Hendrik Küpper: Zu Axel Honneths «Idee des Sozialismus»

Transformation der Gesellschaft = Demokratisches Experimentieren? Hendrik Küpper lobt das Buch von Axel Honneth vorsichtig.

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zu: Axel Honneth: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 168 S., € 22,95.

«Das 21. Jahrhundert ist das erste wirklich globale Jahrhundert. Dieses Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert des sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Fortschritts, der allen Menschen mehr Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Demokratie eröffnet. Oder es wird ein Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt.» Dieser Auszug aus dem Hamburger Programm der SPD aus dem Jahr 2007 umreißt die Gefahren des bestehenden Finanzmarktkapitalismus. Umso wichtiger ist es, über Alternativen für diesen nachzudenken. Einen Versuch unternimmt der Sozialphilosoph Axel Honneth mit seinem Buch Die Idee des Sozialismus, in dem er dem Sozialismus zu neuer Kraft verhelfen und ihn damit virulent machen möchte. Ziel soll es hier sein, herauszufinden, welche zeitgemäße Vorstellung eines demokratischen Reformsozialismus sich aus dem Buch gewinnen lässt.

Honneth, Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und wohl einer der wichtigsten Fortführer und noch lebenden Vertreter der kritischen Theorie, reflektiert das normative und gesellschaftstheoretische Fundament einer Politik, die das Ziel des Sozialismus verfolgt und bestimmt dieses Fundament neu. Indem er sich hierfür unter anderem an den Frühsozialisten wie Owen, Proudhon und Fourier und dem jungen Marx abarbeitet und dabei drei Fehler der Gründungsväter des Sozialismus ausmacht, versucht er den Sozialismus zu einem zeitgemäßen demokratischen Sozialismus werden zu lassen, der sich sukzessive durch demokratische Experimente realisieren soll und dessen Endziel nicht festgelegt ist. Anschluss finden Honneths Überlegungen zur Idee des Sozialismus und dessen Aktualisierung besonders an seinen Begriff der sozialen Freiheit, mit dem er seit seinem 2012 erschienenen Buch Das Recht der Freiheit die Umdeutung eines normativen Leitbegriffes vornimmt. Auch an seine Anerkennungstheorie wird angeknüpft.

Doch wie geht Honneth die Revision des Sozialismus an? Um zu verstehen, weshalb die ursprüngliche Idee des Sozialismus an Kraft verloren hat, geht Honneth auf die Entstehung des Sozialismus als Idee ein. Diese habe ihren Ursprung in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Gerade weil die Annahmen des Sozialismus aus der Zeit des kapitalistischen Industrialismus stammen, sind sie aus heutiger Sicht, so Honneth, in Frage zu stellen. Für Honneth kommt es also darauf an, die Fehler im Denkgehäuse des Sozialismus ausfindig zu machen und sie theoretisch zu beseitigen. In einem ersten Schritt legt Honneth dar, was die Idee des Sozialismus in ihrem Kern ausmacht.

Um diese Idee zu verdeutlichen, beschreibt Honneth, dass diese sich herausgebildet hat, als man bemerkte, dass sich die normativen Prinzipien der französischen Revolution, also Freiheit, Gleichheit und Brüderlich, für viele Menschen in weiter Ferne befanden und nicht ausreichend verwirklicht waren. Ziel war es für die Frühsozialisten, diese drei normativen Prinzipien der französischen Revolution miteinander in Einklang zu bringen. Besonders die Forderung nach Freiheit, die als individualistische Freiheit im Sinne einer am Eigennutz orientierten Interessenverfolgung ausgelegt wurde, und die Forderung nach Brüderlichkeit stehen sich unversöhnlich gegenüber. Hier setzt Honneth an und weist darauf hin, dass  «Freiheit nicht als eine bloß private Interessenverfolgung, sondern als ein solidarisches Sich-Ergänzen» (S.32) verstanden werden sollte, um die Ideale der französischen Revolution zu versöhnen. An dieser Stelle setzt der soziale Freiheitsbegriff an. Diese soziale Freiheit bedeutet dann, so Honneth, dass  «jeder einzelne die von ihm verfolgten Zwecke zugleich als Bedingung der Realisierung der Zwecke des jeweils anderen begreift» (S.40). Oder anders: die Freiheit des einen Individuums wird zur Bedingung der Verwirklichung der Freiheit des anderen. Man verwirklicht sich also diesem Verständnis nach nicht gegeneinander, sondern in einem Füreinander.

Auf Basis dieser Idee des Sozialismus, also die soziale Freiheit, die das Soziale in der Gesellschaft durchsetzen und stärken soll, versucht Honneth im zweiten Teil seines Buches aus heutiger Sicht die Gründungsfehler zu revidieren und den Sozialismus so zu aktualisieren. Es gilt, so Honneth, zu folgenden Annahmen einen theoretischen Ersatz, dessen Annahmen nicht mehr in unmittelbarer Verbindung zur kapitalistischen Industrialisierung stehen, zu finden:  «[D]ie wirtschaftliche Sphäre als zentraler, ja einziger Ort der Austragung des Kampfes um die angemessene Form der Freiheit, die reflexive Rückbindung an eine dort bereits vorhandene Oppositionskraft und schließlich die geschichtsphilosophisch aufgeladene Erwartung eines mit Notwendigkeit eintretenden Siegeszuges dieser existierenden Widerstandsbewegung» (S.57).

Die von Honneth vorgenommenen Revisionen sollen an dieser Stelle nur kurz zusammengefasst werden und teilweise an einer späteren Stelle der Rezension vertieft werden. Die Annahme, dass das Proletariat das revolutionäre Subjekt ist, wird von Honneth dadurch revidiert, dass ein zeitgemäßer Sozialismus nicht mehr nur das Proletariat, sondern alle Bürgerinnen und Bürger adressieren muss. Der historische Determinismus wird durch den an Dewey angelehnten historischen Experimentalismus ersetzt, was bedeutet, dass nicht weiter an Gesetzmäßigkeiten geglaubt werden darf, sondern soziale und demokratische Experimente die sozialistische Transformation der Gesellschaft herbeiführen sollen. Der dritte Kardinalfehler, die Reduktion auf die ökonomische Sphäre, muss nach Honneth schließlich durch die Einsicht revidiert werden, dass nicht nur die Ökonomie die Sphäre der sozialen Beziehungen und der politischen Sphäre beeinflusst, sondern sich die Sphären reziprok zueinander verhalten. Demnach müsse der Gedanke der sozialen Freiheit an diese für moderne Gesellschaften konstitutiven Sphären angepasst werden. Die ökonomische Verwaltung einer Gesellschaft müsse darüber hinaus durch eine demokratische Lebensform ohne Kommunikationsbarrieren, wobei Honneth ganz im Sinne von Habermas argumentiert, erneuert werden. Der Kern der von Honneth unternommenen Aktualisierung lässt sich schließlich dahingehend zusammenfassen, dass trotz der ständigen und sukzessiven sozialistischen Transformation eine demokratische – und hier unterscheidet sich Honneth stark von den demokratiedefizitären Entwürfen der Frühsozialisten – Lebensform das Ziel bleibt, in der sich in einem reziproken Verhältnis der drei genannten Sphären die soziale Freiheit verwirklicht und so eine wirklich soziale Gesellschaft entsteht.

Nachdem bislang auf die Intention Honneths und die inhaltlichen Kernaussagen des Buches eingegangen wurde, soll nun auf den Gewinn für einen «Reformsozialismus mit Praxisnähe» kurz Stellung genommen werden. An dieser Stelle sollen daher einige offene Fragen und Grenzen seiner Aktualisierung genannt werden.

Hier soll zunächst auf eine gewisse Problematik hinsichtlich seines Begriffes der sozialen Freiheit eingegangen werden. Zwar kann man folgen, dass sich die normativen Prinzipien der Solidarität und der Freiheit widersprüchlich gegenüberstehen, wenn von einem individualistischen Freiheitsbegriff ausgegangen wird, nach dem Freiheit die Realisierung der eigenen Interessen bedeutet. Und es ist darüber hinaus zweifelsfrei auch ein Kernanliegen des Sozialismus, die Realisierung eigener Interessen auf Kosten anderer zu unterbinden. Doch ist fraglich, ob Honneth, der ansonsten darum bemüht ist, den Liberalismus nicht gänzlich unversöhnlich dem Sozialismus gegenüberzustellen, im Hinblick auf den Freiheitsbegriff ausblendet, dass vieles auch für einen (sozial-)liberalen Freiheitsbegriff spricht. So stellen zum Beispiel die Freiheitsvorstellungen bei Keynes und Rawls durchaus zu berücksichtigende Freiheitskonzeptionen dar, auf die zumindest eingegangen werden könnte, wenn man eine Umdeutung normativer Leitbegriffe vornimmt oder weiter vorantreibt. Dem Buch fehlt im Allgemeinen also die Auseinandersetzung mit (links)liberalen Freiheitsverständnissen. Eine zu starke Einbindung persönlicher Freiheiten, wie sie von Honneth an vielen Stellen gefordert wird, wird zudem womöglich von einigen gesellschaftlichen Akteuren eher als Einschränkung empfunden als eine Form der Freiheit. Honneth setzt mit seinem Freiheitsbegriff eine hohe Bereitschaft zur Solidarität voraus, die keineswegs selbstverständlich und erwiesen ist. Oder anders: Zwar gelingt es Honneth theoretisch hervorragend, den Begriff der sozialen Freiheit zu entfalten und zu entwickeln, doch bleibt zu befürchten, dass in der Praxis für viele Menschen die Realisierung der eigenen Interessen wichtiger ist und ein liberales Freiheitsverständnis dem Verständnis eines Großteils näherkommt als Honneths Freiheitsbegriff. Intuitiv würden wohl nur die wenigsten Menschen, nach ihrem Verständnis von Freiheit gefragt, das soziale Freiheitsverständnis als das ihrige angeben.

Theoretisch kontrovers zu diskutieren bleibt zudem auch, ob es angemessen ist, dass Hegel für die Aktualisierung des Sozialismus nach Honneth an vielen Stellen wichtiger ist als Marx und auch stellt sich die Frage, ob der Feminismus ausreichend und gründlich genug behandelt wurde  und ob kommunitaristische Positionen an zu vielen Stellen Überhand gewinnen. Darüber hinaus lässt sich bemängeln, dass bei Honneth die Kritik an der Gegenwart zu kurz kommt, wenn der Mindestlohn bereits als Erfolg auf dem Wege hin zu einer sozialistischen Gesellschaft gilt.

Was also bietet die Aktualisierung Honneths nun für einen «Reformsozialismus mit Praxisnähe»? Befürwortern eines ursprünglichen Sozialismus, die, so Honneth selbst, wenig von dem ursprünglichen Denkgehäuse wiedererkennen werden, begegnet Honneth als Realist. So will Honneth, um hier noch einmal ausführlicher auf den historischen Experimentalismus einzugehen, nicht  «die vielleicht letzte Chance verspielen, das eigene Projekt noch einmal mit begründeten Hoffnungen auf eine zukünftige Realisierbarkeit verspielen.» (S.164) Die Lösung für das Problem der Realisierbarkeit des Sozialismus sieht er in dem Sozialismus als historischen Experimentalismus. Dem Glauben an Gesetzmäßigkeiten werden Experimente gegenübergestellt, mit der sich die soziale Freiheit in den drei Sphären sukzessive realisieren lassen soll und diese Realisierung an die historischen Bedingungen und Gegebenheiten angepasst werden kann (vgl. S. 78). Dieser Experimentalismus soll die drei Sphären umfassen und bedarf einer freien Kommunikation, wobei der Kommunikationsbegriff, wie bei Habermas, verständigungsorientiert gemeint ist. Für einen experimentellen Sozialismus, wie er von Honneth vertreten wird, ist die  «Befreiung von Kommunikationsbarrieren und interaktionshemmenden Abhängigkeiten» (S.101) unerlässlich. Für Honneth sind demokratische Experimente, die nach dem Bottom-Up-Prinzip u.a. über zivilgesellschaftliche Akteure initiiert werden sollen, also das Mittel zum Umsetzen von akademischen Ideen, die sonst im Elfenbeinturm verharren würden. Die Öffentlichkeit rückt für Honneth so in das Zentrum seiner Aktualisierung. Auf diese Weise legt Honneth mit einem «historischen Experimentalismus» ein äußerst hilfreiches theoretisches Instrument vor, das einen reformistischen Sozialismus denken lässt.

Am konkreten Beispiel könnte das bedeuten, dass die Universitäten einen Raum für Experimente bieten. So nennt Honneth selbst als Ziel, die Wirtschaftswissenschaft von der neoliberalen Dominanz in der Lehre zu befreien und zunächst einmal eine plurale Ökonomik zu fördern. Aber beispielsweise auch ein Grundeinkommen kann experimentell, und an exogene Faktoren angepasst, in die Realität umgesetzt werden – und so auf den Gewinn für eine sozialistische Transformation hin getestet werden. Wie viele kohärentistische Theorien und Ansätze, die funktionieren könnten, haben es bislang nicht aus akademischen Kreisen herausgeschafft?

Nimmt man sich nicht völlig utopisch dem Projekt eines zeitgemäßen Sozialismus an und will diesem auf einem friedlichen und demokratisch legitimierten Weg sukzessive ein Stück näherkommen, so scheint der an Dewey angelehnte «historische Experimentalismus» ein sehr geeignetes theoretisches Werkzeug zu sein. Zum einen bietet der historische Experimentalismus die Möglichkeit, den Sozialismus immer wieder neu an die gegebenen Bedingungen anzupassen und zum anderen stellt er ein demokratisch legitimiertes Werkzeug für den Sozialismus dar, das in der Vergangenheit gefehlt hat. Der Glaube an Gesetzmäßigkeiten und an das Proletariat als revolutionäres Subjekt hat sich schließlich nicht bestätigt und ein revolutionärer Umsturz bricht mit dem Prinzip der Solidarität, sofern er ein Gewaltpotential in sich birgt. Zudem grenzt sich Honneths Sozialismus deutlich vom überholten, dogmatischen Marxismus ab und steht für einen starken Reformsozialismus, der nicht nur die wirtschaftliche Sphäre im Blick hat und somit ein größeres Potential besitzt, eine wirkliche Gesellschaft der Freien und Gleichen zu realisieren. Um also Honneths Entwurf kritisieren zu können, müsste man argumentieren können, wie eine sozialistische Transformation auf einem legitim-demokratischen Wege sonst erfolgen könnte. Was nützen die schönsten sozialistischen Denkgebäude, wenn es keinen Weg in die Praxis gibt? Zwar sind viele Forderungen Honneths von einer realpolitischen Umsetzung noch weit entfernt, doch seine Aktualisierung bietet zumindest das Potential, eine sozialistische Transformation zu fördern, daran mitzuwirken und diese ständig zu reflektieren, damit verhindert werden kann, dass diese Transformation in eine falsche Richtung verläuft.

Es bleibt abschließend nur zu hoffen, um ein  «Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt» zu vermeiden, dass der demokratische Sozialismus wieder an Stärke gewinnt und zusammen mit nahestehenden Philosophien und Bewegungen folgende Bedingungen an eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft Realität werden lässt:  «Nur wenn jedes Gesellschaftsmitglied sein mit jedem anderen geteiltes Bedürfnis nach körperlicher und emotionaler Intimität, nach ökonomischer Unabhängigkeit und nach politischer Selbstbestimmung derart befriedigen kann, dass es sich dabei auf die Anteilnahme und Mithilfe seiner Interaktionspartner zu verlassen vermag, wäre unsere Gesellschaft im vollen Sinne des Wortes sozial geworden.» (S.118) Das theoretische Werkzeug hierfür und eine überzeugende Argumentation mit nur wenigen Schwachstellen liefert uns Honneth. Warum also nicht den demokratischen Sozialismus so denken: als Transformation der Gesellschaft durch demokratische Experimente?

 


Hendrik Küpper (*1997), Abitur 2015 am Albertus-Magnus-Gymnasium in Beckum (NRW), studiert seit 2015 Politikwissenschaft und Philosophie mit Lehramtsoption an der Freien Universität Berlin. Mitglied der SPD, der GEW und Sprecher der Juso-Hochschulgruppe an der FU Berlin. Stipendiat der FES; seine wissenschaftlichen Interessen gelten besonders der Politischen Theorie und Philosophie, der normativen und angewandten Ethik, der Anthropologie, bildungspolitischen Themen, der Religionsphilosophie sowie der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik.

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