Carsten Schwäbe: Nach der Bundestagswahl 2017 – Die SPD und den Demokratischen Sozialismus kann es ohne Streit nicht geben

Erneuerung der SPD=mehr Agonalität? Carsten Schwäbe plädiert in der Ausgabe 2/17 für eine sozialdemokratische Erneuerung, die auf dem Leitbild des demokratischen Sozialismus basiert und bemängelt das Fehlen agonistischer Konfrontation in Programmatik und Stil der SPD.

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Direkt nach der Bundestagswahl 2017 nahm Martin Schulz die Oppositionsrolle für die SPD offensiv an und schloss eine Großen Koalition aus. Die SPD soll als «Bollwerk der Demokratie» die parlamentarische Debatte als starke Opposition wiederbeleben. Erste Vorstöße lieferte die SPD-Bundestagsfraktion bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages: Vier mal im Jahr solle die Bundeskanzlerin durch das Parlament direkt befragt werden – im Stile des britischen Unterhauses, das bekannt für einen konfrontativen Debattenstil ist. Aber reicht ein konfrontativerer Debattenstil aus, um eine demokratische Streitkultur im Sinne des Demokratischen Sozialismus aufzubauen?

«Demokratie als Aufhebung der Klassenherrschaft»

Hierzu bedarf es zunächst einer Definition von Demokratie. Im Kontrast zum begriffsbezogenen Verständnis der «Volksherrschaft» schlug Eduard Bernstein vor, Demokratie auch negativ – im Sinne der Abgrenzung von etwas – als «Abwesenheit von Klassenherrschaft» bzw. als Gesellschaftszustand zu definieren, in dem «keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber einer anderen zusteht» (Bernstein 1899: 151).

Dieses Demokratieverständnis erklärt die Unterdrückung der Mehrheit durch die Minderheit für undemokratisch und setzt der «Herrschaft der Mehrheit» eine Grenze im Recht auf Gleichberechtigung für alle Angehörigen des Gemeinwesens. Gleichberechtigung in diesem Sinne bedeutet gleiche und freie Teilhabe durch die Garantie negativer Freiheitsrechte als Abwehr von Eingriffen anderer (auch des Staates) und positiver Freiheitsrechte der Befähigung des Individuums zur gleichberechtigten Teilhabe an der durch die Gesellschaft geschaffene Freiheit. In einer Demokratie dieser Prägung wird eine Mehrheit keine Gesetze gegen die Freiheitsrechte der Minderheit durchsetzen, da die Mehrheit von heute schon morgen in der Minderheit sein kann (Bernstein 1899: 151-158).

Mit dem Prinzip «one man – one vote» überwindet Demokratie zwar die Klassenherrschaft, es findet aber keine faktische Aufhebung der Klassen im Sinne des Demokratischen Sozialismus statt. Dabei soll aus Sicht von Bernstein die Sozialdemokratie nicht die Gesellschaft proletarisieren, sondern jeden Menschen auf die gleiche soziale Stellung erheben, um die kapitalistische durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung abzulösen. Dabei ist Demokratie «Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus.» (Bernstein 1899: 154)

Antagonistische Dimension von Politik auch im Demokratischen Sozialismus

Wenn der Demokratische Sozialismus laut Bernstein eine Form braucht, in der sich weiterhin viele unterschiedliche Identitäten und damit auch Interessen mit gleichen politischen Rechten versammeln, wird auch im Demokratischen Sozialismus weiterhin gestritten werden –  über die Höchstarbeitszeit, die Wohlstandsverteilung oder wie gesellschaftlicher Wandel (Digitalisierung!) gestaltet werden soll. Für Chantal Mouffe liegt darin der Wesenskern des Politischen – ein vollständiger Konsens ist nicht möglich, denn in ihrer antagonistischen Dimension findet Politik im Streit sich widersprechender Interessen und Ideologien statt.

Ihr Demokratieverständnis fußt auf dem Einhegen des Pluralismus der Interessen und Ideologien in eine Konfliktform, die nicht antagonistisch eigene Vorstellungen durch das Auslöschen anderer Ideen – die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit – umsetzt. Politik sollte vielmehr in einer agonistischen Konfrontation stattfinden. Agonismus bedeutet, dass gesellschaftliche Widersprüche nicht überdeckt werden, sondern dass man ihnen Raum und Stimme gibt. Dazu zählen auch die existierenden Klassengegensätze, die nicht überdeckt, sondern offengelegt werden müssen.

Auch nach verlorener Wahl muss die Minderheit ihre Meinung nicht ändern, denn die Interessengegensätze zwischen unterschiedlichen Gruppen bleiben auch nach Wahlen erhalten. Stattdessen muss die Minderheit weiterhin ihre Gruppeninteressen verfolgen – ob in Opposition zur Regierung im Parlament oder im gesellschaftlichen Diskurs. «Eine gut funktionierende Demokratie braucht den Zusammenstoß legitimer demokratischer Positionen – genau darum muß es bei der Konfrontation zwischen rechts und links gehen. Diese sollten kollektive Formen der Identifikation ermöglichen, die stark genug sind, politische Leidenschaften zu mobilisieren.» (Mouffe 2007: 42)

Konsens sollte lediglich über fundamentale Rechte jedes Individuums und demokratische Regeln herrschen, die die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit verhindern, aber Konfrontation von Interessen und Ideologien ermöglichen. Jenseits des Konsenses haben Parteien die Aufgabe, Ideologien und Interessen Geltung zu verschaffen und Widersprüche zur Realität und zu politischen Gegner*innen aufzuzeigen. Ohne die politische Konfrontation – zum Beispiel durch den unmöglichen Versuch einen Konsens in konfliktbehafteten politischen Fragen zu erreichen – verwischen politische Grenzen. Im Falle sich widersprechender Interessen und Ideologien kann Konsens nur zur Unterrepräsentation von Interessen führen, die einer Mobilisierung hinter legitimen politischen Vorstellungen entgegensteht. Stattdessen «erstarken andere Formen kollektiver Identitäten, etwa im Bereich nationalistischer, religiöser oder ethnischer Identifikationsformen», die eine agonistische Konfrontation verhindern, indem sie antagonistisch das «System» als solches und der «Political Correctness» (oder anders formuliert: dem Grundkonsens agonistischer Konfrontation) ablehnen (Mouffe 2007: 85-100).

Mouffes theoretische Abhandlung beschreibt klar die Herausforderung durch den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa: Wie können Menschen wieder für eine agonistische Konfrontation in der Politik mobilisiert werden und Identitätsformen einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit – ob gegen Flüchtlinge, Muslime oder Gutmenschen – überwunden werden? Wenn die SPD die politische Debatte revitalisieren möchte, dann muss sie sich fragen, ob sie im politischen Stil und in ihrer ideologischen Ausrichtung zu einer postdemokratischen Demobilisierung des demokratischen Diskurses in Deutschland und Europa beigetragen hat.

Agonistische Konfrontation fehlte in politischem Stil und Programmatik

Trivial ist es Große Koalitionen als Behinderung der agonistischen Konfrontation und Debatte zu sehen. Große Koalitionen sollten daher die Ausnahme bleiben. Rechtfertigten die Umstände des Wahljahres 2013 eine Große Koalition? Durch den Wahlsieg und die beinahe absolute Mehrheit der Union erschien Rot-Rot-Grün zurecht nicht als Alternative. Eine Minderheitsregierung der Union hätte aber durchaus eine Alternative sein können.[1]

In der Großen Koalition propagierte die SPD die «sozialdemokratischen Handschrift des Koalitionsvertrages», obwohl dies angesichts des Übergewichts der Union und der offensichtlichen Diskrepanz zum SPD-Wahlprogramm von 2013 unglaubwürdig erschien und suggerierte, dass die SPD sich damit schon zufriedengab.[2] Zwar ist die Demokratie die «Hochschule des Kompromisses» (Bernstein, 1899: 155), allerdings darf dieser nicht mit der eigenen politischen Ideologie verwechselt werden. Die SPD hätte viel stärker in innerer Opposition zur von ihr getragenen Regierungspolitik deutlich machen müssen, dass SPD pur eigentlich mehr will, als es der Kompromiss der Großen Koalition bedeutet. Das Eingeständnis, der kleinere Partner in der Großen Koalition zu sein, aber den Anspruch zu haben, viel mehr erreichen zu wollen, hätte der SPD die Möglichkeit gegeben, eine agonistische Konfrontation in der öffentlichen Debatte trotz Großer Koalition aufrechtzuerhalten und im Wahlkampf als Alternative zur Union erkennbar zu bleiben.

Dass nun aber mit dem Gang in die Opposition noch keine neue agonistische Konfrontation zwischen links und rechts entsteht, haben die Oppositionsjahre von 2009 bis 2013 gezeigt, in denen die SPD sich weder ideologisch noch strategisch in ihrer Bündnisfähigkeit zum Beispiel mit den Linken weiterentwickelte. Die SPD gewann bisher nicht das nach der Agenda 2010 verlorene Vertrauen zurück. Als Interessenvertretung der unteren Hälfte wirkt sie für viele weiterhin unglaubwürdig. Kein Einzelfall: Nancy Fraser attestiert sozialdemokratischen Parteien seit den 90er Jahren einen progressiven Neoliberalismus, der ideologisch zwar stark die Interessen von Benachteiligten wie Frauen, LGBTIQ oder Flüchtlingen, aber statt Verteilungsgerechtigkeit eine im Kern neoliberale Wirtschaftspolitik vertritt (Fraser 2017).

Nicht ganz zu Unrecht fühlen sich viele einkommensschwache Menschen nicht mehr von den linken Volksparteien vertreten und ebneten aus Protest Donald Trump und anderen rechtspopulistischen Parteien den Weg. Fraser (2017) rät daher sozialdemokratischen Bewegungen, der Unzufriedenheit vieler Menschen mit den bestehenden Verhältnissen durch eine alternative, linke Erzählung Geltung zu verschaffen und diese mit dem Thema Verteilungsgerechtigkeit zu mobilisieren.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit muss dabei auch in Zukunft konsequent bekämpft werden. Aber darüber hinaus brauchen die linken Volksparteien eine alternative Erzählung jenseits zur neoliberalen Globalisierung, die über durch die Sachzwanglogik der Alternativlosigkeit jede Forderung nach einer besseren Verteilung des Wohlstands in der Welt und in den Gesellschaften unterminierte. Für die SPD bedeutet das, dass sie die eigenen Regierungsjahre gerade in der Steuer- und der Sozialpolitik kritischer betrachten muss, um darauf aufbauend eine glaubwürdige Alternative auch auf diesen Politikfeldern darzustellen.

«Verweigert die unmögliche Wahl zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionären Populismus.» (Fraser 2017: 75)

Klare Kante gegen die AfD zu zeigen ist in der Politik und auf der Straße zum Identitätssymbol des Konsenses geworden. Für eine Wiederbelebung des demokratischen Diskurses bedarf es jedoch mehr als die Mobilisierung gegen Rechtspopulismus. Es braucht die konfrontative Auseinandersetzung zwischen den etablierten Parteien, zwischen links und rechts, zwischen liberalen und konservativen, um durch die sichtbare Vertretung aller legitimen Interessen die Politikverdrossene wieder zu von Politik zu begeistern. Konfrontativere Debattenformate im Parlament helfen dabei allerdings nur, wenn die Konfrontation auch eine klare inhaltliche Grundlage besitzt.

Um Bollwerk der Demokratie zu sein, muss die SPD daher den Anspruch haben, mehr als nur gegen Rechts zu sein. Der Demokratische Sozialismus als Gesellschaft der Freien und Gleichen kann als Leitbild der Erneuerung dienen, um wieder eine glaubwürdige Interessenvertretung der sozial Benachteiligten und die Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu sein.

Literatur

Bernstein, Eduard (1899 [1984]): Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie

Fraser, Nancy (2017): Für eine neue Linke oder. Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, 71-76.

Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt: Suhrkamp.

[1] Überhaupt ist zu diskutieren, ob Minderheitsregierungen in einer zunehmend zersplitterten Parteienlandschaft eine Alternative jenseits Großer Koalitionen und lagerübergreifender Bündnisse wie der Ampel oder Jamaika darstellen.

[2] Zwar konnte die SPD den Mindestlohn und die «Rente 63» durchsetzen, allerdings wurde die «Rente 63» nicht wie gefordert aus Steuermitteln, sondern aus den Beiträgen zur Rentenversicherung finanziert. Außerdem seien beispielhaft nur die solidarische Bürgerversicherung und die Steuerpolitik als Beispiele für die vielen Projekte benannt, die die Union in der Koalition blockierte.

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