Es sind schwierige Zeiten für die liberale Demokratie – das hört man immer öfter. Der Ausgang der vergangenen Bundestagswahl reiht sich nahtlos in eine Fülle von Ereignissen ein, die den Eindruck erwecken, dass sich die liberale Demokratie angesichts von autoritären Kräften auf dem Rückzug befindet: Donald Trump, der vier Jahre zuvor noch zum Sturm des Kapitols ermutigte, wurde als Präsident der USA wiedergewählt. Österreich stand kurz davor, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder einen Kanzler aus einer extrem rechten Partei zu haben. Italien wird von einer post-faschistischen Partei regiert. Und Viktor Orbán geht offener gegen individuelle Freiheiten vor als je zuvor. All diese Ereignisse haben gemeinsam, dass sie in Systemen stattfinden, die auf demokratischen und rechtsstaatlichen Werten aufgebaut sind. Diese haben Mechanismen und Regelungen, die sicherstellen sollen, dass liberale Werte nicht verletzt werden und antiliberale Entwicklungen verhindert werden können. Dass nun ein Mann zum Staatsoberhaupt der einflussreichsten Demokratie der Welt gewählt wurde, der freie Medien einschränken will und Regierungen von europäischen Staaten zunehmend die Grenzen der Gewaltenteilung überschreiten und gleichzeitig Mitglied der Europäischen Union sind, scheint für diese Systeme ein Widerspruch zu sein.
Können sich demokratische Strukturen mit eigenen Mitteln selbst abschaffen oder sind wir mittlerweile aufmerksamer für die Zerbrechlichkeit, die in ihr wohnt? Es lohnt sich, dem Gedanken nachzugehen, welche Strukturen es Autoritären ermöglichen, sich so gut in modernen Demokratien zu etablieren und welche Hürden dem effektiven Schutz der Demokratie im Weg zu stehen scheinen.
Zum Scheitern verdammt?
Die liberale Demokratie ist ein System, das auf Inklusion und Meinungsfreiheit beruht. Sie lebt von der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe ihrer Bürger:innen, vom Wettbewerb der Ideen und vom Respekt gegenüber unterschiedlichen Meinungen. Diese Werte zu befolgen, ist der liberalen Demokratie inhärent. Dies allein schützt jedoch ihren Bestand noch nicht. Vielmehr zeigt sich, dass das Prinzip der Toleranz in liberalen Demokratien durchaus ein zweischneidiges Schwert ist, deren negative Seiten man fast täglich beobachten kann. Besonders deutlich wird dieser Konflikt anhand der Entwicklungen des Internets: In den 2000er Jahren herrschte unter US-amerikanischen Entscheidungsträger:innen, Intellektuellen und Wissenschaftler:innen die weit verbreitete Annahme, das Internet werde liberalisierend wirken.1 Man ging davon aus, dass die technologische Entwicklung einer besseren Zugänglichkeit von Informationen und der niedrigschwelligen Teilhabe am Meinungsbildungsprozess dienen würde und so zur Stärkung der Freiheiten des Einzelnen und des Vertrauens in den Staat beitragen würden.
Dieses Bild ist heute deutlich düsterer. Autoritäre Regime nutzen die gleichen Technologien, um ihre Macht zu festigen. Mehr noch: Das Internet untergräbt an vielen Stellen demokratische Strukturen. Es ermöglicht die Verbreitung gezielter Desinformation, fördert populistische Meinungsmache sowie Manipulation und begünstigt eine allgemeine gesellschaftliche Resignation. In einem derartigen Umfeld kann der ungehinderte Fluss von Informationen zu einer ernsthaften Herausforderung für demokratische Systeme werden. Hier zeigt sich das Dilemma der liberalen Demokratie: Ihre Offenheit und Toleranz können missbraucht werden, um gezielt Hass zu säen und Hetze zu verbreiten – und damit die Grundlagen eines rationalen und faktenbasierten demokratischen Diskurses zu untergraben.
Ähnliche Entwicklungen sind in politischen Systemen erkennbar. Als ein wesentlicher Gründungsbaustein der Europäischen Union sollte das Vetorecht der Mitgliedstaaten dazu beitragen, dass einzelne Staaten nicht diskriminiert werden oder zugunsten einer Mehrheit übergangen werden können. Heute ist dieser Mechanismus zu einem Mittel der gegenseitigen Erpressung in der Auseinandersetzung zwischen Kommission und Europäischem Rat verkommen. Die Regierung von Zypern nutzte ihn beispielsweise dazu, den Druck auf die im Jahr 2020 geplanten Sanktionen gegen Belarus zu erhöhen und letztlich zu verzögern, um gleichsam ihre Interessen im Konflikt mit der Türkei durchzusetzen. Drei Jahre später versuchte Viktor Orbán ein ähnliches Manöver, mit der Absicht, eingefrorene Gelder der EU zurückzuerhalten.
Diese beiden Szenarien sollten dafür sensibilisieren, dass ein freiheitlich demokratisches System grundsätzlich erst dann gut funktionieren kann, wenn sich die Mehrheit seiner Beteiligten auf der Basis von ähnlichen Wertevorstellungen wiederfinden. Ist dem nicht so, birgt dies die Gefahr, dass Freiheiten bewusst ausgenutzt und an ihre Grenzen gebracht werden. Wird dies systematisch betrieben, braucht es keinen gewaltsamen Umsturz mehr, sondern die Strukturen können nach und nach von innen heraus untergraben werden, bis nur noch die Hülle der Demokratie übrig bleibt.2 Diese stille Erosion liberaldemokratischer Systeme (auch democratic backsliding genannt) zeigt, wie anfällig liberale Werte für autoritäre Angriffe sind. So könnte man annehmen, dass liberale Demokratien schon von Grund auf keine lange Verweildauer haben können und es also nur eine Frage der Zeit sei, bis sie durch eine andere Herrschaftsform abgelöst werden.
Die wehrhafte Demokratie
Das deutsche Grundgesetz zeigt jedoch eindrucksvoll, dass es die in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung wohnende Bedrohung erkennt und auch Verfassungsfeinde aushalten kann und will. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der geistige Austausch für alle gesellschaftlichen Kräfte den bestmöglichen Weg darstelle. Der Kampf der Meinungen und der politischen Kräfte funktioniert konstituierend und ist gleichzeitig Grundbaustein des Systems. Das Grundgesetz wurde im Bewusstsein der Weimarer Republik geschrieben, die genau unter den beschriebenen Erosionen zusammenbrach: Denn die Nationalsozialisten kamen nicht durch einen gewaltsamen Putsch an die Macht. Sie brauchten für die Umgestaltung des Staates nicht einmal eine absolute Mehrheit, sondern nutzten die Werkzeuge, die ihnen die Verfassung bot. Die Lehren aus dieser Zeit haben dazu beigetragen, dass der deutschen Verfassung das Prinzip der Unantastbarkeit des demokratischen Wesenskerns zugrunde liegt. Artikel 79 Absatz 3 entzieht die Garantie der Menschenwürde, die Staatsform und den Kern der Rechtsstaatlichkeit einer Verfassungsänderung. Zwar bewahrt auch dies nicht endgültig vor einer Selbstauflösung, es garantiert jedoch immerhin, dass das Grundgesetz nicht verfassungskonform aufgehoben werden kann und ihm kein relativistisches, wertneutrales Verständnis von Freiheit und Demokratie zugrunde liegt.
Neben der Unantastbarkeit haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Konzipierung eine weitere Grundsatzentscheidung getroffen: Die Bundesrepublik wurde als streitbare und wehrhafte Demokratie angelegt. Sie soll stets gewährleisten, dass autoritäre Strömungen und Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, den Bestand des Staates beeinträchtigen können.3 Damit einher geht die Idee, dass das System langfristig auf eigenen Beinen stehen kann, ohne dass es mit der Zeit durch seine eigenen Werkzeuge zersetzt wird. Carlo Schmid formulierte es 1948 in seiner Grundsatzrede im Parlamentarischen Rat wie folgt: «Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. Ja, ich möchte weiter gehen. Ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.»
Damit eine liberale Demokratie den in ihr ruhenden Widerspruch aushalten kann und die individuellen und strukturellen Freiheiten erhalten bleiben, braucht sie Rahmenbedingungen, die dort Grenzen setzen, wo Beschädigungen des Systems beginnen. Das Grundgesetz und andere Gesetze sehen dafür eine Vielzahl von Möglichkeiten vor. Darunter fällt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei nach Artikel 21 Absatz 2. Dieses Instrument und das damit einhergehende Parteiverbotsverfahren haben im Zuge der zunehmenden Repräsentation der AfD in deutschen Parlamenten an Relevanz und Aktualität gewonnen. Warum fällt es vielen Akteur:innen so schwer, dieses Instrument einzusetzen? Und was bedeutet das für die Wehrhaftigkeit der Demokratie?
Parteien stellen das Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesses in einer liberalen Demokratie dar. Auch wenn das Verbot einer Partei mit teils verfassungsfeindlichen Mitgliedern nahe liegt, ist dies deshalb kein Selbstläufer. Die Gefahr der Ausweitung von politischen Machtverhältnissen zugunsten der AfD ist real. Gleichsam ist das Risiko hoch, dass dieser Mechanismus zur Bekämpfung von missliebigen politischen Gegner:innen missbraucht wird und in Zukunft zu einem Freifahrtschein bei der Auseinandersetzung mit radikalen politischen Strömungen verkommt. Es bedarf daher einer feinfühligen Überprüfung der Partei und ihrer Ideologie. Die zuletzt erfolgte Einschätzung des Verfassungsschutzes kann dabei ein Indiz sein, führt jedoch nicht notwendigerweise zu einem entsprechenden gerichtlichen Urteil. Obwohl Artikel 21 die Voraussetzungen klar benennt, ist es in der Praxis schwierig, bei einer so komplexen Organisation wie einer Partei genau zu bestimmen, wann sie die Grenzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überschritten hat – und wann nicht. Hinzu kommt, dass für diesen Fall kaum Präzedenzfälle vorliegen, die die Einordnung erleichtern. Das Verfahren kann also unter Umständen lange dauern. Dies ist rechtsstaatlich notwendig, birgt aber gleichzeitig die Gefahr einer weiteren Entfremdung der Menschen mit der Idee der Demokratie.
Es braucht ein Wissen um die Verantwortung
Ein Konstrukt aus rechtlichen Regelungen hilft im Zweifel also auch nur bedingt. Zwar ist es sinnvoll, Schlupflöcher und Grauzonen durch Gesetze zu schließen, damit autoritäre Akteur:innen demokratische Prozesse nicht zu ihrer Abschaffung ausnutzen können. Aber letztlich lässt sich nicht jede anti-demokratische Strategie mit Änderungen der Verfassung oder von Gesetzen im Keim ersticken. Nicht zuletzt, weil solche Änderungen auch unbeabsichtigte negative Folgen mit sich bringen können. Es ist deshalb umso wichtiger, dass die Prinzipien der freiheitlichen Grundordnung gelebt und öffentlich diskutiert werden.
Die Offenheit, der Pluralismus und der rechtliche Schutz individueller Freiheiten sind die größten Stärken der liberalen Demokratie – und zugleich potenzielle Schwächen im Kampf gegen autoritäre Strömungen. Die größte Gefahr ist jedoch, dass die liberale Demokratie aus Angst vor Autoritären handlungsunfähig wird. Die Wehrhaftigkeit der Demokratie darf daher nicht als Widerspruch zu ihren Werten verstanden werden, sondern als deren konsequente Verteidigung. Was daraus folgt, ist eine doppelte Verantwortung: Die politische Ordnung muss nicht nur institutionell wehrhaft sein, sondern auch kulturell und zivilgesellschaftlich. Demokratische Bildung, eine kritische Öffentlichkeit und der Mut zur Verteidigung des freiheitlichen Rechtsstaats sind ebenso essentiell wie rechtliche Schutzmechanismen. Nur wenn das Bewusstsein für diese Fragilität erhalten bleibt, kann die liberale Demokratie langfristig bestehen.
- Henry Farrell/Bruce Schneier: «Democracy’s Dilemma». In: Boston Review. Cambrigde 2019.
- Staffan Lindberg: «The Nature of Democratic Backsliding in Europe». In: Carnegie Europe. Brüssel 2018.
- Wolfgang Merkel/Anna Lührmann: «Resilience of democracies: responses to illiberal and authoritarian challenges». In: Democratization. 2021. S. 869-884.