Kaleidoskop der Spätfaschistischen Potenziale – Eine Rezension Alberto Toscanos Spätfaschismus

Alberto Toscano: Spätfaschismus. Rassismus, Kapitalismus und autoritäre Krisenpolitik. Übersetzt von Jonathan Rößler. Münster: Unrast 2025, 216 S., 19,80€


Ist das Faschismus? Diese Frage stellt sich momentan häufig, schaut man einmal zu lange auf den Zustand dieser Welt. Die Frage: Was ist Faschismus oder was ist Faschismus heute sind oft die Folgefragen. Handelt es sich dabei um ein bestimmtes Regime und muss so zu anderen Autoritarismen abgegrenzt werden?1 Handelt es sich um einen Postfaschismus2 oder doch eher um einen demokratischen Faschismus?3


In Alberto Toscanos Buch Spätfaschismus werden die Vorteile eines Verständnisses von Faschismus als dynamischen Prozess, der sich «wie andere politischen Phänomene auch, mit seinem sozio-ökonomischen Kontext verändert» (11) deutlich. Damit versucht Toscano die Klassifikationsfrage zu unterlaufen. Seine Pointe ist dabei, den (Spät-)Faschismus als «anti-emanzipatorische Krisenpolitik» (159) zu verstehen. Der Faschismus «[…] wiederholt sich, aber mit Unterschieden, und er durchforstet das ideologische Terrain nach brauchbarem Material.» (ebd.)


Um die Suche nach diesem Material und der Mechanik seiner Aneignung für den Faschismus geht es Toscano. In sieben Kapiteln durchforstet er dafür verschiedene Theorien des Faschismus: Von den Theorien aus der Zwischenkriegszeit bis hin zu denen der 70er Jahre, von Bloch, über Adorno, bis hin zu Batallie und Guatteri ergänzt durch die Adorno-Schülerin Angela Davis und George Jackson.
Als Resultat seiner Suche nennt Toscano vier «Dimensionen der Geschichte und Erfahrung des Faschismus» (160).


Logik präventiver Gegengewalt


In dieser Dimension arbeitet Toscano heraus, wie der Faschismus sich einer Mechanik der Prävention, Krisenbewältigung und der Vorstellung einer Wiedergeburt bedient.


Mit Adorno beschreibt Toscano beispielsweise, wie der Faschismus auf eine Krise der Individualität reagiert hat (27), doch statt sich der Krise zu widmen, diese Individualität über eine «konservativen Politik antagonistischer Reproduktion» (ebd.) versucht hat zu stabilisieren.
Statt sich der Krise des Subjekts und ihrer Gründe bewusst zu werden, wird das Andere, das jüdische, rassifizierte, queere als anderes reproduziert und eliminiert, um die eigene Identität zu stabilisieren.

Die Gruppe, die Masse, die sich unter dem Schirm dieser Identität sammelt, wird von Toscano im Rückgriff auf Sartre als manipulierte Serialität verstanden. Es ist eine Gruppe, in der die Einzelnen nur als Teil der Totalität eine stabile Identität besitzen (28 f.). Als Beispiel nutzt Toscano die weiße Arbeiter*innenklasse (35), die von Faschismus als weiße nationale Identität stabilisiert wird und wogegen Toscano mit Walter Benjamin einwendet, dass es nichts bringt, diese Gruppe wieder zurückzugewinnen, sondern, dass man den Begriff der Arbeiter*innen für den Faschismus unnutzbar machen muss (ebd).


Dies ist auch ein Beispiel, dass diese Serialität, die sich der Faschismus zunutze machen kann, schon in der kapitalistisch modernen Gesellschaft enthalten ist. Dieses Motiv der Potentiale des Faschismus innerhalb der kapitalistisch-liberalen Gesellschaft zieht sich durch das gesamte Buch.


Diese präventive Krisenpolitik sieht Toscano ebenfalls in der Behandlung von Afroamerikaner*innen durch ein rassifizierendes Justizsystem (50 f.) als auch in der «Petromaskulinität» (156), die er als eine Reaktion auf die «Enteignung des Privilegs zu enteignen» (156) der patriarchalen Männlichkeit versteht.

Pluralität faschistischer Erfahrungen

In der Diskussion, der Theoretisierungen schwarzer Abolitionist*innen, bspw. Angela Davis und George Jackson sieht Toscano eine Ressource «die Schnittstelle von Faschismus und Demokratie [zu] beleuchtet» (44).


Auch hier wird über faschistische Mechaniken versucht, eine (weiße-amerikanische) Identität zu reproduzieren. Der Faschismus als Krisenideologie versucht, die antagonistisch reproduzierten Identitäten zu schützen, indem er sich gegen das Andere wendet. So ist den Mechaniken, die die afroamerikanischen Theoretiker*innen beschreiben, die Konstruktion des weißen Amerikas eingeschrieben und damit wird der Faschismus hier «auch ein Produkt der langen Geschichte der race wars […]» (50), welcher sich auch in liberalen Demokratien als Moment der präventiven Konterrevolution verwirklichen kann.

Damit wendet sich Toscano jedoch abermals dagegen, den Faschismus «als politische Ordnung zu behandeln, die erschöpfend definiert» (58) werden kann. Er betont, dass «Herrschaft nicht einheitlich erlebt wird, weil sie nicht einheitlich ausgeübt wird» (59).

Faschistische Freiheit

Auch wenn Toscano einfache Analogisierung unterlaufen möchte, versucht er dennoch zwei grundlegende Ideen über den Faschismus zu widerlegen. Einmal zeichnet er am historischen Beispiel der Bewegung des italienischen Faschismus nach, dass der angenommene Widerspruch zwischen Liberalismus und Faschismus historisch nicht haltbar ist, was sich in Mussolinis «Versprechen eines Liberalismus mit illiberalen Mitteln» (70) zeigt. Zudem zeigt er, dass die Gegenüberstellung vom antietatistischen Liberalismus und etatistischen Faschismus nicht die Realität des nationalsozialistischen Deutschlands widerspiegelt und hier Neumanns Begriff des Nicht-Staates eine bessere Beschreibung wäre (75).

Die Verbindung zwischen Liberalismus und Faschismus setzt sich heute fort. Wie schon die Erfahrung von Herrschaft plural und situiert verstanden wurde, so ist die Freiheit für ein Subjekt im Faschismus erfahrbar. Dabei ist die faschistische Freiheit die Erweiterung der neoliberalen individuellen Marktfreiheit durch die «Freiheit zu dominieren, zu herrschen» (83). Toscano hält jedoch fest, dass dies keine Verschiebung ist, sondern nur ein Verwischen einer Grenze. Beide, die liberale als auch die faschistische, sind Freiheiten, die durch eine «agressive Vorstellung von Wettbewerb […] und einer Abneigung gegen Solidarität, Fürsorge und Verletzlichkeit geprägt sind» (83).

Doch verwirklicht sich die faschistische Freiheit nur in der Flucht in «kompensatorische kollektive Fantasien» (96), die als Reaktion auf die «Verinnerlichung der Machtlosigkeit» (ebd.) beschrieben wird. Unter Rückgriff auf Adorno, Alfred Sohn-Rethel, Norbert Guterman und Henri Lefebvre beschreibt Toscano, wie der Faschismus auf die Widersprüche der Realabstraktion im Kapitalismus nicht nur über die antisemitischen Konstruktion des Juden als abstrakter Feind alles Konkreten reagiert, sondern auch ein Projekt der «Palingenese» (107) hervorruft, welche

«im Rückgriff auf ein ungeordnetes Archiv sedimentierter zeitlicher Imaginationen und Erfahrungen diejenigen […] disjunkten Synthesen [durchführt], die es […] ermöglichen, die Zeit des Ressentiments oder des Revanchismus […] mit der Zeit der Akkumulation […] zu vermitteln.» (118)

Dabei bedient sich dieses Projekt für Toscano einer Sprache der Ideen ohne Worte und einer Religion des Todes. Mit der Idee ohne Worte wird die formale Esoterik (vgl. 125) der faschistischen Sprache beschrieben. Sie ist unbestimmt und malt leere Bilder. Durch ihre Unbestimmtheit erlaubt sie «die Entdifferenzierung der Vergangenheit als Wert, die es ihr erlaubt, in der Gegenwart so mühelos zu zirkulieren» (133). In der Religion des Todes opfern sich die Faschisten für die Sache, für die Realisierung der Idee ohne Worte. So entlädt sich die Konstruktion der eigenen Identität, wie zu Beginn gesehen, eliminatorisch gegen das Andere, da der Faschist «Schuld auf sich […] [nimmt] um das Kommen der neuen Welt zu beschleunigen» (132).

Das longou durée des Faschismus

Eine zentrale These Toscanos ist, dass der «›späte‹ Faschismus nicht ohne die ›Faschismen vor dem Faschismus‹» (160) begreifbar ist. Das zeigt sich für Toscano einmal in der Frage nach dem rassistischen weißen Nationalismus, der faschistische Mechaniken in den USA ausgebildet hat und der ohne die «Indianerkriege […] und [der] siedlungskolonialen Organisation der enteignenden Gewalt» (50) nicht zu verstehen ist. Es zeigt sich jedoch auch in der Kontextualisierung des Faschismus durch einen «racial capitalism [wenn dieser ] nicht auf einen kulturell-zivilisatorischen Faktor innerhalb […] dessen, was >Westen< genannt wird, reduziert wird» (52), also wenn der Faschismus sowohl seine Wurzeln im Rassismus, als auch im Kapitalismus hat.

Diese Kontextualisierung leuchtet ein und das Ziehen von langen Linien trägt sicherlich dazu bei, keine der beiden Seiten in der anderen unsichtbar zu machen. Toscanos Charakterisierung des Faschismus als dynamischer Prozess der Faschisierung von Potentialen macht außerdem deutlich, dass es nicht um eine Erklärung des Faschismus aus dem Kolonialismus heraus geht, sondern um die Verdeutlichung des Kolonialismus und seiner Regime als Ermöglichung.

Gleichzeitig scheint mir Toscano mit der Einordnung der antisemitischen Figur der Jüdinnen als «›Zwischenhändler‹ die [die] ›Drecksarbeit‹ des Kapitals verrichten» (90) in einen «innereuropäischen racial capitalism» (ebd.) den Begriff unzulässig auszuweiten. Zumindest, wenn man den differenten – aber nicht getrennten – Charakter zwischen den Phänomen des Rassismus und des Antisemitismus ernst nehmen und Antisemitismus nicht als Form des Rassismus behandeln will.[enf_note]Vgl. dazu bspw. Christian Thein: «Sozialphilosophie zwischen Herrschafts- und Antisemitismuskritik», in: Philosophie und Rassismus: Debatten und Kontroversen, hg. von Franziska Dübgen / Marina Martinez Mateo / Ruth Sonderegger. Erste Auflage (Weilerswist-Metternich: Velbrück Wissenschaft 2025).[/enf_note]


Spätfaschismus, Spätfaschismen oder doch nur spätfaschistische Mechniken?


Toscanos Buch Spätfaschismus versucht eine komparatistische, analogisierende Untersuchung des Faschismus zu vermeiden. Hierin besteht die größte Stärke, als auch die größte Schwäche des Buches.


Was Toscano gelingt, ist es, ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Potenzialen des Spätfaschismus zu erschaffen. Er nimmt dabei nicht nur historische Beispiele auf, sondern bindet sie immer wieder an aktuelle Entwicklungen zurück und zeigt ihre Unterschiede auf. So wird unter anderem aus dem Faschismus, der auf eine revolutionäre Zeit reagiert, ein Spätfaschismus, der sich durch die panische Abwehr progressiver Ideen in Kulturkämpfen auszeichnet (vgl. 123).


Auch wenn sich Toscano an der ein oder anderen Stelle mehr Zeit hätte lassen können, die einzelnen Muster des Kaleidoskop zu betrachten – insbesondere die vielen verschiedenen Theoriebegriff einzuleiten –, schafft er es, den Leser*innen in ca. 150 Seiten verschiedene Momente deutlich zu machen, die sich der Spätfaschismus nutzbar macht und für deren Relevanz wir sensibilisiert werden sollten.

Doch das schnelle Drehen des Kaleidoskop macht es bisweilen schwer, die einzelnen Muster miteinander in Verbindung zu bringen. Begriffe werden unter Rückgriff auf viele unterschiedliche Theorien aufgegriffen und eingeführt, jedoch tauchen sie selten an späteren Stellen wieder auf.

Wer Spätfaschismus liest, um die eingangs erwähnte Frage Ist das Faschismus? zu beantworten, der wird entweder auf ein sehr breites Verständnis von Faschismus treffen, was kaum eine andere Antwort als Ja zulässt, oder sich damit begnügen müssen, dass Toscano gerade eine solche Klassifikation unterläuft. Dabei zeigt Toscano zwar wichtige Kontinuitäten zwischen liberal-kapitalistischen Staaten, zwischen kolonialen Regimen und dem Faschismus auf, doch treten dadurch Unterschiede in den Hintergrund zurück.

Am Ende lädt Spätfaschismus nicht nur zum Weiterdenken ein, es zwingt dazu. Dabei hilft Spätfaschismus gerade, um sich faschistischen Potentialen in der Gegenwart und auch in progressiven Milieus bewusst zu werden. Toscano plädiert daher am Ende auch dafür, dass Antifaschismus nicht nur immer auch über Antikapitalismus reden muss, sondern dass er «untrennbar mit dem gemeinschaftlichen Aufbau von Lebensweisen verbunden [ist]» (162), die die Gegenwart für den Faschismus unbrauchbar macht.

  1. Vgl. bspw. Steven Levitsky und Lucan A. Way, «The Path to American Authoritarianism: What Comes after the Democratic Breakdown Essays», Foreign Affairs 104, Nr. 2 (2025): 38, https://heinonline.org/HOL/P?h=hein.journals/fora104&i=254 ff.
  2. Sven Reichardt, «Was ist Postfaschismus?», Soziopolis – Gesellschaft beobachten, 8. Mai 2025, https://www.soziopolis.de/was-ist-postfaschismus.html.
  3. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, «Demokratischer Faschismus», JACOBIN Magazin, 1. Mai 2025, https://jacobin.de/artikel/demokratie-faschismus-oliver-nachtwey-carolin-amlinger.