Fedo Hagge-Kubat: Alter Wein in neuen Schläuchen? – Zur Postdemokratie und Ihren Wurzeln

Postdemokratie = Neuer Wein in alten Schläuchen? Fedo Hagge-Kubat vergleicht die demokratietheoretischen Analysen von Jürgen Habermas und Colin Crouch und fragt nach Ansätzen, die aus der Krise in eine lebendigere Demokratie führen. Dabei geht es, so Hagge-Kubat, „um ein Narrativ, das den Verhältnissen entgegenzusetzen ist.“ Sozialdemokratie müsse für „gesamtgesellschaftliche Demokratisierung“ stehen und somit wieder mehr sein, „als lediglich die Etab­lierung einer Sozialpolitik, die ökonomische Marktprozesse reguliert und abfedert.“

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Ein wenig streichelte Wolfgang Streek die oft geschundene sozialdemokratische Seele, als er kürzlich in der FAZ das Ende der Kanzlerinnenschaft Angela Merkels prophezeite und in ihrem Abgang gleich das langersehnte Erwachen der deutschen Politik aus ihrer postdemokratischen Narkose sah.[1] Sieht man einmal von den zweifelhaften Zukunftsvisionen des Kölner Sozialwissenschaftlers ab, zeigt seine nonchalante Nutzung des «Postdemokratischen», wie weit dieser von Colin Crouch geprägt Begriff Einzug in die Diskurse um die Zustandsbeschreibungen der Demokratien westeuropäischer Prägung gehalten hat und zur festen Bezugsgröße geworden zu sein scheint.

Gerade aber der inflationäre Gebrauch dieser bei SozialdemokratInnen erstaunlich populären Krisendiagnose des englischen Soziologen bietet Anlass zur kritischen Reflexion. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, einen Vergleich zu einer nicht minder populären Diskussion um den krisenhaften Zustand der Demokratie aus den 1970er Jahren herzustellen.  Damals schuf Jürgen Habermas in seinen Studien über die «Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus» einen Analyserahmen, um dem System inhärente gesellschaftliche Krisenphänomene durch eine umfangreiche systematische Kartierung der damaligen Öffentlichkeit aufzudecken. Der Vergleich zwischen Crouch und Habermas lohnt dabei nicht nur wegen der Reichweite der Debatte und der, wie ich behaupten werde, theoretischen Verflechtungen, sondern auch ob des zeitlichen Bezugsrahmens der 1970er Jahre, der heute oft zu positiv verklärt wird.  Schließlich soll danach gefragt werden, welche Ansätze angeboten werden, die aus der Krise in eine lebendige Demokratie führen.

Das Konzept der Postdemokratie bei Colin Crouch[2]

Was aber meint «Postdemokratie»? Die Grundanalyse hierbei ist relativ simpel: Nach Crouch beschreibt der Terminus einen Zustand, in dem auf formalistischer Ebene alle demokratischen Institutionen vorhanden sind, zum Teil sogar erweitert wurden, aber gleichzeitig immer weiter an Bedeutung verlieren. Medien und ExpertInnen würden die öffentliche Debatte kontrollieren und ließen «die Politik» zu einem reinen Spektakel verkommen. In seiner demokratischen Gegenwartsbeschreibung kommt den StaatsbürgerInnen die Rolle passiver, schweigender, ja apathischer Individuen zu, die nur noch auf extern gesetzte Signale reagieren. Reale Politik werde unterdessen nur noch hinter verschlossenen Türen gemacht – und zwar einerseits von gewählten Regierungen  und andererseits von Eliten, die in erster Linie die Interessen einer entgrenzten (neo-liberalen) Wirtschaft vertreten. Der Souverän verkommt zum Zuschauer seines eigenen Spiels. Die Demokratie würde dabei, so Crouch, eine Parabelform annehmen, die ihren Höhepunkt, den sogenannten «demokratischen Augenblick», je nach Land in der Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten zwischen den 30er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe. Für Deutschland macht er diesen Moment in den 60er und frühen 70er Jahren fest.

Das Konzept, dem in der Literatur zu Recht eine gewisse Unschärfe vorgeworfen wird, ist aber gerade wegen dieser, und der damit verbundenen Integrationsfähigkeit von scheinbar diffusen Krisenphänomenen, zum soziologischen Erfolgsmodell geworden. Der Begriff «Postdemokratie» führte somit zur Zuspitzung einer bisweilen undurchsichtigen Debatte, gerade weil er eine qualitative Grenze markiert.

War früher alles besser? – Die Zeitdiagnose «Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus» von Jürgen Habermas[3]

Während die oftmals konstatierte Unschärfe der Begrifflichkeit Crouchs zweifelsohne zu Ihrem Erfolg beigetragen hat, so lässt sich der zweite oft vorgebrachte Vorwurf,  der Verherrlichung der vorherigen Zustände sozialer Demokratien in Westeuropa, weniger schnell entkräften, welcher dem Theorem gleichzeitig ein wenig seinen Innovationscharakter abspricht[4]. An dieser Stelle kommt Habermas ins Spiel, der trotz eines Abstands von mehr als 30 Jahren viele Zustandsbeschreibungen aus der Postdemokratiedebatte von heute vorweggenommen zu haben scheint und die in der deutschen Sozialdemokratie oft verherrlichten Zeiten der 60er und 70er Jahre kritisch einordnet.

So waren die sozialstaatlichen Demokratien der Nachkriegszeit in Westeuropa sicher keine vollendeten sozialen Demokratien.[5] Gleichwohl gelang es durch korporatistisches Wirtschaften ein gewisses Maß an Mitbestimmung auch im wirtschaftlichen Bereich zu etablieren. Diese Konstellation führte dazu, dass viele ZeitgenossInnen glaubten, das Zeitalter der vorher immer immanenten  Wirtschaftskrisen sei überhaupt an ein Ende gekom­men. Genau aber hier setzt 1973 Habermas mit seiner Schrift über die «Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus» an.  Sein Hauptargument war, dass an die Stelle der wirtschaftlichen Krise eine Reihe von Legitimations- und Motivationskrisen treten würden.

Grundlegend für das Gesellschaftsverständnis von Habermas ist die berühmte Trennung von «System» und «Lebenswelt».  Auf Grundlage je unterschiedlicher Verständigungsmechanismen kommt es in der «Lebenswelt» zu einer notwendigen symbolischen Reproduktion der Gesellschaft, während es in den «Systemen» zur materiellen Reproduktion kommt. Allerdings sieht er starke Anzeichen dafür, dass Macht und Geld längst in Bereiche symbolischer Reproduktion eingedrungen sind, in denen sie nur stören können.

Außerdem nimmt Habermas an, dass die Systeme Wirtschaft und Staatsverwaltung weiterhin durch Schwierigkeiten gekennzeichnet sind, die sie dem kapitalistischen Zwang zu Kapitalakkumulation verdanken. Der Kapitalismus tendiert nach wie vor zu Krisen, die allerdings keine systemgefährdenden Ausmaße mehr annehmen müssen. Für die Abfederung der systemimmanenten Krisen sorgt nicht zuletzt der Wohlfahrtsstaat.

Der Spätkapitalismus zeichnet sich, so Habermas, durch einen interventionistischen Staat aus, der eine wachsende Funktionslücke des Marktes zu schließen versucht, die sich aus dem immer weiter fortschreitenden Akkumulationsprozess im Kapitalismus selbst ergebe. Hierin liegt dann auch der orthodox-marxistische Rest des Republikaners Habermas. Innerhalb dieser systemischen Konstellation muss der Zuschnitt formaldemokratischer Einrichtungen und Prozeduren dafür sorgen, dass die Entscheidungen der Administration weitgehend unabhängig von bestimmten Motiven der StaatsbürgerInnen gefällt werden können. Hierbei ist von «staatsbürgerlichem Privatismus» die Rede, bei dem der Bürger zu einem Subjekt wird, das an Wahlen teilnimmt, sich aber weitestgehend aus dem  Politischen zurückzieht und sich ansonsten auf das Privatleben konzentriert. Und so schrumpft der Legitimationsbedarf einer strukturell entpolitisierten Öffentlichkeit zwar, bleibt aber nach wie vor funktional- Dennoch besteht immer die Gefahr einer «Legitimationskrise», etwa wenn der motivatorische Input, die politische Passivität zu rechtfertigen, nicht mehr gegeben ist.

Fazit

Zusammenfassend zeigt sich, dass Habermas von einer systematischen Beschreibung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse ausgeht und diese zeitdiagnostisch um die Kategorie der «Legitimationskrise» erweitert. Insofern ist seine Krisendarstellung umfassender und abstrakter als bei Crouch, im Kern jedoch sehr ähnlich. Dieser versucht in viel stärkerem Maße, die konkreten Erscheinungsformen vom Wandel der Demokratie zu beschreiben und in einen kausalen Erklärungszusammenhang zu stellen.

Nach einem Ausweg aus der jeweils diagnostizierten Lage gefragt, bieten die Autoren  verschiedene «Lösungsmöglichkeiten» an: Crouch optiert in erster Linie dafür, entweder  durch neue soziale Bewegungen die Demokratie zu revitalisieren oder aber die an die Politik gerichteten Ansprüche nach politsicher Teilhabe über die Kanäle der Lobbyisten an sie heranzutragen, da postdemokratische Politik nun einmal über Lobbys funktionieren würde. Insbesondere in seinem neuesten Buch zeigt er eindeutig, dass er sich an jene richtet, die in dieser Welt klarkommen müssen, nicht aber an jene, die sie von Grund auf verändern wollen.[6] Habermas wiederum argumentiert systemisch. Auch wenn er eine die kapitalistischen Strukturen überwindende Systemkrise für unwahrscheinlich hält und sich damit tendenziell vom traditionellen teleologischen marxistischen Weltbild distanziert, werden weitere Alternativen nur angedeutet. Hier gilt es aber vor allem sein «Negativ-Szenario» zu betrachten, in welchem sich der Staat aus seinen Legitimationszwängen befreit, indem er zunehmend autoritär handelt, also ohne Widerstände der Betroffenen zu berücksichtigen und so eine auch heute oft debattierte autoritäre Wende einleitet.

So greifen die vorgeschlagenen Ansätze auf gänzlich verschiedenen Ebenen, betrachten aber im Kern gesellschaftliche Krisen vor dem Hintergrund ökonomischer Gegebenheiten. Während Habermas sehr stark auf einer systemtheoretischen Ebene argumentiert, so scheint Crouch hingegen die Verhältnisse einer postdemokratischen, repräsentativen Demokratie grundsätzlich anzuerkennen und innerhalb der von ihr vorgegeben Grenzen Wandel erreichen zu wollen,  sich dabei aber der «neuen Kommunikationsformen» der Politik bedienen zu wollen, um den Interessen der Mehrheit Geltung zu verschaffen.

Folglich muss die Sozialdemokratie ein Zukunftsszenario entwerfen, indem Demokratie auch wirklich als allumfassend demokratisch verstanden wird.  Es geht um ein Narrativ, das den Verhältnissen entgegenzusetzen ist.  Sozialdemokratie muss in diesem Kontext also mehr sein, als lediglich die Etab­lierung einer Sozialpolitik, die ökonomische Marktprozesse reguliert und abfedert. Im eigentlichen Wortsinn muss der Begriff vielmehr für eine gesamtgesellschaftliche Demokratisierung stehen. Die Blaupause hierfür kann etwa Wolfgang Abendroth mit seiner Definition liefern. Für ihn ist soziale Demokratie «die allseitige Verwirklichung dieses Gedankens der Demokratie, der aus einem System politischer Spielregeln zum inhaltlichen Prinzip der gesamten Gesellschaft […] wird.»[7]  Es geht also nicht nur um die Demokratisierung der politischen Strukturen und Institutionen, sondern um die Demokratisierung der zentralen Organisationen der Produktion und wirtschaftlichen Macht. Nur so lassen sich die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich in den post-demokratischen Symptomen äußern, nachhaltig überwinden. Wir müssen daher Demokratisierung als etwas begreifen, dass sich nicht auf politischen Institutionen begrenzt, sondern alle Organisationen und Institutionen der Gesellschaft ergreifen muss.

[1]  Streek, Wolfgang. Merkel – ein Rückblick. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. November 2017. Online abrufbar, unter: http://plus.faz.net/feuilleton/2017-11-16/d5637e1d071d2d6c6afa36c6091d3fcc/?GEPC=s3.

[2] Der Abschnitt bezieht sich auf: Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.

[3] Der Abschnitt bezieht sich auf: Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973.

[4] Die offenbaren gesellschaftlichen Defizite der damaligen Zeit, die dank der unverzichtbaren Emanzipationsbewegungen heute sicherlich abgeschwächt sind, können ob des Umfangs des Artikels nicht reflektiert werden. Aber auch hieran offenbart sich, warum der einfache «der Weg zurück» wenig erstrebenswert erscheint.

[5] Ausgehend von einem von Wolfgang Abendroth entworfenen Begriff der sozialen Demokratie, welcher in der normativen Debatte um die ideelle Typisierung des Gesellschaftssystems der BRD gerade den SozialdemokratInnen als Referenzpunkt dient(e). Vgl. hierzu:  Abendroth, Wolfgang. Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie: Aufsätze zur politschen Soziologie. Vol. 47. H. Luchterhand, 1967.

[6] Vgl. hierzu: Crouch, Colin: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin: Suhrkamp, 2015.

[7] Abendroth, Wolfgang. Demokratie als Institution und Aufgabe. In: Gesammelte Schriften Bd 2, S. 407-416. Hannover: Offizin, 2008.

 

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