„Governing Through Crime” – Warum die Kriminalpolitik für autoritäre Kräfte attraktiv ist

Dieser Beitrag ist die längere Fassung des in der Ausgabe 25/1 erschienen gleichnamigen Beitrags

Einleitung


Mit Kriminalität wird Politik gemacht. Am Anfang steht dabei häufig ein medial rezipierter Einzelfall (Mord, Vergewaltigung), der zum Anlass genommen wird, einen Diskurs über den Umgang mit Kriminalität hervorzurufen. In diesem stellen politische Akteur:innen aller Couleur sodann Forderungen auf, wie die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze, wenn der oder die Tatverdächtige unter vierzehn Jahre alt ist oder rufen nach schnellen Abschiebungen, wenn er oder sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Auch die Forderung nach härteren Strafen für bestimmte Delikte oder der Ausbau staatlicher Ermittlungsbefugnisse sind Klassiker der Kriminalpolitik. Hierbei sehr beliebt: höhere Strafen für Angriffe auf Polizeikräfte und die Einführung der Vorratsdatenspeicherung. Diese Vorgehensweise hat System. In der Vergangenheit konnten sich viele law & order Positionen durchsetzen. Darunter leidet der liberale Rechtsstaat.

Der Beitrag versucht anhand exemplarisch ausgewählter Fälle aufzuzeigen, warum gerade der Umgang mit Kriminalität in der Politik ein Dauerbrenner ist, wer davon profitiert und warum. Er kommt zu dem Ergebnis, dass ein schleichender Autoritarismus, der den Abbau liberaler Freiheitsrechte vorantreibt und den Ausbau exzessiver staatlicher Überwachung fördert, auch von Parteien der Mitte getragen wird. In der Analyse fällt auf: Der Umgang mit Kriminalität wird von fast allen Parteien als Instrument missbraucht, um einen autoritären Führungsstil und Härte zu demonstrieren.

Die Kriminalpolitik als Spielfeld autoritärer Kräfte


In der Politikwissenschaft wird in den letzten Jahren über einen neuen Autoritarismus diskutiert, der sich für seine Propaganda u.a. auf Antifeminismus, einen Anti-Migrationskurs und Klimaskeptizismus stützt.1 Man muss allerdings gar nicht so weit an den rechten Rand schauen, um autoritäre Tendenzen feststellen zu können. Es reicht eine genauere Betrachtung der Akteur:innen in der Kriminalpolitik.

Im Politiklexikon von Schubert & Klein wird unter dem Begriff “autoritär” eine sozialpsychologische Bezeichnung für menschliche Charaktere verstanden, die sich durch ausgeprägtes Überlegenheitsgefühl, überzogenen Machtanspruch und das Unterwerfen Schwächerer auszeichnen und dadurch Intoleranz, Dogmatismus und Unfreiheit fördern.2 Kennzeichnend für autoritäre Kräfte ist damit insbesondere ein harter kompromissloser Führungsstil und die Demonstration von Stärke.

Die Kriminalpolitik erfreut sich bei ihnen besonderer Beliebtheit. Doch woran liegt das? Hinter dem Begriff Kriminalpolitik steht die Prävention und Kontrolle von Kriminalität. Sie entscheidet über die Strafbarkeit devianten Verhandelns in einer Gesellschaft und über das Ob und Wie des Einsatzes von Strafrecht und damit über den Umgang mit Kriminalität.3 Ziel ist die Herstellung von Sicherheit, die stets in einem Spannungsverhältnis zur Freiheit steht.

In diesem kann die Demonstration von Stärke besonders gut unter Beweis gestellt werden. Es reicht bereits eine scharfe law & order Rhetorik, um sich im “Kampf gegen Kriminelle” als durchsetzungsstark darzustellen. Die Eigenart des Kriminalitätsthemas bei schweren Straftaten Emotionalität zu erzeugen und das Zusammenspiel zwischen Politik und Medien begünstigen ein Bedürfnis nach Sicherheit in der Gesellschaft. Im Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und vermeintlich sicherheitsorientierter Politik gewinnt Letztere kontinuierlich an Boden.4

Dabei nutzen die law & order Vertreter:innen ein bestimmtes System. Am Anfang steht eine schwere Straftat, über die überregional berichtet wird. Die Politik nutzt den Einzelfall, um dann ein kriminogenes Phänomen künstlich hervorzurufen. Ganz der journalistischen Weisheit verpflichtet: „schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“ berichten die Medien über das vermeintliche Kriminalitätsproblem und nutzen dieses als gewinnbringende Information. Von der Politik wird die provozierte Debatte aufgenommen und die vermeintlich schnelle Lösung bereitgehalten. Durch konsequentes politisches Handeln wird der Bevölkerung ein Sicherheitsgefühl versprochen.5

Scheerer hat diesen Vorgang schon 1978 als „politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf“ bezeichnet.6 Was von diesem Aktionismus meist übrig bleibt sind freiheitseinschränkende Maßnahmen, wie Strafrechtsverschärfungen und ein permanenter Ausbau von Überwachungs-, Eingriffs- und Zwangsbefugnissen für die Polizei.7 Die kriminalpräventive Wirkung dieser Maßnahmen ist fraglich.

Dass mit der Dramatisierung von und dem Umgang mit Kriminalität Politik gemacht wird, hat auch der Kriminologe Simon mit seinem Modell des „Governing Through Crime“ belegt.8 Er bezeichnet das Regieren mittels Kriminalität als eine spezifische Art der Machtausübung, die darin besteht, über Kriminalität und über Kriminalisierungen sowie der sie begleitenden Diskurse effektiv auf die Bevölkerung einzuwirken. Das Thema Kriminalität wird so zu einer polit-strategischen Angelegenheit. Wenn die Entscheidungen der Menschen, z.B. darüber, wo sie in einer Stadt leben und wo sie in ihrer Freizeit hingehen möchten, von der Wahrnehmung der Kriminalität beeinflusst werden, entsteht ein dauerhaftes Bedürfnis nach Sicherheit. Eine Politik, die vermeintliche Sicherheit verspricht, gewinnt dann Wähler:innenstimmen und sichert so den Machterhalt.9

Im Vordergrund kriminalpolitischen Wirkens steht bei vielen Akteur:innen also die Dramatisierung der objektiven Sicherheitslage zum Machterhalt oder -erlangung. Im Wetteifern um den Sheriff-Stern gewinnt die politische Kraft, die „tougher on crime“ als die anderen ist. Obwohl in der kriminologischen Forschung im Hinblick auf die Strafeinstellung der Bevölkerung in Deutschland keine eindeutige punitive Wende festgestellt werden konnte,10 scheinen law & order Positionen politischen Erfolg zu versprechen.

Dies gilt auch für die demokratischen Parteien der Mitte. Sie alle – in unterschiedlicher Ausprägung – ringen um die Deutungshoheit einer durchsetzungsstarken Kriminalpolitik, die Kriminalität „bekämpft“. Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte nach Ausschreitungen in der Silvesternacht 2024/25 „volle Härte gegen Chaoten und Gewalttäter“.11 Der vormalige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) begrüßte die Abschiebung afghanischer Straftäter und der Generalsekretär der CDU Carsten Linnemann schlug vor, Menschen in Deutschland nach zwei Straftaten das Aufenthaltsrecht zu entziehen.12 Dass sich auch die prominentesten Akteur:innen aus der politischen Mitte “tough on crime” präsentieren ist spätestens klar geworden, seit dem Olaf Scholz, zu diesem Zeitpunkt Bundeskanzler, mit dem Satz „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ auf dem Spiegel-Cover abgebildet wurde.13

Dieser breite Konsens der Parteien für law & order Positionen begünstigt eine autoritäre Kriminalpolitik, die immer weniger Raum für liberale und linke Perspektiven lässt. Im Ergebnis bleiben freiheitseinschränkende Maßnahmen. Die Suche nach evidenzbasierten Lösungen für tatsächliche kriminogene Probleme wird verdrängt, wie die nachfolgenden exemplarisch aufgeführten Beispiele zeigen sollen.

Straftaten von Kindern

Nahezu schon reflexartig wird nach schweren Straftaten durch Täter:innen unter 14 Jahren die Forderung erhoben, das Strafmündigkeitsalter von 14 Jahre auf 12 Jahre zu senken.14 In der CDU hat diese Forderung prominente Vertreter.15 Die Argumente, die ins Feld geführt werden, um das vermeintliche Problem der immer jüngeren Täter:innen zu begründen, sind immer dieselben und allesamt in der Wissenschaft widerlegt:16 die Häufigkeit und Intensität von durch Kindern verübter Gewaltdelinquenz habe zugenommen, diese wüssten um die Strafmündigkeitsgrenze und würden diese „ausnutzen“, die geistige und sittliche Reife sei heute früher erreicht und außerdem ginge von einer früheren Strafmündigkeit eine abschreckende Wirkung aus.

Schwerste Straftaten wie Mord oder Vergewaltigung sind eine absolute Ausnahme in der Jugendkriminalität und jugenduntypisch. Im Gesamtaufkommen der Straftaten machen sie bei Kindern nur einen geringen Anteil aus (Tötungsdelikte 2023: 0,72 %, Vergewaltigung 2023: 1,08 %).17 Das Niveau bleibt im Langzeitvergleich stabil.

Auch für das Argument der früheren geistigen und sittlichen Reife gibt es keine empirischen Belege. Das Gegenteil scheint eher der Fall zu sein. Zum einen führen die immer schwieriger werdende Orientierung – ausgelöst durch eine größere Vielfalt an Wertstrukturen und den Einfluss außerfamiliärer Institutionen – und vor allem die komplexen Anforderungen der hochdifferenzierten Leistungsgesellschaft an den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zu immer längeren Ausbildungszeiten und damit auch zu immer späterer Ablösung vom Elternhaus und sozialer und ökonomischer Unabhängigkeit. Der charakterliche und soziale Entwicklungsabschluss wird so weiter hinausgeschoben. Daher ist eher eine spätere, denn eine frühere Reifung im Vergleich mit den Dekaden zuvor anzunehmen.18 Auch die Befunde aus der Neurowissenschaft zeigen, dass ein erhöhtes Risikoverhalten in der Adoleszenz charakteristisch ist. Die geistige Entwicklung ist nämlich in der Regel erst im Alter von etwa 25 Jahren abgeschlossen.19

Auch die Annahme einer abschreckenden Wirkung der Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze trägt nicht. Diese ist bei strafrechtlichen Sanktionen insgesamt sehr fraglich, insbesondere bei Kindern.20 Denn sie würde nicht nur voraussetzen, dass diese vor der Tat tatsächlich ein Kosten-Nutzen-Kalkül anstellen, in das sie die möglichen Sanktionen aufgrund einer geringen Strafmündigkeitsgrenze als Kosten einstellen, sondern auch, dass Sie überhaupt um diese möglichen Kosten wissen. Beides scheint bei den meisten Kindern ausgeschlossen.


Ein abschließender Blick in andere europäische Länder bestätigt die derzeitige Altersgrenze. Der Mittelwert des Strafmündigkeitsalters liegt in Europa bei 14 Jahren.21

Die Strafmündigkeitsgrenze aufgrund dieser allesamt wissenschaftlich nicht haltbaren Argumente zu senken, würde zu weitreichenden Konsequenzen für eine Vielzahl an delinquenten Kindern führen, die wegen leichter Bagatellen (kleine Diebstähle, Sachbeschädigung, die im Prozess einer erfolgreichen Entwicklung normal sind)22 in das Strafjustizsystem einbezogen würden. Damit bestünde die Gefahr, die Kleinsten in unserer Gesellschaft mit dem Strafrecht zu stigmatisieren und zu etikettieren und ihnen so die Chancen auf einen normalen Lebensweg zu erschweren. Der sog. “Kampf gegen kriminelle Kinder” eignet sich daher überhaupt nicht, den eigenen autoritären Politikstil unter Beweis zu stellen.

Fahren ohne Fahrschein

Abolitionistische Gedanken sind unvereinbar mit einer autoritären Politik. Wer Stärke und ein hartes Durchgreifen propagiert, streicht keine Straftatbestände. Dabei fordert die Wissenschaft seit Jahrzehnten die Entkriminalisierung der Beförderungserschleichung.23 Weder rot-grün oder schwarz-rot, noch schwarz-gelb oder die Ampel konnten sich auf eine Streichung der Beförderungserschleichung aus dem Strafgesetzbuch einigen. Das unterstreicht den gefestigten Einzug von law & order in die Parteien der demokratischen Mitte.24 Ein Blick in den neuen Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD nimmt auch die Hoffnung für die kommende Legislaturperiode.

Kein anderer Straftatbestand hat eine so hohe diskriminierende Wirkung wie § 265a StGB. Dieser trifft überproportional Menschen in prekären Lebenslagen, ist es doch einleuchtend, dass wohlhabendere Menschen auf den Individualverkehr zurückgreifen können. Die Menschen, die wegen Schwarzfahrens verurteilt wurden und die Geldstrafe nicht zahlen (können),25 müssen häufig eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Mit anderen Worten: sie müssen wegen Nutzung des ÖPNV ohne Ticket ins Gefängnis. Dabei liegt die Schadenshöhe in 63,5 % der Fälle unter 15,00 EUR,26 was den geringen Unrechtsgehalt des Fahrens ohne Fahrschein unterstreicht.

Circa ein Viertel aller Ersatzfreiheitsstrafen in Deutschland gehen auf das Schwarzfahren zurück.27 Der Großteil dieser Menschen ist arbeitslos und suchtkrank. Jeder fünfte Betroffene hat keinen festen Wohnsitz.28 Der Gefängnisaufenthalt ist meist so kurz, dass Angebote aus Aus- und Weiterbildung nicht zur Verfügung gestellt werden können. Haben die Menschen die Geldstrafe abgesessen, werden sie mit der Gefahr einer erneuten Verurteilung entlassen. Eine Entkriminalisierung ist aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht dringend geboten. Eine dafür notwendige Abkehr von der law & order Haltung der Parteien der politischen Mitte ist aktuell jedoch unwahrscheinlich.

Gewalt gegen Polizeikräfte

Von der Politik stets verurteilt wird Gewalt gegen Polizeibeamt:innen. Nach Einzelfällen folgt schnell die Forderung nach Strafschärfungen. SPD und FDP legten nach Ausschreitungen in der Silvesternacht 2024/25 in Rekordtempo einen entsprechenden Gesetzentwurf vor.29 Diese Symbolpolitik hat keinen messbaren Effekt. Es gilt als ein gesicherter empirischer Befund, dass die meisten Gewalttäter:innen aus dem Affekt handeln und über die Strafhöhe eines Angriffs überhaupt nicht nachdenken Die kostenlose Strafschärfung eignet sich jedoch, um ein hartes Durchgreifen und “Null Toleranz” zu demonstrieren. Ein Angriff auf Polizeikräfte wird als Angriff auf die Autorität des Staates selbst gewertet und daher als besonders verwerflich angesehen.30

Der Widerstandsparagraph im StGB war ursprünglich mal als Privilegierung mit geringerem Strafmaß gedacht, um der besonderen Belastungssituation von Bürger:innen, die einer Vollstreckungshandlung ausgesetzt sind, gerecht zu werden. Heute ist er auf Druck der Polizeigewerkschaften in sein Gegenteil verkehrt worden und ist Sonderparagraph, der ohne sachlichen Grund Polizeibeamt:innen besser stellt. Hinzu kommt, dass dieser von den Staatsanwaltschaften auf politischen Druck der Justizministerien strenger verfolgt wird, als z.B. Gewalt durch Polizeibeamt:innen. Von möglichen Einstellungsmöglichkeiten aus Opportunitätsgründen sollen die Staatsanwaltschaften bei Widerstandshandlungen regelmäßig keinen Gebrauch machen.31 Obwohl schon etwas zu viel Körperspannung ausreichen kann, damit eine Interaktion mit der Polizei als Widerstand oder Angriff gewertet wird. Dies führt regelmäßig zu verfälschten Lagebildern, die Innenministerien veröffentlichen, um das vermeintliche Ausmaß der Gewalt gegen Polizeikräfte zu belegen

Nicht zuletzt wird damit auch eine stetige personelle und materielle Aufrüstung der Polizei gerechtfertigt. Prominentes Beispiel ist die flächendeckende Einführung von sog. Distanzelektroimpulsgeräten (Taser), obwohl Studien zeigen, dass die Verwendung von Tasern durch die Polizei nach Einführung kontinuierlich steigt und diese vermehrt gegen Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und BiPoC eingesetzt werden.32 Dass Sondereinsatzkommandos in Ausnahmesituationen über so eine Waffe verfügen, ist nachvollziehbar. Dass aber jede:r Streifenpolizist:in eine zusätzliche Waffe mit 50.000 Volt im Alltag mit sich führen soll, ist beunruhigend.

Vorratsdatenspeicherung

Eine weitere seltsame Blüte treibt die aktuelle Kriminalitätspolitik in Form der Wiederauferstehung der Debatte über die Vorratsdatenspeicherung (VDS).33 Diese ist heute umso kritischer zu betrachten, da nicht mehr nur PCs und Mobiltelefone, sondern eine stetig steigende Zahl weiterer Endgeräte unmittelbar mit dem Internet verbunden ist (z.B. Tablets, Wearables, Smarthome- und IOT-Geräte, Kfz).

Der EuGH hatte bereits 2014 die VDS grundsätzlich für unzulässig erachtet, wobei er Raum für Ausnahmen bei der Bekämpfung schwerer Straftaten oder der Bedrohung der nationalen Sicherheit einräumte.34 Im Jahr 2022 hat der EuGH diese Linie für die deutsche Ausgestaltung der VDS bestätigt.35 Zwar kann man eine Entscheidung aus 2024 derart deuten, dass eine anlasslose Speicherung von IP-Adressen grundsätzlich mit EU-Recht vereinbar wäre,36 die Hürden sind allerdings zum Schutz des Privatlebens vor Sicherheitsbehörden sehr hoch.

Diese Anforderungen an die VDS in der Praxis umzusetzen, dürfte schwerlich möglich sein, was auch das BMJ 2024 unter Justizminister Marco Buschmann (FDP) erkannte.37 Zudem stellte es klar: “Auch die massenhafte Speicherung von IP-Adressen ist eine pauschale Überwachungsmaßnahme. Selbst wenn sie rechtlich möglich wäre, heißt das nicht, dass sie auch politisch richtig ist.” Konsequent sprach sich das BMJ daher für das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren aus.38

Unverständnis ruft daher der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD hervor, in welchem sich die Parteien auf eine umfassende dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen geeinigt haben. Das Pendel scheint wieder in Richtung mehr Überwachung um jeden Preis auszuschlagen, unabhängig von rechtsstaatlichen Bedenken und ermittlungstechnischer Notwendigkeit. Mit der VDS wird ein Mehr an Sicherheit versprochen, obwohl bis heute Zweifel bestehen, ob das Instrument überhaupt zur Steigerung der Aufklärungsquote geeignet ist.39

Chatkontrolle statt sicherer Kommunikation

Eine Ausweitung der digitalen Überwachung droht auch in Form des aktuellen EU-Gesetzgebungsvorhaben gegen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, insbesondere bei Messenger-Diensten (“Chatkontrolle”). Primär soll die Chatkontrolle der Bekämpfung von Kinderpornographie dienen. Dabei steht das Gesetzesvorhaben selbst bei Kinderschutzorganisationen in der Kritik, wobei bereits die Geeignetheit im Allgemeinen angezweifelt wird.40 Obwohl unter IT-Expert:innen,41 betroffenen Technologieunternehmen42 und Bürgerrechtsorganisationen43 gleichermaßen der Konsens herrscht, dass die Technik ein Grundpfeiler der sicheren und privaten digitalen Kommunikation ist, strebt die EU-Kommission trotz jahrelanger intensiver öffentlicher Debatte weiterhin eine Verordnung an, welche die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung faktisch aushebeln würde. Dabei war es gerade diese Art der besonders sicheren Verschlüsselung, für deren Einführung sich Verbraucherschutz-, Bürgerrechtsorganisationen sowie Teile der Politik vor rund 10 Jahren, zum Beispiel beim Messenger-Dienst WhatsApp, massiv eingesetzt haben. Es ist dieser Mechanismus, welcher es unabhängigen Journalist:innen und Anwält:innen ermöglicht, in Ländern mit fehlendem Rechtsstaat und despotischen Regimen sicher zu kommunizieren und sich zivilgesellschaftlich zu organisieren. Auch vor dem Hintergrund der Snowden-Affäre und dem Zusammenwirken von US-Technologieunternehmen und US-Geheimdiensten gilt die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung als große Errungenschaft, da grundsätzlich nicht einmal der Anbieter des Messenger-Dienstes auf die Nachrichten zugreifen kann. Die Vertraulichkeit der Individualkommunikation und der Schutz der eigenen personenbezogenen Daten sind Teil der Privatsphäre und zentrale Elemente des liberalen Rechtsstaats, welche unter anderem in Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta geschützt sind. In der EU war die Aufregung über die durch Edward Snowden publik gemachten Praktiken groß. Dass nun ausgerechnet dieselbe EU gegen eines der wenigen effektiven Mittel zur effektiven Verschlüsselung digitaler Kommunikation kämpft, ist Zynismus.

Fazit

Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist die Kunst demokratischer Innen- und Justizpolitik. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, läuft die deutsche Politik der Mitte aktuell Gefahr, diese Balance zu verlieren, zwecks Erhalt der eigenen Macht. Sie läuft Gefahr in Richtung autoritärer Trugbilder zu straucheln, die vermeintliche Sicherheit versprechen, und dabei Errungenschaften des liberalen Rechtsstaates umzuwerfen. Die Bürger:innen müssen zulasten ihrer individuellen Freiheiten immer schärfere Maßnahmen hinnehmen. Das betrifft umso mehr die Schwächeren in unserer Gesellschaft, wie Kinder auf deren Rücken ein harter Kampf gegen Jugendkriminalität ausgefochten wird oder Mittel- und Wohnungslose, die für Bagatelldelikte ins Gefängnis müssen. Aber auch die Mitte der Gesellschaft soll durch neue ausufernde digitale Überwachungsmaßnahmen unter Generalverdacht gestellt werden. Es ist ungewiss, ob eine Politik, die nach harter Hand des Staates und autoritären Maßnahmen ruft, die Strafgesetze verschärft, die Polizei überrüstet und ihre Bürger:innen überwacht am Ende nur einen Wohnungseinbruch, eine Sexualstraftat oder einen Terroranschlag verhindert. Sicher ist aber, dass sie den liberalen Rechtsstaat, die Demokratie und die Gesellschaft beschädigt. “Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren”, sprach einst Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika vor fast 250 Jahren – und dennoch ist seine Warnung aktueller denn je.

  1. Fritz Reusswig / Beate Küpper / Maike Rump: «Propagandafeld. Klima.» In: Andreas Zick, Beate Küpper [Hrsg.]: Die geforderte Mitte – Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland. Bonn 2021, S. 262-282.
  2. Klaus Schubert / Martina Klein: Das Politiklexikon, Bonn 2020.
  3. Karl-Ludwig Kunz / Tobias Singelnstein: Kriminologie, Bern 2016, S. 378.
  4. Für die stetige Ausweitung des StGB siehe Johanna Nickels: «Always More and Never Enough? An Analysis of Trends in Criminal Legislation in France and Germany Since 1995» In: Drenkhahn / Jobard / Singelnstein (Hrsg.), Impending Challenges to Penal Moderation in France and Germany, S. 169-190; ähnlich und den weiteren Bereich der kriminalpolitischen Gesetzgebung analysierend Georg Wenzelburger / Helge Staff: «German Exceptionalism? An Empirical Analysis of 20 Years of Law and Order Legislation» In: Politics & Policy 44, 2016, S. 319-250.
  5. Siehe auch Frank Nobis: «Strafrecht in Zeiten des Populismus» In: Strafverteidiger (38) 7, 2018, S. 453-458.
  6. Sebastian Scheerer: «Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf. Zur Beeinflussung der Massenmedien im Prozeß strafrechtlicher Normgenese» In: Krim Journal, 1978, S. 223-225.
  7. Siehe Fn. 4.
  8. Seinen Ursprung findet das Modell in den US-amerikanischen Wahlkämpfen der 1980er Jahre. Die Polizei sollte mit aller Härte des Rechtsstaates selbst gegen kleinste Vergehen vorgehen. In New York erlangte diese Strategie unter dem Stichwort „Zero-Tolerance“ traurige Berühmtheit. Zum Begriff „Zero-Tolerance“ siehe Andrea Böhm: «Der “US-Cop” – dein Freund und Verfolger. New Yorks Polizeikonzept: “Null-Tolerance” und “marktorientiertes Denken”.» In: Gunther Dreher / Thomas Feltes (Hrsg.) Das Modell New York: Kriminalprävention durch “Zero Tolerance”? Holzkirchen, 1998, S. 100-102.
  9. Vgl. nur Jonathan Simon: «Governing Through Crime» Oxford 2009.
  10. Kirstin Drenkhahn / Johanna Nickels / Fabien Jobard / Benedicte Laumond / Tobias Singelnstein / Elena Zum-Bruch / Julia Habermann / Matthias Michel / Lukas Huthmann: «Zum Stand der Punivitätsforschung in Deutschland und darüber hinaus» In: KriPoZ (2) 2020, S. 104-107.
  11. https://www.derwesten.de/politik/spd-nancy-faeser-silvester-strafen-id301291198.html (02.05.2025).
  12. https://www.welt.de/politik/deutschland/article253270200/Scholz-und-Habeck-begruessen-Abschiebeflug-nach-Afghanistan.html; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/cdu-migration-merz-linnemann-syrien-abschiebung-100.html (02.05.2025). Für mehr Beispiele siehe Maximilian Pichl: «Law statt Order» Berlin 2024, S. 13.
  13. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/olaf-scholz-ueber-migration-es-kommen-zu-viele-a-2d86d2ac-e55a-4b8f-9766-c7060c2dc38a (27.04.2025).
  14. Beispielhaft https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/strafmuendigkeit-kinder-100.html (14.05.2025).
  15. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/carsten-linnemann-cdu-generalsekretaer-will-strafmuendigkeit-ab-zwoelf-jahren-a-3fed97c5-6a52-4eac-aaf6-f86d491aa963; https://www.tagesspiegel.de/politik/gewalttaten-von-kindern-nrw-innenminister-fordert-debatte-uber-fruhere-strafmundigkeit-11477489.html (13.05.2025).
  16. Vgl. nur Julian Knop / David Zimmermann: «Alle Jahre wieder: Wider die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze – ein Zwischenruf» In: Zeitschrift für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, 34 (2) 2023, S. 172-174.
  17. Eigene Berechnungen nach BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 2024.
  18. Jan Dehne-Niemann: «Wider die Schaffung eines Kinderstrafrechts durch Streichung der Strafuntergrenze des § 19 StGB» In: Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, 21(7) 2020, S. 295-301.
  19. Zusammenfassend Frieder Dünkel / Bernd Geng / Daniel Passow: «Erkenntnisse der Neurowissenschaften zur Gehirnentwicklung (“brain maturation”) – Argumente für ein Jungtäterstrafrecht» In: Zeitschrift für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, 28 (2) 2017, S. 123-129.
  20. Siehe nur Jana Thomas: «Zur abschreckenden Wirkung von Strafe: eine Untersuchung der Sanktionswirkung auf junge Straftäter» Dissertation. Universität Kiel, 2014, S. 147 f.
  21. Übersicht bei Frieder Dünkel: «Internationale Tendenzen des Umgangs mit Jugendkriminalität» In: Bernd Dollinger / Henning Schmidt-Semisch (Hrsg.) Handbuch Jugendkriminalität, Wiesbaden 2018, S. 89-118.
  22. Klaus Boers: «Delinquenz im Altersverlauf» In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 102 (1) 2019, S. 3-42.
  23. Zusammenfassend Roland Hefendehl in Münchener Kommentar zum StGB 2022, § 265a StGB.
  24. Vgl. Maximilian Pichl: «Law statt Order» Berlin 2024, S. 65 f.
  25. Der Anteil für Mobilität am Bürgergeld beträgt 8,97 %. Das sind umgerechnet 45,00 EUR. Das Deutschlandticket kostet derzeit 59,00 EUR.
  26. Eigene Berechnungen nach BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 2023, Tab. 07.
  27. Nicole Bögelein et al. 2019, S. 282.
  28. Lobitz / Wirth 2019, S. 23.
  29. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nancy-faeser-und-volker-wissing-fordern-nach-silvester-gewalt-harte-strafen-a-4ecc37f4-db78-41f1-8455-7dd526b6086e (10.05.2025).
  30. Maximilian Pichl: «Law statt Order» Berlin 2024, S. 97.
  31. https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2025/04/wie-polizistinnen-vor-dem-gesetz-besser-gestellt-werden/ (14.05.2025).
  32. IOPC, Review of IOPC cases involving the use of Taser 2015-2020, S. 7 ff.
  33. Als Vorratsdatenspeicherung wird die allgemeine, anlasslose und unterschiedslose Speicherung von Internet- und Telefonverbindungsdaten auf Vorrat bezeichnet.
  34. EuGH Urt. v. 6.10.2020, C‑623/17.
  35. EuGH Urt. v. 20.09.2022, C-793/19, C-794/19.
  36. EuGH Urt. v. 30.04.2024, C-470/21.
  37. BMJ Infopapier Quick-Freeze-Verfahren, Oktober 2024 (abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetzgebung/Dokumente/Infopapier_Quick_Freeze_Verfahren.pdf?__blob=publicationFile).
  38. Dabei handelt es sich um eine konkrete Einzelfallmaßnahme unter Richtervorbehalt, die gegenüber der anlasslosen Massenüberwachung durch die VDS einen höheren Schutz von Persönlichkeitsrechten und der Privatsphäre gewährt.
  39. Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Schutzlücken nach dem Wegfall der Vorratsdatenspeicherung (abrufbar unter: https://static.mpicc.de/shared/data/pdf/schutzluecken_vorratsdatenspeicherung_12.pdf).
  40. Netzpolitik, Das sagen Kinderschutz-Organisationen zur Chatkontrolle, (abrufbar unter https://netzpolitik.org/2022/massenueberwachung-das-sagen-kinderschutz-organisationen-zur-chatkontrolle/).
  41. Beispielhaft: Pressemitteilung der Gesellschaft für Informatik (abrufbar unter: https://gi.de/meldung/ende-zu-ende-verschluesselung-in-gefahr); Offener Brief von 50 zivilgesellschaftlichen Organistion, unter anderem dem EDRi (abrufbar unter: https://edri.org/wp-content/uploads/2024/04/48-NGOs-and-26-experts-warn-Mass-surveillance-and-undermining-encryption-still-on-table-in-EU-Council.pdf).
  42. Beispielhaft: Grundsatzerklärung des Bitkom zur Verschlüsselung des Branchenverbands BITKOM (abrufbar unter: https://www.bitkom.org/sites/main/files/2020-12/201211_pp_bitkom_grundsatzerklarung-verschlusselung_0.pdf).
  43. Beispielhaft: Überblick der Gesellschaft für Freiheitsrechte, (abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/themen/freiheit-im-digitalen/chatkontrolle).