Mia Thiel: Es ist Zeit für Grundsätzlichkeit – Zum Verhältnis von Sozialismus und Feminismus innerhalb des Erneuerungsprozesses der Sozialdemokratie

Überwindung der bestehenden Verhätnisse = Zusammenspiel von Sozialismus und Feminismus? Mia Thiel fragt nach dem Verhältnis von Sozialismus und Feminismus und argumentiert, dass die Überwindung der bestehenden Verhältnisse ohne die Miteinbeziehung feministischer Analyse nicht möglich ist. Kapitalistische Gesellschaftsordnung und Patriarchat seien eng miteinander verstrickt.

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Die Sozialdemokratie befindet sich im Umbruch – hoffentlich. Eine Erneuerung ist in aller Munde und sie wäre der SPD nicht nur zuträglich, sondern ist im Lichte der bestehenden Verhältnisse schlichtweg notwendig. Dabei sind es nicht unbedingt in erster Linie der historische Tiefstand in den Wahlergebnissen der SPD und auch nicht unmittelbar der Einzug der AfD in den aktuellen Bundestag, die eine Rückkehr zur Grundsätzlichkeit in der Debatte erforderlich machen (auch wenn beide Herausforderungen ihrer jeweiligen Symptomatik Zeug*innen sind), es ist vielmehr die politische Diskussion als Ganze. Nicht zuletzt die gescheiterten Koalitionsverhandlungen und die in Aussicht stehenden Neuwahlen treffen ihre ganz eigene Aussage über den Zustand des politischen Diskurses:  Er schlingert und mit ihm die Lebendigkeit der Demokratie.

Eine sich neu ordnende SPD muss die bestehenden Verhältnisse grundsätzlich in Frage stellen, auf ihr theoretisches Fundament zurückblicken und analysieren, wie eine Gesellschaft der Freien und Gleichen auszusehen hat. Ich möchte dabei auf eine Dimension hinweisen, die sowohl die sozialistische Theorie als auch die sozialdemokratische Praxis der letzten Jahrzehnte zumindest nicht in ihrer Grundsätzlichkeit angemessen gefasst hat: Die Frage des Patriarchats.[1] Wer Gesellschaft neu ordnen möchte – und diesen Mut möchte ich der Sozialdemokratie nahelegen – muss verstehen, wie die jetzige funktioniert, welche Konflikte gesellschaftlich verknüpft sind, sich zwar nicht zwangsläufig bedingen, aber in Wechselwirkung miteinander stehen. Wer Sozialismus ohne Feminismus diskutiert, wird die bestehenden Verhältnisse in keiner Weise überwinden können.

Feminismus im Verhältnis zu sozialistischer Theorie in der Realität des Kapitalismus – eine Standortbestimmung

Feminismus und Sozialistische Theorie stehen gewissermaßen schon immer in einem – zugegeben ambivalenten – Verhältnis zueinander. Lange Zeit überhaupt nicht behandelt und im Anschluss häufig als Nebenwiderspruch abgetan, wurde der gesellschaftliche Mechanismus «Patriarchat» in der Regel als Nebensächlichkeit qualifiziert, wie bei Karl Marx und auch den sozialistischen Frauen, allen voran Clara Zetkin und Luise Zietz, erkennbar[2]. Dass geschlechtsbedingte gesellschaftliche Hierarchien nicht nur Auswuchs des Kapitalismus oder bei August Bebel «der sozialen Frage» sind, wurde auch zur Zeit der frühen sozialistischen Theoretiker*innen immer wieder angebracht – wenn auch überwiegend außerhalb des sich als sozialistisch begreifenden Spektrums.

Wie es um die Sache mit dem Patriarchat steht, ist bis heute Streitpunkt unter Marxist*innen. Der Marxismus konnte keine Antwort darauf geben. War er doch selbst eine von Männern geschriebene und bis heute von überwiegend männlichen Theoretikern geprägte Ausrichtung – außerstande sich selbst in diesem Missstand zu erfassen. Dabei stünde es dem Marxismus und seiner analytischen Methodik gut, sich dem Patriarchat als eigenständigen Wirkmechanismus zuzuwenden und die Wechselwirkungen mit der Ökonomik genauer zu untersuchen. Freilich haben Feministinnen, wie Kate Millett, Catharine MacKinnon und ganz aktuell Laurie Penny Marxismus und Feminismus gegenübergestellt, die Kontinuität geschlechtsspezifischer Abhängigkeits- und Unterdrückungsmuster herausgestellt und – insbesondere Penny – die Spezifika des Patriarchats in der kapitalistisch geordneten Gesellschaft herausgestellt. Von einer konsensualen Übernahme in die sozialistische Theorie kann dennoch keine Rede sein. Feministische Theorie bezieht zwar, abhängig von Diskurs und Strömung, mittlerweile fast standardmäßig die Analyse der kapitalistisch-ökonomischen Verhältnisse ein, umgekehrt ist das aber nicht der Fall.

Dabei hat sich das Patriarchat nicht nur an die kapitalistische Produktionsweise angepasst, der Kapitalismus speist sich auch zu großen Teilen aus den Anpassungsmechanismen. Penny ist mit ihrer Theorie des patriarchalen Kapitalismus Recht zu geben, mit der sie vor allem die Ambivalenz aus unterdrückter, entfremdeter Sexualität und übermäßiger Sexualisierung von Frauen*, die unbezahlte und Heimarbeit, sowie die Vermarktung von ‚Weiblichkeit’ ins Feld führt. «Die neoliberale Ablehnung des weiblichen Körpers ist ein fundamentaler Bestandteil der Arbeits- und Kapitalstrukturen, die weltweit Produktion ermöglichen.» schreibt sie in «Fleischmarkt». Tatsächlich ist kaum vorstellbar, dass der Kapitalismus mit einer so lebenserhaltenden Quelle, wie der unbezahlten Arbeit der Gruppe, die gleichzeitig auch die größte Konsumkraft im kapitalistischen Markt entfaltet, überwunden werden könnte. Umgekehrt ist auch die endgültige Befreiung der Frau*, ihre Subjektwerdung in Emanzipation, schwer vorstellbar, solange sie infolge kapitalistischer Strategie ihres eigenen Körperbewusstseins systematisch entfremdet wird und das Streben nach sexualisiertem Kapital nicht nur Überlebensstrategie, sondern auch Ausdruck des tiefen Wunsches nach gesellschaftlich bestätigter Selbstzufriedenheit ist. Die Frage nach dem Patriarchat wird durch die getätigte Analyse keinesfalls zum Nebenkriegsschauplatz – Im Gegenteil: Die warenproduzierende Gesellschaft und das Patriarchat produzieren sowohl für sich, als auch in Wechselwirkung miteinander Widersprüche. Das Patriarchat hat sich mit der Überwindung des Kapitalismus sicher nicht zwangsläufig erledigt – zeigen Wirkweise, Verwurzelung und historische Kontinuität doch das Gegenteil. Geschlechterspezifische Abhängigkeits- und Ausbeutungsmuster erfahren durch die kapitalistische Logik allerdings Verwinkelungen.

Das kapitalistische System hat seine Anpassungsfähigkeit über zahlreiche Krisen und gesellschaftliche Modernisierungsphasen gezeigt. Die Kämpfe der Frauen*, die stets eine unabhängige Berechtigung für sich beanspruchen können, waren – trotz ihrer hoch zu schätzenden Erfolge – nicht in der Lage den allgegenwärtigen neoliberalen Konformismus zu durchbrechen, sondern haben ihm in Teilen sogar neue Handlungsfelder eröffnet. Ein Beispiel für diesen Umstand zeigt sich in der ‚sexuellen Revolution’ der Frauenbewegung der 1970er, in dessen Zentrum das Recht auf sexuelle Lust und Selbstbestimmung standen[3]. Die Verdienste der 1970er-Frauenbewegung hinsichtlich der weiblichen Emanzipation zu selbstbestimmten, aktiven sexuellen Subjekten sollen an dieser Stelle unbestritten sein. Und dennoch haben sich aus ihr neue Disziplinierungs- und Vermarktungsmechanismen ergeben. Das sexuelle Leistungsprinzip erfordert es jetzt für Frauen nicht nur, den heterosexuellen Counterpart möglichst effektiv zu beglücken, sondern dabei auch selbst nach Möglichkeit den krassesten Orgasmus zu erleben oder wenigstens vorzutäuschen. Begrenzt wird diese Befreiung durch eine systematische Frigidität[4]. Durch den Gegensatz hat sich ein idealer Nährboden der ursprünglichen Akkumulation für sexuelles Kapital im Patriarchat gebildet: Die weibliche Sexualität und das weibliche Körperbewusstsein sind nämlich nach wie vor gesellschaftlich schambehaftet und doch weit genug anerkannt, um Werbe- und Konsumfläche des kapitalistischen Marktes zu sein.

Ein anderes Beispiel für die Verstrickung und Wechselwirkung zwischen feministischen Diskursen und kapitalistischer Gesellschaftsordnung bildet eine Diskussion der aktuelleren feministischen Theorie: Die Identitätenpolitik. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität in den bestehenden Verhältnissen und eine neue Fokussierung auf den Stellenwert individueller Diskriminierungserfahrung hat den feministischen Diskurs in eine notwendige Spannung getrieben. Die Differenzierung zwischen individuellen Diskriminierungserfahrungen war als Anstoß auch notwendig. In den jüngsten Diskursen läuft dieser Anstoß aber Gefahr sich von seiner ursprünglichen Intention weg und hin zur den theoretischen Diskurs überlagernden reinen Sprachpolitik zu entwickeln. Die Einordnung in sozio-ökonomische Zusammenhänge, wie es beispielsweise Koschka Linkerhand[5] wagt, entlarvt den neoliberalen Reflex: Wo die krampfhafte Zuordnung zu einer bestimmten, mehr oder weniger diskursiv herausgebildeten Gruppe die Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen Diskriminierung stattfindet, überlagert, stellt sich die Frage, woher die redundante Kritik an binären Kategorien (durch die Neuzuteilung in andere Kategorien) rührt. Im Einklang mit Linkerhand und Roswitha Scholz’ Adorno-Interpretation in ihrem Vortrag[6] «Das Abstraktionsverbot im Feminismus» vom 01. Juni 2016 an der TU Darmstadt scheint es hierbei nämlich schon lange nicht mehr um (die berechtigte) Kritik an der biologistischen Grundlage von Geschlechtskategorien zu gehen, sondern bedient vielmehr das Bedürfnis der individuellen Abgrenzung von der gesellschaftlichen Masse. Denn die bestehenden Verhältnisse – angelegt auf eine gleichlaufende Stromlinienförmigkeit, in der individuelle Interessen, Begabung und Perspektive nur dann Raum finden, wenn ihnen ein substantieller Marktvorteil abzugewinnen ist – sind für den*die nach freier Entfaltung strebende*n Einzelne*n kaum zu ertragen. Das Bedürfnis nach dem nach Linkerhand «ganz persönlichen Identity-Ticket» bedient den Wunsch auszubrechen und ist letztendlich doch zur reinen Illusion verdammt – sind im Streben nach Abgrenzung doch wieder alle im konformistischen Mainstream vereint. Der Hang zur nahezu aggressiven Ausdifferenzierung und Verteidigung sprachpolitisch geformter Gruppen kann so als Teil der Selbstoptimierung betrachtet werden, zu welcher der Spätkapitalismus in seiner spezifischen Ausgestaltung antreibt.

Was für die sozialistische Theorie und die Sozialdemokratie folgt

Wichtig ist: Sowohl die sexuelle Revolution der 1970er, als auch die Identitätenpolitik haben Erfolge für die jeweiligen Zielgruppen erstreiten können[7]. Es ist auch nicht die Aufgabe der Frauen* Patriarchat und Kapitalismus aus eigener Kraft zu überwinden. Die Beispiele zeigen die Verstrickung von Patriarchat und kapitalistischer Gesellschaftsordnung dennoch bestechend deutlich auf und mit ihr die Notwendigkeit der sozialistischen Theorie sich neu aufzustellen. Die Sozialdemokratie muss in ihrer Neuaufstellung die gleiche Richtung einschlagen: Gesellschaft ist von Grund auf neu zu denken. Weder der Kapitalismus, noch das Patriarchat allein beschreiben die Zustände für sich. Sie stehen in Wechselwirkung, bedingen einander zwar nicht zwangsläufig, aber sind in jedem Fall gemeinsam zu diskutieren.

Literatur

[1] Auf den Begriff ‘Frauenfrage’, wie er in der sozialistischen Theorie häufig verwendet wurde, wird hier bewusst verzichtet. Er ist nicht mehr zeitgemäß. So geht es nicht um die lästige Gruppe der Frauen*, die mit einer Antwort bedient werden müssen, sondern um gesellschaftliche Wirkmechanismen und deren Zusammenhänge.

[2] Auf dem Blog Störenfriedas weist Mira Sigel zurecht darauf hin, dass sich die Frauen in der frühen sozialistischen Bewegung vor allem als Genossinnen beweisen mussten und daher die Fassung der Subjektbildung als Frau ggf. zunächst hintenanstehen musste. Vgl. hierzu Sigel, Mira: Feminismus und Marxismus – ein ungewöhnlicher Gegesatz, URL: https://diestoerenfriedas.de/feminismus-und-marxismus-ein-unversoehnlicher-gegensatz/, Stand: 3.12.2017. Die Verdienste Zetkins, Zietz und anderer sind darum nicht geschmälert – haben sie die Frau doch erst ins Bewusstsein des sozialistischen Diskurses gerückt. Insbesondere Clara Zetkin schaffte mit ihrer Arbeit ganz wesentliche Grundlagen für den weiteren feministischen Diskurs in der sozialistischen Bewegung, wenngleich auch sie im Haupt- und Nebenwiderspruchsdenken verhaften blieb.

[3] Weiter ausgeführt von Andrea Trumann in: Trumann, Andrea: Feministische Theorie – Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2002.

[4] Im Sinne von Laurie Pennys Frigiditäts-Begriff in: Penny, Laurie: Fleischmarkt. Hamburg: Verlag Nautilus Flugschrift, 2015.

[5] Vgl. hiezu: Linkerhand, Koschka: Treffpunkt im Unendlichen – Das Problem mit der Identität. In: Patsy l’Amour laLove [Hrsg.]: Beissreflexe. Berlin: Querverlag, 2017.

[6] Vgl. hierzu: Asta der TU Darmstadt: Emanzipation und Identität -Über das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus in der spätbürgerlichen Gesellschaft. URL: https://www.asta.tu-darmstadt.de/asta/de/node/2700, Stand 03.12.2017.

[7] Wenn auch letztere trotz berechtigter Anliegen ihren emanzipatorischen Ansatz zu verlieren droht.

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