich als theoretische Handlungsanleitung von Politik einer Nachwuchskrise gegenüber. Explizit Demokratische Sozialist*innen mit öffentlicher Wirksamkeit, sowohl als Intellektuelle, Parlamentarier*innen, Betriebsräte oder Wissenschaftler*innen gibt es überwiegend noch unter dem Vorzeichen «ehemalig», «emeritiert» oder «ehrenbezeichnet». Das ist nicht despektierlich gemeint. Diese mittlerweile in den Unruhestand versetzten Generationen von demokratisch-sozialistisch orientierten Funktionseliten haben Einfluss auf die Entwicklungen der Bundesrepublik genommen und über Jahrzehnte wichtige Debatten geprägt. Es kam jedoch schrittweise die intellektuelle und damit auch praktische Wirkungsmacht der Theorie abhanden. Eine öffentliche Debatte über eine gesellschaftliche Transformation hin zum «Demokratischen Sozialismus», mit Einfluss auf konkrete politische Praxis, existiert aktuell faktisch nicht.
Drei zentrale Aspekte fehlen für eine solche Wirkungsmacht demokratisch-sozialistischer Theorie. Erstens fehlt ein kohärentes und dabei atmendes theoretisches Denkparadigma, zweitens eine breitere Basis an Anhänger*innen aus den jüngeren Generationen und drittens konkreter gesellschaftspolitischer Einfluss über Funktionseliten. In diesem Artikel liegt der Schwerpunkt auf der Frage nach der politischen Bedeutung von Wissenschaft und ihrem möglichen Beitrag für eine Lösung der genannten Defizite.

Bedeutungen und Auswirkungen wissenschaftlicher Grundannahmen
Die Wirkungskrise demokratisch-sozialistischer Theorie liegt vor allem darin begründet, dass eine politische Verortung von Wissenschaft heute unter generellem Ideologieverdacht steht. Dahinter steckt ein weitverbreiteter objektiver Erkenntnisanspruch in der etablierten Wissenschaft. Dieser wurde ausgehend von den Naturwissenschaften auch auf die Beschreibung ökonomischer und schließlich generell sozialer Verhältnisse ausgedehnt. Der Anspruch objektiver Erkenntnis durch die Anwendung der «richtigen» wissenschaftlichen Methode, anhand möglichst quantifizierbarer Forschungsgegenstände, hat politische Ursachen wie auch Konsequenzen.
Politische Entscheidungsfindung kann mithilfe eines objektiven Erkenntnisanspruches wohlgefälliger Theorie als pfadabhängige Folge wissenschaftlich legitimierter Sachzwänge dargestellt werden. Der in der Politik der vergangenen Jahrzehnte prägende Neoliberalismus basiert auf den Annahmen des Methodologischen Individualismus und damit verbundener individueller Nutzenmaximierungstheorien. Die Vorherrschaft dieser Grundparadigmen in Bezug auf politische Praxis basiert auf für Entscheidungseliten bequemen, weil systemlegitimierenden, Grundannahmen. Der Methodologische Individualismus stellt jeglichen alternativen Gestaltungsansatz unter Ideologieverdacht, ohne seine eigene Rolle als wissenschaftliches Denkparadigma zu reflektieren. Politik aktiv gestalten zu können und nicht den Handlungsrahmen bestimmten Sachzwängen unterzuordnen, ist eine Hauptprämisse für die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Transformationsprojektes. Es muss daher gelingen, dagegen operierenden Überzeugungen bereits an der paradigmatischen Basis erfolgreich entgegenzutreten, seien sie neoliberal, konservativ oder autoritär. Eine vordringliche Aufgabe wäre es anschließend, über Gesellschaftsanalyse hinaus, deutlich sichtbare Alternativen für die politische Praxis anzubieten.

Politik der Sachzwänge als verdeckte Interessenvertretung
Dass vermeintliche Sachzwänge einen Anteil an Politikverdrossenheit haben, ist schwer zu leugnen. Die inszenierte oder reale Ohnmacht politischer Akteure gegenüber vermeintlichen Notwendigkeiten in der politischen Praxis führen zu einer nicht unberechtigten Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber ihres Begründungszusammenhangs. Diese Begründungen liefert oft genug «die» Wissenschaft, die in der Öffentlichkeit als kohärentes Gebilde angesehen wird. Es entsteht in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, «da läuft was falsch». Die Folge ist eine medial aktuell als «postfaktisch» beklagte Wissenschaftsskepsis und scheinbar irrationales Wahlverhalten eines Teils der Bevölkerung. Ein Blick auf die konkrete Situation von Menschen unter dem Handeln von politischen Akteur*innen lässt schnell klar werden, wie stark Wissenschaftsskepsis mit politischen Erfahrungen verbunden sein kann. Ein Beispiel ist die Skepsis gegenüber menschenverursachten Folgen von Umweltverschmutzung oder Klimawandel. Anhand der Verweigerung einer grünen Pkw-Plakette in Ballungsgebieten lässt sich ein Beispiel anführen: Eine solche Maßnahme kommt für bestimmte Einkommensschichten faktisch einem Ausschluss aus dem motorisierten Individualverkehr gleich. Sie können sich schlicht kein anderes Auto leisten. Begründet wird dieser lokal begrenzte Ausschluss mit Hinweis auf der Wirkung des Schadstoffausstoßes auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Implizit spielt auch das Vorhaben der CO2-Reduktion durch die Erneuerung von Fahrzeugbeständen eine Rolle. Gleichzeitig darf am anderen Ende der Stadt der nächste SUV als Zweitwagen der oberen Mittelschichtsfamilie zugelassen werden. Dieses Szenario erscheint nicht nur als gefühlte Ungerechtigkeit. Es ist Ausdruck einer realen materiellen und politischen Verwerfung innerhalb unserer Gesellschaft. Der Ruf nach Verzicht betrifft manche Schichten mehr, manche weniger. «Wissenschaft» kann im Begründungszusammenhang dieser Ungerechtigkeit für die Betroffenen als Komplize bestehender Wohlstands- und Machtverhältnisse wahrgenommen werden. Ohnmacht gegenüber politischen Entscheidungen kann umschlagen in pauschalen Unmut gegenüber legitimierender wissenschaftlicher Theorie, wenn diese immer wieder im Sinne einer Sachzwang-Logik herangezogen wird. Ein durch wissenschaftliche Akteur*innen verbreiteter programmatischer Anspruch von Objektivität wird diesen Effekt eher noch verstärken.

Notwendige Spielräume und öffentliche Wirksamkeit wissenschaftlicher Tätigkeit
Aufgabe von progressiver Politik und Wissenschaft ist es, Entscheidungszusammenhänge offenzulegen sowie entsprechende Handlungsalternativen in einem gesellschaftlichen Kontext aufzuzeigen und entsprechend zu kommunizieren. Der Hintergrund von Entscheidungen muss für alle Bevölkerungsschichten klar erkennbar und mit ihren sozialen Interessen abgleichbar sein. Notwendig ist dafür ein reflektierendes Gegengewicht zur vermeintlichen Sachzwang-Logik jenseits von «Wutbürgertum» und Populismus. Die Forderung nach der Verbindung von linken Intellektuellen und transformativer politischer Bewegung im Interesse einer emanzipatorischen, demokratisch-sozialistischen Gesellschaft ist damit keine Floskel vergangener Auseinandersetzungen: Sie ist reale Notwendigkeit gesellschaftlichen Erfolgs entsprechend orientierter Bewegungen, seien sie parteipolitisch oder außerparlamentarisch motiviert.
Was wären Maßnahmen für ein wissenschaftspolitisches Vorgehen im Sinne einer transformativen Gesellschaftspolitik? Zunächst muss die Bedeutung wissenschaftlicher Institutionen mit klarer inhaltlicher Ausrichtung und Einflussmöglichkeit stärker genutzt werden. Statt des Abbaus von wissenschaftlichem Personal und eigenen Forschungs- und Schulungsansprüchen innerhalb von linken Parteien, Stiftungen oder gewerkschaftlichen Hochschuleinrichtungen würde die umgekehrte Herangehensweise dringend notwendige Impulse für Handlungsinitiativen möglich machen. Dabei geht es vor allem auch um Theorie als Voraussetzung der Ausrichtung politischen Handelns, nicht »nur« um Gesellschaftsanalyse. Es können sich darauf aufbauend breite Rückwirkungen ergeben, sowohl auf andere wissenschaftliche Institutionen und Diskurse als auch auf die Öffentlichkeit und politische Handlungsoptionen. Einwände gegen eine Überbewertung des «akademischen» Diskurses sind dabei gerade in der Sozialdemokratie zu oft ein Deckmantel für die Abwesenheit einer klar progressiv ausgerichteten politischen Praxis im politischen Alltagsgeschäft. Gleichzeitig unterschätzt eine solche «antiakademische» Argumentation den Einfluss von wissenschaftlichen Denkparadigmen auf die Öffentlichkeit und der in ihr geführten Diskurse. Dies gilt unbenommen möglicher Skepsis gegenüber einzelnen wissenschaftlichen Theorien, wie sie hier bereits skizziert wurde. Arbeitgeber*innennahe Institutionen wie die «Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft» machen diesen Fehler ausdrücklich nicht. Die Verankerung neoliberaler Grundüberzeugungen in breiten Teilen der Bevölkerung sollte Warnung und Vorbild zugleich sein. Nur durch das Ernstnehmen wissenschaftlicher Arbeit als Bestandteil politischer Bewegung kann von einer auf Tagespolitik ausgerichteten Form von Politik zur Perspektive langfristiger Transformationsbestrebungen übergeleitet werden. Damit würde eine Allianz von Politik und Zivilgesellschaft überhaupt erst unter einer zielgebenden Perspektive versammelt werden, die die Sozialdemokratie heute in ihrer politischen Praxis so schmerzlich vermissen lässt.

Perspektiven DS
Für das Umsetzen eines solchen, zugegeben ehrgeizigen, Ansatzes liegt die Bringschuld auch bei den Wissenschaftler*innen selbst. Es fehlt gerade in den jüngeren Generationen mehrheitlich das Sendungs- und Einflussbewusstsein im Sinne einer bewusst transformativen Politik. Die Karrierewege bieten oft genug scheinbar einfachere Optionen als die kritische Positionierung gegen die vorherrschenden Lehrmeinungen und theoretischen Verortungen – ohne eigene institutionalisierte Autorität und Absicherung. Es fehlt aber oft schlicht auch der Raum zum interdisziplinären Austausch. Ein Aufruf zur Bildung eines gern auch kleinen «jungen Forums» demokratisch-sozialistisch denkender Wissenschaftler*innen macht aus dieser Perspektive Sinn. Ziel sollte ein Projekt sein, dass die Verbindung politischer und akademischer Funktionseliten, «links» sozialisierter Mittelschichten-Milieus und der gerade wieder «neu» zu entdeckenden «Arbeiter*innenklasse» unter einem gemeinsamen Konzept transformativer Gesellschaftspolitik – hin zum «Demokratischen Sozialismus» – begleitet. Im wissenschaftlichen, wie auch öffentlichen, Diskurs werden die Stimmen gehört, die sich sichtbar organisieren und nachdrücklich für Positionen einsetzen. Ein solcher thematischer Austausch beinhaltet auch den Ansatz zur aktiven Einmischung progressiver Theorie und Wissenschaft in die politische Praxis.

Mark Fischer (*1987) ist Doktorand an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Philosophisches Seminar, Dissertationsvorhaben im Bereich Wissenschaftstheorie, Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, ehem. stellv. Juso-Landesvorsitzender Baden-Württemberg.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert