Das Kanzlerduell vom 9. Februar 2025 ist im Kopf geblieben und hat deutlich gemacht: In der politischen Auseinandersetzung um Migration scheint sich die Logik durchgesetzt zu haben, dass Abschiebezahlen und Härte gegenüber Geflüchteten als Beweis politischer Handlungsfähigkeit gelten. Sowohl Merz als auch Scholz warfen mit Zahlen um sich – zu Rückführungen, Abschiebehaft, irregulärer Migration – und vermittelten dabei vor allem eines: Hohe Zahlen bei Abschiebungen und niedrige bei Migration, das sei gute Politik. So erschreckend das Duell auch war, überraschte es kaum angesichts der Verschiebung nach rechts, die sich nun schon seit geraumer Zeit abzeichnet, nicht nur bei der AfD und CDU, sondern eben auch bei Parteien des linken Spektrums, allen voran der SPD.
Die Rechtsverschiebung der SPD ist das Ergebnis einer seit Jahrzehnten fehlgeleiteten Analyse. Seit den 2000er-Jahren verzeichnet die Partei stetig sinkende Zustimmungsraten – ein Abwärtstrend, der mit der Agenda 2010 begann, sich in den Jahren der Großen Koalition fortsetzte und bis heute anhält. Parallel dazu gewinnt die AfD seit einigen Jahren deutlich an Stimmen. Statt die Ursachen dieses Vertrauensverlustes in den Kompetenzfeldern der eigenen Politik zu suchen, setzte sich zunehmend die Interpretation durch, die SPD habe vor allem Wähler*innen an die AfD verloren, weil sie insbesondere bei migrationspolitischen Themen nicht hart genug durchgreife. Daher die Schlussfolgerung: Wähler*innen könnten zurückgewonnen werden, wenn die SPD einen restriktiveren Migrationskurs einschlagen würde. Ein solcher Kurswechsel, so die Hoffnung, könnte nicht nur die SPD stärken, sondern zugleich die AfD schwächen. Diese Annahme geht auf eine vielzitierte Studie von Meguid aus dem Jahr 2005 zurück. 1
Doch der Bundestagswahlkampf 2025 zeigte, dass diese Strategie nicht aufzugehen scheint. Trotz deutlicher Rechtsverschiebungen bei der SPD und anderen Parteien konnte die AfD ihr stärkstes Ergebnis einfahren, während die SPD ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 erzielte. Das überrascht wenig, wenn man die Ergebnisse der neueren wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema betrachtet. Diese zeigen nämlich, dass eine Annäherung an rechte Positionen nicht nur wirkungslos bleibt, sondern der AfD sogar eher in die Karten spielt.
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Doch warum ist das so und wie zeigt sich das konkret bei der Bundestagswahl 2025? Im Folgenden werden zwei zentrale Aspekte näher erläutert, die erste Erklärungsansätze liefern könnten: Zum einen die fehlgeleitete Analyse der Wähler*innenmotive und zum anderen die Normalisierung rechter Migrationspositionen.
Warum der Rechtsruck der SPD die Wählerinnen nicht zurückbringt: Eine falsche Analyse
Immer wieder wird behauptet, dass die SPD hauptsächlich an die AfD verliert, weil sie nicht konsequent genug bei Migrationsthemen ist. Doch die SPD ist nicht die einzige Partei, die bei dieser Bundestagswahl viele Stimmen an die AfD verloren hat. Ja, mit 720.000 Personen hat die SPD enorm viele Stimmen an die AfD verloren, aber um diese Zahl besser einzuordnen, lohnt es sich darauf zu schauen, von wem die AfD generell ihre Stimmen erhielt. Sie konnte 1,8 Mio. von den Nichtwählerinnen, rund 1 Mio. von der CDU/CSU und sogar 890.000 Stimmen von der FDP mobilisieren.3 Erst an vierter Stelle folgte die SPD. Daraus lässt sich schließen: Die SPD hat viele Wähler*innen an die AfD verloren, doch der weitaus größere Erfolg der AfD liegt in ihrer Fähigkeit, Nichtwählerinnen und konservative Wähler*innen für sich zu gewinnen. Zusammengenommen verloren diese beiden Gruppen mehr als fünfmal so viele Wählerstimmen an die AfD wie die SPD allein.
Bleiben wir bei der Frage, wer die AfD gewählt hat: Mit 38% hat ein Großteil der Arbeiterinnen bei der letzten Bundestagswahl für die AfD gestimmt. In der Gunst der Arbeiterinnen fiel die SPD von einst 26% auf schwache 12%.4 Die SPD sollte sich also zurecht fragen, wie sie es schaffen konnte, in ihrer einstigen Kernwählerinnenschaft so stark an Boden zu verlieren. Die Annahme, dass rechte Migrationspositionen diese Wählerinnen zurückholen könnten, ist jedoch gefährlich. Ein zentraler Grund, warum viele Arbeiterinnen zur AfD wechseln, ist die Angst vor sozialem Abstieg. Diese Angst resultiert aus einer lang etablierten Erzählung, wonach Migrantinnen angeblich die Arbeitsplätze der lokalen Bevölkerung bedrohen. Dieses Narrativ hat nicht nur ein Feindbild von Migrantinnen geschaffen, sondern auch die Konfliktlinie von sozialen Fragen von einst Oben-Unten nach Innen-Außen verschoben.5
Und zuletzt zeigt auch ein Blick auf die Wahlgründe, wie irreführend die Idee ist, dass mit rechter Migrationspolitik Wähler*innen überzeugt werden können. Bei den SPD-Wähler*innen waren die beiden wahlentscheidendsten Themen soziale Sicherheit mit 38% und Friedenssicherung mit 22% Zustimmung. Auf Platz drei kam mit nur 13% innere Sicherheit und weit abgeschlagen, mit 5%, Migration. Zum Vergleich: Für 38 % der AfD-Wähler*innen und 18% der CDU/CSU-Wähler*innen war Migration das wichtigste Thema.6 Die Interessen der SPD-Wähler*innen liegen also nicht vornehmlich in härterer Migrationspolitik, sondern vor allem bei dem Kernthema der SPD: Soziale Gerechtigkeit. Die Forschung zeigt sogar, dass restriktive Migrationspositionen eher sozialdemokratische Wähler*innen abschrecken, als sie zu überzeugen.7
Weitere spannende Schlüsse ergeben sich aus einem Blick auf die Wahlgründe für die Linke, die bei der Bundestagswahl 2025 ihren Stimmenanteil deutlich erhöhen konnte. Hier zeigt sich, dass 41% der Gesamtwähler*innenschaft und sogar 95% der Linken-Wähler*innen der Aussage zustimmten, die Linke sei eine gute Alternative für all jene, die sich bei der SPD oder den Grünen nicht mehr vertreten fühlen.8 Viele dieser Menschen wären also grundsätzlich offen für sozialdemokratische Angebote gewesen – wenn diese glaubwürdiger im Fokus des politischen Programms der SPD gewesen wären. Ein Grund für die Abkehr könnte der Rechtsruck in der Migrationspolitik der SPD und der Grünen sein. Die Linke hat hingegen konsequent eine humane Migrationspolitik vertreten und gleichzeitig die soziale Frage nicht aus den Augen verloren. Besonders bemerkenswert ist, dass 79% der Linken-Wähler*innen angaben, das Parteiprogramm sei ausschlaggebend für ihre Wahl gewesen, während lediglich 9% sich aufgrund einer engen Parteibindung für die Linke entschieden haben.9 Auch daraus lässt sich ableiten, dass mit linker Politik – entgegen der Aussage Lars Klingbeils während des Landesparteitags der NRW-SPD am 10.Mai 2025 –Wählerinnen zurückgewonnen werden können.
Zusammengefasst machen die Zahlen aus dieser Bundestagswahl eines deutlich: Ein reiner Fokus auf Migration greift zu kurz, wenn man verstehen will, warum sich Wähler*innen von der SPD abgewendet haben. Wer die Menschen zurückgewinnen will, muss an den tatsächlichen Sorgen ansetzen – und die liegen vor allem im Bereich sozialer Sicherheit, nicht in Symbolpolitik oder Abschiebezahlen. Abgesehen davon, dass eine Rechtsverschiebung in der Migrationspolitik den Grundwerten der Sozialdemokratie massiv widerspricht, birgt diese Strategie auch eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie: Die schleichende Normalisierung rechter Positionen.
Die Gefahr der Normalisierung rechter Migrationspositionen
Es gilt als gut belegt, dass Parteien und Politiker*innen maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie Menschen politische Themen wahrnehmen und bewerten. Besonders in komplexen Politikfeldern greift dabei das sogenannte Cue-Taking: Menschen orientieren sich an den Signalen, die ihnen vertraute politische Akteur*innen senden. Dabei zählt nicht nur, was gesagt wird – sondern auch wer es sagt.10
Besonders deutlich wird diese Dynamik in einem Experiment, das den Einfluss politischer Aussagen auf migrationsbezogene Einstellungen untersucht hat.11 Den Teilnehmer*innen wurden reale und erfundene Zitate präsentiert, teils mit offen fremdenfeindlichem Inhalt, die jeweils der CDU oder der AfD zugeordnet waren. Zuvor wurden die Grundhaltungen der Befragten zur Migrationspolitik erfasst. Das überraschende Ergebnis: Nicht die Aussagen der AfD führten zu einer signifikanten Verschiebung nach rechts, sondern jene, die der CDU zugeordnet wurden. Warum ist das so? Die Antwort liegt in der Rolle sozialer Normen. Soziale Normen prägen das Verhalten von uns allen – ob in alltäglichen Situationen wie beim Anstellen in einer Warteschlange oder in politischen Diskursen. Zwar ist es rechtlich nicht verboten, sich vorzudrängeln, doch wir tun es in der Regel nicht, weil wir soziale Ächtung fürchten. Ähnlich verhielt es sich lange Zeit mit offen rechtsradikalen und rassistischen Aussagen – sie galten als gesellschaftlich geächtet, selbst wenn sie nicht verboten waren. Deutschland galt über Jahre hinweg als relativ immun gegenüber der Etablierung einer neuen Rechten, da die soziale Norm, aufgrund des Nationalsozialismus , sehr stark ausgeprägt war. Das bedeutet jedoch nicht, dass solche rechtsradikalen Ansichten seit 1945 nicht existierten, sondern nur, dass sie mehrheitlich nicht offen geäußert wurden. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 begann sich jedoch das Bild der deutschen Immunität zu verändern. Rechte Positionen wurden zunehmend salonfähig, und die AfD gewinnt kontinuierlich an Zustimmung.
Das oben erwähnte Experiment zeigt, warum gerade diese Normalisierung so gefährlich ist. Während die AfD-Aussagen bei einigen zu einem sogenannten Backlash-Effekt führten – also zur starken Ablehnung der genannten Aussagen und Verstärkung liberaler Positionen – blieben solche Gegenreaktionen bei CDU-Aussagen weitgehend aus. Stattdessen wurden sie als legitim empfunden und von vielen sogar verstärkend aufgenommen. Besonders Menschen mit bereits vorhandenen fremdenfeindlichen Einstellungen fühlten sich durch CDU-Zitate bestätigt, ganz nach dem Motto: «Wenn selbst die CDU das sagt, dann kann es ja nicht so schlimm sein.». Diese Dynamik zeigt deutlich, wie gefährlich die Annäherung an rechte Positionen für eine Demokratie sein kann. Sie normalisiert nicht nur die Politik der AfD, sondern stärkt sie auch – denn am Ende setzt sich das Original durch, das diese Positionen seit Jahren konsequent vertritt und dadurch die Themenhoheit erlangt hat.
Die entscheidende Wendung: Warum jetzt eine Rückbesinnung auf sozialdemokratische Werte nötig ist
Die Bundestagswahl 2025 sowie aktuelle Umfragen,12 in denen die AfD erstmals stärkste Kraft ist, offenbaren eine bittere Wahrheit: Die Rechtsverschiebung in der Parteienlandschaft hat die AfD nicht geschwächt – sie hat sie stärker gemacht. Statt Wähler*innen zurückzugewinnen, hat die Anpassung an rechte Migrationspolitik der AfD mehr Räume geöffnet. Jede weitere Normalisierung rechter Positionen verschiebt die Grenzen des Sag- und Machbaren. Jede vermeintliche Anpassung an rechte Stimmungslagen trägt dazu bei, dass die demokratische Mitte weiter erodiert. Gerade die SPD, die auf einen restriktiveren Kurs setzte, musste erleben, dass ihre Verluste damit nicht aufgehalten wurden. Und dennoch setzt die künftige Bundesregierung in ihren Koalitionsentwürfen weiterhin auf Verschärfungen in der Migrationspolitik.
Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt. Gerade jetzt liegt es an der SPD, ein klares, humanes und gerechtes Gegenmodell zur Politik der AfD zu entwickeln. Mehr denn je gilt es, sich schützend vor die Menschen zu stellen, die unter rechter Politik leiden. Mehr denn je müssen soziale Gerechtigkeit und der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder im Mittelpunkt stehen. Und mehr denn je müssen die Antworten auf die heutigen Fragen den sozialdemokratischen Werten entsprechen: Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.
- Meguid, B. M. (2005). Competition Between Unequals: The Role of Mainstream Party Strategy in Niche Party Success. American Political Science Review, 99(3), 347–359. https://doi:10.1017/S0003055405051701.
- Krause, W., Cohen, D., & Abou-Chadi, T. (2023). Does accommodation work? Mainstream party strategies and the success of radical right parties. Political Science Research and Methods, 11(1), 172–179. https://doi:10.1017/psrm.2022.8.
- Tagesschau. (2025, 24. Februar). Grafiken. Bundestagswahl 2025. Wie die Wähler wanderten. Tagesschau. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/analyse-wanderung.shtml.
- Tagesschau. (2025, 24. Februar). Grafiken. Bundestagswahl 2025. Wen wählten Angestellte und Selbstständige? Tagesschau. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-job.shtm.l
- u.A. Deutschlandfunk Nova. (2025, 23. Februar). Bundestagswahl: Ist die AfD die neue Arbeiterpartei? Deutschlandfunk Nova. https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/bundestagswahl-ist-die-afd-die-neue-arbeiterpartei
- Tagesschau. (2025, 24. Februar). Grafiken. Bundestagswahl 2025. Welche Themen entschieden die Wahl? Tagesschau. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtm.l
- Abou-Chadi, T., & Wagner, M. (2020). Electoral fortunes of social democratic parties: do second dimension positions matter? Journal of European Public Policy, 27(2), 246–272. https://doi.org/10.1080/13501763.2019.1701532.
- Tagesschau. (2025, 24. Februar). Grafiken. Bundestagswahl 2025. Wer wählte die Linke – und warum? Tagesschau. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-linke.shtml.
- Ebd..
- Downs, A. (1957). An Economic Theory of Democracy. New York: Harper & Row.
- Valentim, V., Dinas, E., & Ziblatt, D. (2023, June 27). How Mainstream Politicians Erode Norms. https://doi.org/10.31219/osf.io/mjbnf_v1.
- Ipsos (2025, 16 April). Sonntagsfrage – aktuelle Umfrageergebnisse. Ipsos. https://www.ipsos.com/de-de/meinungsumfragen/sonntagsfrage.