Von einer kapitalistischen Demokratie zum Autoritarismus? Die Folgen eines parasitären Verhältnisses

«Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht weil sie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat überflüssig, sondern umgekehrt, weil sie diese Machtergreifung ebenso notwendig, wie auch einzig möglich macht.» – Rosa Luxemburg1

Die Demokratie ist untrennbar mit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat verbunden und doch oder eben deswegen ist sie im Kapitalismus ein unvollständiges und unzureichendes System. Denn politische Macht als die Fähigkeit, grundlegende gesellschaftliche Entscheidungen zu treffen und sie mit Hilfe staatlicher Institutionen durchzusetzen, wird von den Machtverhältnissen in einem kapitalistischen System unterminiert. Daher stehen Kapitalismus und Demokratie in einem komplexen Spannungsverhältnis. Denn wenn der Kapitalismus sich in Krisen befindet, werden demokratische Freiheiten eingeschränkt. Der Kapitalismus kommt unbeschädigt davon. Das Spannungsverhältnis, welches zunächst als produktive Symbiose verstanden wird, lässt sich nach genauerer Betrachtung als ein parasitäres Verhältnis beschreiben. Besonders durch die neoliberalen Ausprägungen, mit denen wir uns heutzutage konfrontiert sehen, wird dieses Verhältnis verschärft. Dabei fungiert dieses Spannungsverhältnis gerne als Nährboden für autoritäre Tendenzen. Durch die zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Macht wird ein Klima der Unsicherheit und Frustration geschaffen, das autoritäre Strukturen begünstigt. Besonders in Krisenzeiten gewinnen autoritäre Akteur*innen dadurch an Einfluss. Das wirft die Frage auf, wie viel Demokratie überhaupt noch im herrschenden kapitalistischen System steckt oder ob es lediglich eine bröckelnde Fassade ist für ein System, welches seine Grundlagen selbst verspeist? Und inwiefern fördert dies die Entstehung autoritärer Tendenzen, die die Demokratie weiter destabilisieren?

Demokratischer Kapitalismus – eine toxische Beziehung

Nach Betrachtung ihrer Grundlagen, lässt sich die weitverbreitete Annahme, dass sich Kapitalismus und Demokratie gegenseitig bedingen, relativ leicht widerlegen. Sie sind zwar historisch oft gemeinsam gewachsen, aber nicht zwangsläufig aufeinander angewiesen. Denn ihren jeweiligen Grundlagen liegen tiefe Widersprüche zu Grunde. Während das kapitalistische System auf Wettbewerb, Eigentum, individueller Gewinnmaximierung und hierarchischen Strukturen basiert – was zu ungleichen Besitzverhältnissen und struktureller Ungleichheit führt – basiert eine demokratische Ordnung auf politischer Gleichheit, dem Ziel des Erreichens eines Allgemeinwohls und einer Entscheidungsfindung, die für die Mehrheit von Vorteil ist. Kapitalismus ist nicht demokratisch.2 Demokratie ist nicht kapitalistisch. Das zeigt sich besonders an der zunehmenden Spannung, welche durch neoliberale Ausprägungen des Kapitalismus hervortreten. Neoliberale Mechanismen, wie etwa die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, Entfremdung und Privatisierung, erzeugen soziale Unsicherheit. Diese Unsicherheit eröffnen autoritären Strukturen, Tendenzen und Ideologien Türen. Der Staat präsentiert sich dabei nicht als neutraler Akteur, sondern ist strukturell auf die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse angewiesen. Politische Macht und wirtschaftliche Verfügungsmacht verschmelzen zur Übermacht.3 Eine Entwicklung, die im Kontext der COVID-19-Pandemie besonders deutlich wurde, da in dieser Krisensituation vielerorts nicht primär demokratische Prinzipien, sondern staatliche Maßnahmen oft in enger Abstimmung mit wirtschaftlichen Interessen umgesetzt wurden. Die Politik hält die Zügel in der Hand, doch der Markt führt das Pferd.

Kapitalistische Demokratien funktionieren nur so lange, wie sie im Interesse der wirtschaftlichen Eliten handeln. Die daraus resultierende Folge: politische Entscheidungen werden auf die Märkte verlagert. Der demokratische Gestaltungsraum wird ausgehöhlt. Unternehmen können abwandern, Investoren können dicht machen und die Politik duckt sich lieber weg, als es sich mit dem Kapital zu verscherzen. Die politische Macht hat sich längst auf die Seite des Marktes verlagert. Besonders sichtbar wird das auf dem Wohnungsmarkt: Während Mieten explodieren und Wohnraum zum Luxus wird, bleibt der Staat erstaunlich zahm. Enteignung? Tabu. Mietendeckel? Vom Verfassungsgericht gekippt. Sozialer Wohnungsbau? Ein Tropfen auf den heißen Beton. Statt konsequenter Eingriffe setzt man auf «Dialog mit der Immobilienwirtschaft», also genau jenen Akteur*innen, die von der Krise profitieren. Das Ergebnis? Die Profite steigen, die Mieten auch und wer kein Kapital hat, zahlt den Preis. Kapitalismus unterminiert die Demokratie systematisch: Er befördert soziale Spaltung, marginalisiert politische Teilhabe und öffnet autoritären Strukturen die Tür zur Macht. In dieser Konstellation liegt die reale Macht längst nicht mehr beim Volk, sondern bei Konzernen, Finanzmärkten und Wirtschaftsinstitutionen.

Gleichzeitig lässt sich eine zunehmende Entfremdung zwischen Bevölkerung und politischem System beobachten. Die Einbindung der Bürger*innen in politische Entscheidungsprozesse wird zunehmend schwächer. Entfremdung ist hier nicht lediglich als subjektives Gefühl der Ohnmacht oder des Rückzugs zu interpretieren, sondern als struktureller Zustand, der aus gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgeht. Im Anschluss an Marx sind Menschen im Kapitalismus von ihrer Arbeit, ihren sozialen Beziehungen und von sich selbst entfremdet. Kapitalistische Gesellschaftsstrukturen entziehen Menschen Selbstbestimmung und Teilhabe systematisch. Entfremdung ist dabei nicht nur auf die Produktionssphäre zu beziehen, sondern auch im politischen, sozialen und kulturellen Leben zu beobachten, etwa in Form neoliberaler Selbstverwertungsideale oder des Rückzugs aus kollektiven Entscheidungsprozessen.5

Diesen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Autoritarismus benannte auch Max Horkheimer: «Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.»6 Der Faschismus ist keine plötzliche Ausnahme, sondern die logische Konsequenz eines Systems, das extreme soziale Ungleichheiten hervorbringt. Die Kapitalist*innen und die politischen Eliten reagieren auf diese Ungleichheiten mit repressiven Maßnahmen, um die bestehenden Verhältnisse zu sichern, so auch in autoritären Regimen in der Gegenwart. Autoritarismus heute, in Zeiten wachsender ökonomischer Unsicherheit, ist nicht nur eine Reaktion auf diese Ungleichheit, sondern auch eine Verstärkung der bestehenden kapitalistischen Strukturen.

Auf dem Weg zu einer Gesellschaft der Freien und Gleichen

Um zurück zum eingangs genannten Zitat von Rosa Luxemburg zu kommen, konnte deutlich gemacht werden, dass Demokratie zwar notwendige Formen der Teilhabe in der Gesellschaft und Politik fördern kann, jedoch in einem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu einer Verzerrung der Realität wird. Solange Demokratie innerhalb dieses Systems existiert, bleiben kapitalistische Strukturen, welche auf Ausbeutung und Unterdrückung angewiesen sind, unangerührt und erhalten. Der Kapitalismus mit seiner Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung, basiert nicht auf Gesetzen, sondern auf tief verwurzelten ökonomischen Machtverhältnissen. Daher wird eine Demokratie im eigentlichen Sinne im Kapitalismus nicht bestehen können, da sie immer wieder in Konflikt mit den grundlegenden Interessen des Kapitalismus geraten wird. Es findet eine schleichende Aushöhlung der Demokratie statt. Die aktuellen autoritären Entwicklungen sind dabei in diesem Zusammenhang als Produkt neoliberaler kapitalistischer Logiken zu verstehen. Es reicht also nicht, sich im Kampf für eine Welt der Freien und Gleichen auf eine Demokratie im Kapitalismus zu berufen. Wer Demokratie ernst meint, muss den Kapitalismus überwinden.

  1. Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, zuerst veröffentlicht in Leipziger Volkszeitung, Nr. 219- 225 (21.- 28. September 1898) und Nr. 76- 80 (4.- 8. April 1899); zitiert nach: Gesammelte Werke, Bd. 1, Erster Halbband (Berlin: Dietz Verlag, 1982), S. 369-445. 
  2. ürgen Kocka, «Kapitalismus und Demokratie: Warum sie einander brauchen», Der Tagesspiegel, 23. September 2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/warum-sie-einander-brauchen-4102732.html.
  3. Ebd..
  4. Rahel Jaeggi, Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, 3. Aufl., Berlin: Suhrkamp Verlag, 2022, S. 31- 45.[/enf_note] Das hat zur Folge, dass Menschen sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, politische Prozesse als fremdbestimmt wahrnehmen, sich kaum noch als aktiver Teil gesellschaftlicher Entwicklungen begreifen und Angriffe auf eine demokratische politische Kultur nicht ernst genommen werden. Entfremdung wird hier zum Katalysator für das Aufsteigen und Populärwerden von autoritären Entwicklungen.

    Von ökonomischer Unsicherheit zur politischen Repression

    Autoritarismus wirkt also als eine Antwort für Viele. Als eine Antwort auf die selbstverursachte Systemkrise, deren eigentliche Ursache – der Kapitalismus – nicht benannt wird. Geschichte und Gegenwart zeigen: wo Menschen mit ihrer ökonomischen Situation unzufrieden sind, tendieren sie dazu, autoritäre Antworten zu befürworten und autoritäre Parteien und Politikerinnen ihre Stimme zu geben. Das manifestiert sich nicht zuletzt durch die hohen Wahlergebnisse von rechten Parteien und Politikerinnen mit autoritären Tendenzen auf der ganzen Welt. So zeigt dies beispielsweise der Wahlsieg der FPÖ in Österreich, die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika oder der hohe Anteil der gesichert rechtsextremen AfD. Ökonomische Unsicherheit und soziale Spaltung werden zum Nährboden für autoritäre Bewegungen. Sie entwickeln und etablieren sich aus einer kapitalistischen Demokratie heraus. Dabei reagieren autoritäre Regime langfristig auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Repression. Es wird die vermeintliche «Wettbewerbsfähigkeit» durch Ausgrenzung, Ausbeutung und Unterdrückung gesichert, was nur zur weiteren Zuspitzung kapitalistischer Strukturen führt. So wird deutlich, dass Autoritarismus und Kapitalismus in keinem Widerspruch zueinander stehen, sondern sich viel eher in eine Linie einreihen, dank Akkumulation, Wachstum, Entfremdung und Kontrolle.4Gerd Wiegel, «Demokratieentleerung und autoritärer Kapitalismus“, Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 58 (Juni 2004), https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/de/article/929.demokratieentleerung-und-autoritaerer-kapitalismus-ulla-jelpke.html.

  5. Max Horkheimer, «Die Juden und Europa», Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 8 (1939/40), S.115- 136.