Editorial: Raus aus der Hochschule – hinein in eine bessere Welt!

Von Lina-Marie Eilers, Hendrik Küpper, Laura Clarissa Loew

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Der französische Philosoph Paul Virilio hat den Begriff und die Denkfigur des «rasenden Stillstands» geprägt.^1 Die Welt befindet sich demnach in einer permanenten Beschleunigungslogik und dennoch geht kaum etwas voran. Auch Hartmut Rosa analysiert in seinen Werken, wie sich die soziale Beschleunigung im Anschluss an die technische Beschleunigung vollzieht und dadurch das Gefühl von permanenter Zeitknappheit sowie gestörte Resonanz- und Weltverhältnisse resultieren.^2 Zudem haben sich in jüngster Zeit Alexandra Schauer und Teresa Bücker in ihren Büchern ebenfalls auf sehr unterschiedliche Weise mit Dynamisierungstendenzen moderner und spätmoderner Gesellschaften sowie den daraus resultierenden Folgen für unser Zeitbewusstsein und die gerechte Verteilung von Zeit beschäftig.^3 Die Zeit scheint, zumal derzeit eine Krise auf die andere folgt und mit ChatGPT, ein Chatbot, der Deep-Learning-Prinzipien anwendet und der von OpenAI entwickelt wurde, die technische Entwicklung erneut auf den nächsten Stand angehoben sowie damit weiter beschleunigt wird, zu einer zentralen Kategorie politischer Theorie und Praxis zu werden. Die Gesellschaft kann sich demnach scheinbar nur im Prozess der Dynamisierung stabilisieren, wodurch existenzielle Krisen entstehen oder sich weiter zuspitzen. Diese Beschleunigungslogik verlangt eine Auseinandersetzung mit systemischen Imperativen, eine umfassende Analyse der Gesellschaft und des Kapitalismus, in dem die Beschleunigungslogiken angelegt sind, sowie daraus abgeleitete Konsequenzen für das politische Handeln. 

Umso schöner ist, dass wir in und mit dieser Ausgabe den 50. Geburtstag der Juso-Hochschulgruppen feiern dürfen, was einerseits natürlich einen Gegenpol zur Schnelllebigkeit unserer Zeit darstellt und andererseits durch die Verbandsgeschichte begründet ermöglicht, Gesellschaft und Kapitalismus kritisch zu reflektieren. Denn die Juso-Hochschulgruppen, deren inhaltliche und personelle Nähe zur Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V. seit Vereinsgründung in wechselhafter Intensität besteht, prägt seit ihrer Gründungszeit bis heute das folgende Selbstverständnis: «Wir wollen nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern aus der Kritik der alten Welt die neue finden!» Zierten diese Worte vor etwa einem halben Jahrhundert ein Wahlkampfplakat der Juso-HSG Göttingen, so finden sie sich heute im aktuellen Arbeitsprogramm der Juso-Hochschulgruppen wieder. Ein Leitspruch also, der die ereignisreiche Geschichte der Juso-Hochschulgruppen seit ihrer Gründung begleitet: Am 18. März 1973 trafen sich die Juso-Hochschulgruppen der Universitäten Saarbrücken, Gießen, Hohenheim, Hannover und Köln zu einem gemeinsamen Seminar in Saarbrücken, das seither als das Gründungstreffen der Juso-Hochschulgruppen gilt. Kurze Zeit später wurden die Juso-Hochschulgruppen Nachfolgerin von SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und SHB (Sozialdemokratischer bzw. Sozialistischer Hochschulbund) als Studierendenverband der Jusos und der SPD und in der Folge zu einem der größten Studierendenverbände in der Bundesrepublik. 1991 erfolgte die Vereinigung mit dem BSDS (Bund sozialdemokratischer Studierender), der 1989 im Zuge der «friedlichen Revolution» in der DDR entstanden war. Aktuell sind die Juso-Hochschulgruppen an über 80 Universitäten und Fachhochschulen in Ost und West präsent und eine konstante Größe in der hochschulpolitischen Szene.^4

Gründe gibt es also genug, um in einer Sonderausgabe die Geschichte der Juso-Hochschulgruppen zu beleuchten und zukunftsgerichtet zu fragen: Was bedeuten ihre Grundwerte Sozialismus, Feminismus und Internationalismus eigentlich heute noch? Wie müssen sich Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftspolitik ändern, damit Emanzipation, Partizipation und soziale Gerechtigkeit nicht bloß leere Worthülsen bleiben? Und wie muss das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft gestaltet werden, damit der Aufbruch aus der Kritik der alten Welt hinein in eine bessere gelingen kann?

Den Auftakt macht Karl Marx höchstpersönlich, der wiederbelebt durch die AI und Chat-GPT ein Grußwort an die Juso-Hochschulgruppen richtet. Darauf folgen nach einem Beitrag zur Geschichte der Juso-Hoschulgruppen von Martin Gorholt und Malte Ristau zwei Reflektionen der SPD-Politikerinnen Kerstin Griese und Wiebke Esdar. Sie berichten auf persönliche Weise von ihrem Weg über die Juso-Hochschulgruppen zur Berufspolitik und ordnen die Rolle der HSGn historisch und gesellschaftlich ein. Auch Alexandra Ortman gratuliert den Juso-Hochschulgruppen mit einem Beitrag, der auf die gesellschaftliche Relevanz er Juso-Hochschulgruppen eigeht.  Daraufhin werden die drei Grundwerte der Juso-Hochschulgruppen von drei Ebenen aus beleuchtet. Zunächst kommen jeweils drei ausgewiesene ExpertInnen aus Theorie und Wissenschaft – Christian Krell, Koschka Linkerhand und Bernd Rother –  zu den Bereichen Sozialismus, Feminismus und Internationalismus zu Wort. Diese drei Säulen des Verbands werden jeweils durch drei von aktuellen Bundesvorstandsmitgliedern verfasste Verbandsperspektiven sowie durch drei aktuelle Anwendungsbeispiele komplettiert. Der Sozialismusteil wird zudem durch einen Beitrag von Klaus-Jürgen Scherer zum Ökosozialismus ergänzt. Weiterhin sind zahlreiche Reflektionen und Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen der Hochschul- und Wissenschaftspolitik Teil dieser Ausgabe. Ergänzt wird der Schwerpunkt durch einen zu den aktuellen Themen passenden Artikel aus wissenschaftlicher Perspektive von Ralf und Kira Ludwig, die sich früher ebenfalls sehr aktiv im Kontext der Jusos und Juso-Hochschulgruppen engagiert haben.

Besonders auffällig ist, dass sich einige Aspekte als roter Faden durch die Beiträge ziehen, anhand derer sich die Leitlinien der spezifischen HSG-Perspektive auf sozialistische Theorie und Hochschulpolitik erkennen lassen. Erstens wird immer wieder Kritik am Neoliberalismus als herrschender gegenwärtiger Ideologie und der Verantwortungsübertragung auf das Individuum geäußert, wenngleich sich zweitens sehr deutlich von einer verkürzten, simplifizierenden Kapitalismuskritik distanziert wird, die schnell in verschwörungsideologische und antisemitische Reflexe umschlagen kann, wenn sie sich auf individualistische Schuldzuschreibungen und ein manichäisches Weltbild reduziert.  Drittens spiegelt sich diese Positionierung gegen einfache Schwarz-Weiß-Zeichnungen auch in internationalistischer Hinsicht wider, wird doch plump-antiimperialistischen Trugschlüssen einer denkfaulen Linken eine differenzierte Auseinandersetzung mit globalen Machtverhältnissen entgegengesetzt.  Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass viertens das wechselseitige Verhältnis von Theorie und Praxis anerkannt wird und die Grundlage der Reflektionen bildet. Insofern ist, wie auch sonst in den «Jungen Perspektiven», das Leitbild der Beiträge kritische Wissenschaft in der Tradition des demokratischen Sozialismus, die die Welt als unvernünftig eingerichtet begreift, zugleich aber die Stränge des gelungenen Lebens und der politischen Restvernunft in ihr zu verteidigen sucht, wofür die Konstellation von Theorie, Text und Praxis unerlässlich ist. Zur Verteidigung der politischen Restvernunft gehört natürlich fünftens auch, dass eine postmoderne Verblendung zugunsten emanzipatorischer Bestrebungen und gesamtgesellschaftlicher Reflexion vermieden wird. Damit ist dieses Kompendium ein Ergebnis, das zum Weiterdenken einlädt und das eine der Grundlagen für die vom 16.-18. Juni 2023 im Willy-Brandt-Haus in Berlin stattfindenden Jubiläumsfeierlichkeiten der Juso-Hochschulgruppen darstellt, zu dem wir auch in ihrem Namen an dieser Stelle herzlich einladen möchten. Im Rahmen der Feierlichkeiten sollen nicht nur die Geschichte der Juso-Hochschulgruppen und aktuelle Debatten beleuchtet werden. Am Sonntag soll zudem der Startschuss in eine neue Auseinandersetzung mit sozialistischer Theorie und Praxis gegeben werden. 

Für die Struktur und die Ausrichtung dieser Ausgabe der «perspektivends – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik» folgt daraus, dass der Bundesvorstand und die Bundesgeschäftsführung der Juso-Hochschulgruppen eng in die Planung miteinbezogen wurden und die «Jungen Perspektiven» dieses Mal den umfangreicheren Schwerpunkt, zu dem ebenso sind die Rezensionen von Daryoush Danaii und Hendrik Küpper sowie der Bericht von Madita Lachetta gezählt werden können, betreut und konzipiert haben. Lina-Marie Eilers war als Bundesvorstandsmitglied zudem diesmal gleichrangiges Mitglied des Redaktionsteams der «Jungen Perspektiven». An dieser Stelle gilt unser Dank dem Vorstand der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V., der uns diese gestalterischen Freiräume ermöglicht hat. 

Zum Abschluss darf im Jahr 2023 aber eine Sache nicht fehlen. Wir haben Chat-GPT gebeten, ebenfalls ein Editorial zu verfassen. Unser Arbeitsauftrag lautete am 6. Mai: «Chat GPT – schreibe 1000 Zeichen dazu, wie Du ein Editorial für eine Jubiläumsausgabe zu 50 Jahren Juso-Hochschulgruppen verfassen würdest. Gehe dabei auf die Verdienste der Juso-Hochschulgruppen im sozialistischen Kampf ein und prognostiziere, welche Rolle sie in der Zukunft spielen werden.»

Die Antwort lautete: 

«Liebe Leserinnen und Leser,

vor 50 Jahren, im Jahr 1973, wurden die ersten Juso-Hochschulgruppen in Deutschland gegründet. Seitdem haben sie sich zu einer wichtigen Stimme in der linken Bewegung entwickelt. In dieser Jubiläumsausgabe möchten wir die Verdienste der Juso-Hochschulgruppen im sozialistischen Kampf würdigen und eine Prognose über ihre Rolle in der Zukunft wagen.

In den letzten 50 Jahren haben die Juso-Hochschulgruppen eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung junger Menschen für linke Themen gespielt. Sie waren oft die treibende Kraft hinter Protesten und Demonstrationen gegen Krieg, Kapitalismus und Rassismus. Die Juso-Hochschulgruppen haben sich auch für eine umfassende Bildungsreform eingesetzt und sich aktiv an der Verbesserung der Studienbedingungen beteiligt. Dabei haben sie immer wieder gezeigt, dass sie politisch engagiert sind und sich für die Interessen der Studierenden einsetzen.

In der Zukunft werden die Juso-Hochschulgruppen eine wichtige Rolle dabei spielen, junge Menschen für den sozialistischen Kampf zu mobilisieren. Sie werden sich weiterhin für eine gerechte Gesellschaft einsetzen und sich für die Interessen von Studierenden und jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einsetzen. Dabei werden sie auch die Verbindung zwischen Studierenden und Gewerkschaften stärken und gemeinsam für eine bessere Zukunft kämpfen.

Die Juso-Hochschulgruppen werden auch in Zukunft eine wichtige Rolle bei der Veränderung der Gesellschaft spielen. Die Herausforderungen der Gegenwart erfordern ein Engagement für eine bessere und gerechtere Zukunft. Es ist wichtig, dass wir uns weiterhin engagieren und für unsere Überzeugungen kämpfen. Die Juso-Hochschulgruppen werden auch in Zukunft eine wichtige Stimme in dieser Bewegung sein.

Wir gratulieren den Juso-Hochschulgruppen zu ihrem 50-jährigen Bestehen und wünschen ihnen weiterhin viel Erfolg bei ihren Bemühungen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Wir hoffen, dass sie auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der Bewegung für eine bessere Zukunft spielen werden.

Herzliche Grüße,

Chat GPT»

Dass den Juso-Hochschulgruppen Verdienste im sozialistischen Kampf und eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung junger Menschen für linke Themen zugeschrieben werden, dürfte dem HDS-Vorstandsmitglied Horst Heimann gefallen, der im Februar seinen 90. Geburtstag gefeiert hat und dem wir an dieser Stelle nachträglich gratulieren möchten. 

Selbstverständlich dürfen aber auch in dieser Ausgabe, über die Beiträge anlässlich des 50. Geburtstages der Juso-Hochschulgruppen hinausgehend, theoretische und politische Reflexionen aktueller gesellschaftlicher und sozialdemokratischer Fragen sowie historische Einordnungen behandeln, nicht zu kurz kommen. Nicht von ungefähr wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache die vom Bundeskanzler ausgerufene «Zeitenwende» zum Wort des Jahres 2022. Doch nicht nur durch den russischen Eroberungsangriff entwickelt sich dieses dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhundert disruptiv, erweist sich als vielfältiger Umbruch und tiefgreifende Zäsur gegenüber vorangegangenen Jahrzehnten, der breiten Wohlstandssteigerung der Nachkriegszeit und des globalisierten Exportweltmeisters nach der deutschen Einheit. In der Wissenschaft hat sich daher der Begriff der Multi-Krisen-Konstellation etabliert. Wir haben in dieser Ausgabe somit auch, im Anschluss an einen Workshop, der am 17. und 18. März auf Einladung von Gert Weisskirchen in der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg stattfand, gefragt, wie sich die Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat und welche Herausforderungen sich heute in existenzieller Weise neu stellen. Die Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V. will weiterhin daran mitwirken, dass hierauf – in Tradition des Demokratischen Sozialismus und auf der Höhe der Zeit – adäquate politische Antworten gefunden werden und ein Ort geschaffen wird, in dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Analysen und Reflektionen in einer Welt des rasenden Stillstands die notwendige Zeit gegeben wird.


^1: Vgl. Paul Virilio, Rasender Stillstand, Frankfurt/Main 1997. 

^2: Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2005 sowie Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt/Main 2016. 

^3: Vgl. Teresa Bücker, Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit, Berlin 2022 sowie Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung, Frankfurt/Main 2023.

^4: Vgl. https://jusohochschulgruppen.de/juso-hochschulgruppen/ueber-uns/ (zuletzt aufgerufen am 7.5.2023). Zur intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der Juso-Hochschulgruppen besonders empfohlen werden kann an dieser Stelle neben dem Artikel von Martin Gorholt und Malte Ristau in dieser Ausgabe auch der folgende Band, der anlässlich des 45-jährigen Jubiläums im Schüren-Verlag erschienen ist: Philipp Breder, Marieke Reiffs, Kerstin Rothe, Mareike Strauss (Hrsg.), Studium, Stupa, Streik! Die Juso-Hochschulgruppen und ihre Geschichte, Marburg 2018

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