Arendt über Autorität, Totalitarismus und Einsamkeit

Aus dem Englischen übersetzt von Carl Julius Reim

1954 veröffentlichte die politische Theoretikerin Hannah Arendt einen Aufsatz mit dem Titel «Was ist Autorität?».1 Arendts Antwort war überraschend: Autorität ist verloren und es gibt keine Hoffnung auf ihre Wiederherstellung. Die Geschichte des Verlusts der Autorität verrät uns jedoch viel über unsere Welt, über unsere Ansprüche an sie und über die Bedrohungen, denen sie ausgesetzt ist.

Gewalt versus Autorität

Der Essay beginnt mit einer Neuausrichtung: Wir sollten fragen, was Autorität war, da Autorität, politisch gesprochen, in der modernen Welt völlig verschwunden ist. Autorität ist nach Arendt nicht einfach das, was Menschen zum Gehorsam zwingt, denn das hieße, Autorität und Gewalt zu verwechseln. Natürlich können beide dieselbe Funktion erfüllen. Aber einen Schuh als Hammer zu bezeichnen, nur weil beide einen Nagel in eine Wand schlagen können, macht sie nicht identisch.

Autorität ist aus dem römischen Konzept der auctoritas hervorgegangen und kam weder in der altgriechischen Sprache noch der vor-römischen politischen Erfahrung vor. Auctoritas – und damit Autorität – ist ein merkwürdiges Phänomen, das sich sowohl dem Zwang durch Gewalt als auch durch Überzeugung entzieht. Wo eines der beiden zur Anwendung kommt, hat die Autorität versagt oder ist außer Kraft gesetzt. Die Autorität bringt Menschen zum Gehorsam, lässt sie aber so frei wie zuvor. Mit einem Wort: Autorität ist die Fähigkeit, zu sagen: «Du sollst das tun», und den anderen dazu zu bringen, zu gehorchen, ohne dass man ihm (explizit oder implizit) Konsequenzen androhen oder ihn überreden muss. Sie ist weder ein Befehl, noch ein Ratschlag, noch ein Anreiz.

Um Autorität zu haben, darf man sich also nicht auf Macht oder die allgemeine Vernunft stützen, sondern auf eine Hierarchie, die beide Parteien anerkennen und als legitim ansehen. Für die Römer stammte diese Autorität aus der Vergangenheit – aus der Gründung Roms und der Größe der Vorfahren. Im Mittelalter leiteten christliche autoritäre Regime ihre Autorität von Gott ab, aber allen autoritären Regierungen ist gemeinsam, dass die Autorität aus einer externen Quelle stammt, die auch der Regierung oder den Behörden selbst überlegen ist.

All dies wirkt ziemlich verwirrend, aber es unterstreicht den wichtigen Punkt, dass es in der modernen Welt überhaupt keine Autorität mehr geben kann, da wir keine externe und übergeordnete Quelle der Autorität mehr anerkennen. Autoritäre Regime können daher nicht mehr existieren, oder besser gesagt, das, was wir als autoritär bezeichnen, hat keine sinnvolle Verbindung mehr zur Autorität. Auf diese Weise könnte man meinen, dass der Begriff den so genannten «Autoritären» schmeichelt, da er impliziert, dass ihre Herrschaft auf etwas anderem als Gewalt beruht. Als die Konservativen zu Arendts Zeit betonten, dass sie «Autorität wiederherstellen» wollten, erkannte Arendt, dass sie Autorität mit Gewalt gleichsetzten und sich am Ende damit begnügen würden, letztere wiederherzustellen. Und da Autorität die geheimnisvolle Fähigkeit ist, einen anderen dazu zu bringen, zu gehorchen, und diese Person dennoch so frei bleibt wie zuvor, versuchten die Konservativen zu behaupten, dass sie die Autorität wiederherstellten und damit die Freiheit sicherten.

Andererseits ist es der Vorherrschaft liberaler Sprache zu danken, dass der Begriff «autoritär» abwertend konnotiert wurde (und ich nehme dies an, da kein Regime es wagt, sich als solches zu bezeichnen). Für Arendt ignorieren die Liberalen die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Macht und konzentrieren sich stattdessen auf den «Fortschritt», der darauf abzielt, die Fesseln jeglicher Macht abzustreifen, ganz gleich, woher sie kommt. Ebenso setzen sie Autorität und Gewalt gleich und zeigen eine Abneigung gegen beides; beides bedroht die liberale Art von Freiheit, die jeglicher Macht gegenüber feindlich eingestellt ist.

Der Verlust gemeinsamer Wortverständnisse als Verlust einer gemeinsamen Welt

Für Arendt haben beide Seiten einen Punkt: Sie sah einen Rückgang sowohl der Autorität als auch der Freiheit. Sie war der Meinung, dass die Liberalen und die Konservativen dazu beigetragen hätten, die Begriffe zu verwirren und die politische Bedeutung beider zu zerstören. Die Liberalen verkennen die unterschiedlichen Beziehungen zur Freiheit in autoritären, tyrannischen und totalitären Regimen, während die Konservativen die «totalitäre» Regierung als das Ergebnis des Rückgangs jeglicher erkennbarer Autorität bezeichnen, die sie eng mit der Demokratie verbinden. Dies weist auf einen der grundlegenderen Punkte hin, die sie in ihrem Werk hervorhebt: Die gemeinsamen Wortverständnisse sind verloren gegangen. Dieses «merkwürdige Recht» – das Recht von uns allen, unsere Begriffe zu definieren – ist für Arendt ein Indikator dafür, dass wir aufgehört haben, überhaupt in einer gemeinsamen Welt zu leben.2 Wir können uns nicht mehr auf die wichtigsten Begriffe stützen, um über eine gemeinsame Wirklichkeit zu diskutieren, sondern müssen lediglich die Konsistenz der Argumentation eines anderen anerkennen. Begriffe wie «Freiheit», «Autorität», «Tyrannei» und «Totalitarismus» haben also ihre öffentlich-politische Bedeutung verloren, werden aber immer noch verwendet, da sie ihre Relevanz und Kraft nicht völlig verloren haben.

Ich denke, dies lässt sich an der politischen Sprache der «Autoritären» unserer Zeit ablesen; Orbán beruft sich gern auf die Freiheit, und Trump nannte die Einführung von Zöllen «Tag der Befreiung». George Orwells berühmter Satz aus 1984, «Freiheit ist Sklaverei»3 – damals ganz offensichtlich als Paradoxon gedacht, das den gesunden Menschenverstand beleidigt – könnte ohne Weiteres von einem zeitgenössischen Politiker:innen geäußert werden. Man kann sich fast vorstellen, wie die Journalist:innen und ihre Lakaien herbeieilen, um zu erklären, dass Herr Orbán oder Herr Trump, oder wer auch immer es sein mag, einfach seine Definition von Freiheit und seine Definition von Sklaverei verwendet, als ob man sich nicht um die gewöhnliche Verwendung dieser Begriffe oder das allgemeine Verständnis von ihnen scheren müsste. Sie können auch gar nicht anders, denn in einer Welt, die zersplittert ist und in der es keinen gemeinsamen Sinn für verschiedene Begriffe mehr gibt, ist dies die einzige Art von Verständnis, die uns möglich ist. In dem Maße, in dem diese Welt weiter zerbricht, beginnen auch die elementarsten Freiheitsbegriffe (wie das Misstrauen des Liberalen gegenüber der Macht) zu zerfallen. Und da es keine gemeinsame Welt gibt, erscheint das Absurde banal, da wir keinen gemeinsamen Maßstab haben, anhand dessen wir es bewerten könnten. Mit anderen Worten: Die gemeinschaftliche Vernunft hängt von einem geteilten Verständnis ab.

Totalitäre und autoritäre Regierung im Vergleich

Ich glaube jedoch, dass die meisten zustimmen würden, dass nicht nur die Worte, sondern auch die Handlungen dieser Regierungen unverständlich sind. Um dies zu verstehen, könnten wir die autoritäre Regierung mit ihren tyrannischen und totalitären Gegenstücken vergleichen. Für Arendt hatte die christliche Art der autoritären Regierung im Mittelalter eine Quelle der Autorität über sich selbst. Diese Autorität sickerte von der Spitze in Form einer Pyramide nach unten, so dass jede untere Ebene eine gewisse Autorität besaß, aber weniger als die über ihr. Bei der Tyrannei hingegen steht eine Person über einer Masse von «sorgfältig isolierten, aufgelösten und völlig gleichen Individuen», die mit den «sprichwörtlichen Bajonetten» aufgehängt sind, so dass sie alle gleichermaßen unterdrücken.4 Totalitäre Regime hingegen haben die Struktur einer Zwiebel. In der Mitte befindet sich der Anführer und jeder Teil der Bewegung ist eine andere «Schicht», die umso radikaler ist, je näher sie dem Zentrum ist. Jede dieser Schichten hat eine nach außen gerichtete Fassade, die den Anschein von Normalität erweckt, aber auch eine nach innen gerichtete, fanatische und extreme Seite. Das bedeutet, dass diejenigen, die sich im Zentrum der Zwiebel befinden, zu der Überzeugung gelangen, dass sie sich von anderen nur durch die Intensität ihrer Überzeugungen unterscheiden, während die Außenstehenden glauben können, dass die Regierung im Wesentlichen normal ist.

Wenn wir sehen, dass Regierungen sich unberechenbar und scheinbar gegen den gesunden Menschenverstand verhalten, könnte das daran liegen, dass die Zwiebel sie von der realen Welt abschirmt. Die Führung und die Fanatiker:innen in der Bewegung oder der Regierung sind daher nicht wirklich gezwungen, sich mit den Tatsachen der realen Welt auseinanderzusetzen, sondern glauben stattdessen an die Fiktionen ihrer eigenen Ideologie und verfolgen eine Politik, die für Außenstehende scheinbar jeder Logik widerspricht. Andererseits können sich Außenstehende auch einreden, dass ein rationaler Prozess im Gange sein muss, da sie an die Fiktion glauben können, eine normale Regierung zu haben. Natürlich gibt es einen rationalen Prozess, aber da er der Logik einer Ideologie folgt und von Prämissen oder «Fakten» ausgeht, die von der realen Welt isoliert sind, ist er von außen nicht leicht zu erkennen oder zu verstehen. Wenn diese Beschreibung zutrifft und man Zeuge von Maßnahmen wie der willkürlichen Erhöhung von Zöllen wird, die nach außen hin mit fadenscheinigen Begründungen gerechtfertigt werden, dann kann man nur zu dem Schluss kommen, dass sich ein solchesSystem im Prozess der Bildung einer totalitären Regierung befindet. Wenn eine solche Regierung auf Druck von außen reagiert, können wir daraus schließen, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist.

Das Verhältnis zwischen Autoritarismus und demokratischen Bewegungen oder: Wasser in die Wüste bringen

Bislang wurde kaum über das Verhältnis zwischen Autoritarismus und demokratischen Bewegungen gesprochen, außer um zu sagen, dass der Autoritarismus nicht mehr existiert. Es sollte klar sein, dass die für mich relevanten Fragen die Beziehung zwischen Totalitarismus und demokratischen Bewegungen betreffen. Zur Wahrheit gehört, dass Arendt keine uneingeschränkte Befürworterin dessen war, was wir heute als «Demokratie» bezeichnen. Für uns bedeutet Demokratie, Repräsentant:innen mit der Macht zu betrauen, Gesetze für uns zu machen – repräsentative Demokratie. Für Arendt bedeutet dies jedoch nicht, dass wir uns an der Politik beteiligen, sondern dass wir unsere Befugnisse als politische Wesen aus der Hand geben. Am Ende von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft argumentiert sie, dass der Totalitarismus nicht das Scheitern traditioneller politischer Kräfte – liberal oder konservativ, national oder sozialistisch, republikanisch oder monarchistisch, autoritär oder demokratisch ist, sondern eine neue Form der Regierung, die auf einer grundlegenden menschlichen Erfahrung beruht – der Verlassenheit.5

Für Arendt ist die «liberale Demokratie» kein einfaches Gegenmittel zum Totalitarismus, und Elemente des Totalitarismus können sogar in einer Demokratie bestehen. Solange die Erfahrung der Verlassenheit anhält, kann die Demokratie in Totalitarismus abgleiten. Verlassenheit unterscheidet sich von der bloßen Einsamkeit insofern, als es sich um eine Situation handelt, in der Menschen «verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst» sind.6 Im Gegensatz dazu ist ein Mensch in der Einsamkeit «eigentlich niemals allein; ich bin mit mir selbst zusammen.»7 Die Verlassenheit wird am stärksten in der Gegenwart von anderen empfunden, obwohl ihr oft eine Isolation vorausgeht. Im Gegensatz zur bloßen Tyrannei (die nur darauf abzielt, die Menschen isoliert und ohne öffentliche Freiheit zu lassen) bestätigt der Totalitarismus dieses Gefühl der Verlassenheit, macht es zur Selbstverständlichkeit, verstärkt und organisiert es durch den Terror, so dass es keinen Raum für öffentliche oder private Bewegung gibt. Darüber hinaus wurde die Verlassenheit, die einst nur von Menschen am Rande erlebt wurde, im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Massengesellschaft zu einem alltäglichen Phänomen, das mit dem Gefühl der Ortlosigkeit einherging. In der Verlassenheit ergreift die Ideologie – jene «Ismen», die behaupten, fast alles aus einfachen Prämissen erklären zu können – den Verstand und ersetzt das Denken durch eine «eiskalte Logik», die den Menschen die Pflicht raubt, selbst zu denken und mit sich selbst zu diskutieren.8 Ähnliche Bedrohungen gibt es also in allen Ideologien. Ob Progressivismus oder Konservatismus, Liberalismus oder Sozialismus, Faschismus oder Nationalismus; es spielt keine Rolle, ob sie die Demokratie unterstützen. Wenn ich unsere heutige Welt betrachte, sehe ich, dass wir ähnlich ortlos sind, ähnlich verlassen, ähnlich ohne leitende Autorität und ähnlich anfällig für ideologisches Denken. Und so scheint es mir, als lägen alle Voraussetzungen für den Totalitarismus wie ein zerlegtes Gewehr auf dem Tisch, die darauf warten, von einer bösartigen oder ignoranten Ideologie des Augenblicks kombiniert zu werden.

Für diejenigen von uns, die sich von Arendt leiten lassen wollen, gibt es ernsthafte Fragen, die wir allen Bewegungen stellen müssen, auch den demokratischen. Was haben diese Bewegungen über die Einsamkeit zu sagen? Wie bekämpfen sie den Einfluss von politischen Verschwörungstheorien? Wie versuchen sie, die totalitäre «Zwiebel» zu durchdringen oder zu schälen? Arendt verglich die isolierte Welt mit einer Wüste und meinte, der Totalitarismus habe irgendwie einen Weg gefunden, einen Sandsturm in Bewegung zu setzen, der «die uns bekannte Welt, die überall an ein Ende geraten scheint, zu verwüsten droht».9 Die Aufgabe besteht also nicht nur darin, den Sturm zu überstehen, sondern Wasser in die Wüste zu bringen.

  1. Anm. d. Übers.: Huw Davies bezieht sich auf Hannah Arendt: ‹What is Authority?› In: Hannah Arendt, Between Past and Future. London 2006, S. 91-141. Diese Version des Aufsatzes wurde nicht auf deutsch publiziert, daher sind die wörtlichen Zitate in diesem Artikel eigene Übersetzungen. Eine kürzere, ursprünglich auf deutsch publizierte Version des Aufsatzes liegt vor als Hannah Arendt, ‹Was ist Autorität?› In: Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 159-201. Die Publikation des Aufsatzes in der Kritischen Gesamtausgabe ist für 2028 geplant.
  2. Arendt, ‹Authority›, S. 95. Eigene Übersetzung.
  3. George Orwell, 1984 (übers. Michael Walter). Berlin 2004, S. 10.
  4. Arendt, ‹Authority›, S. 99. Eigene Übersetzung.
  5. Hannah Arendt: Element und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986, S. 703-730.
  6. Arendt, Elemente, S. 729. Anm. d. Übers.: Arendt besorgte die deutsche Übersetzung ihrer Origins of Totalitarianism selbst und überarbeitete dabei weiter, sodass es «keine in jedem Wort getreue Übersetzung des englischen Textes» (Arendt, Elemente, S. 13) wurde. Einige der von Huw Davies aus dem englischen Original zitierten Passagen fehlen in der deutschen Version. In Absprache mit dem Autoren habe ich daher im Sinn ähnliche Passagen herausgesucht und zitiert.
  7. Arendt, Elemente, S.728.
  8. Arendt, Elemente, S. 729.
  9. Arendt, Elemente, S. 730.