ZEITENWENDE ODER: LERNPROZESS DURCH PERSPEKTIVWECHSEL 22/2

Editorial: Zeitenwende oder Lernprozess durch Perspektivenwechsel

Von Hendrik Küpper und Laura Clarissa Loew

In der politischen Debatte werden seit dem Angriff Russlands auf das gesamte Territorium der Ukraine am 24. Februar 2022 immer wieder Metaphern des radikalen Wandels bemüht – ob «Zeitenwende» oder «Epochenbruch», es ist klar, dass bisherige Gewissheiten auf den Kopf gestellt wurden. Dieses Narrativ wird begleitet durch die entsetzten Beteuerungen, man hätte diese Entwicklung doch nicht vorahnen können. Nun stimmt es, dass ein mit konventionellen Waffen geführter Angriffskrieg in diesem Ausmaß tatsächlich ein Szenario war, dass sich nur wenige haben vorstellen können. Doch die Entwicklung Russlands zu einem immer autokratischeren Regime, dessen pseudohistorisch begründeten imperialen Großmachtansprüche – immer wieder unterstrichen durch tatsächliche militärische Interventionen in Georgien oder der Ostukraine – und die Vernachlässigung der Sorgen und Perspektiven vieler Staaten in Mittel- und Osteuropa waren Phänomene, auf die ExpertInnen in den letzten Jahren immer wieder verwiesen haben. Und nicht nur die SPD oder eine weiter verstandene linke Bewegung, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit1 muss sich dem Vorwurf des Nicht-Sehen-Wollens, der verweigerten Perspektiveinnahme stellen. …


Müssen wir nun doch alle Realist*innen werden? Eine theoretische Einordnung des Ukraine-Konflikts

Von Leon Billerbeck

«Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage.»1 Ein kurzer Absatz in einer Regierungserklärung, der, zumindest für die Bundesrepublik, wohl aber auch für all ihre Partner*innen in den internationalen Beziehungen, eine riesige Bedeutung haben sollte. Mit dem Wort Zeitenwende prägte Olaf Scholz ein anfangs resolutes und schnelles Durchgreifen und eine Zäsur in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Bewusst setzte er damit ein Zeichen, sowohl an die Verbündeten der Bundesrepublik als auch an ihre internationalen Antagonist*innen. Das Zeichen sollte klarmachen, dass ab sofort und in Zukunft mit Deutschland als internationalem Akteur mit einem gewissen Führungsanspruch zu rechnen sei. …


Theorien und Praxis: Realismus, Liberalismus und Postkolonialismus – Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine und die Zeitenwende

Von Maria Dellasega

Den russischen Angriffskrieg beschreibt Lars Klingbeil im Juni 2022 in Berlin als epochalen Umbruch wie das Ende des Kalten Krieges, als Zäsur für die Europäische Friedensordnung, als Zeitenwende. Damit stünde dieser Krieg als tiefe Krise nicht allein, sondern wird begleitet von gesellschaftlicher Spaltung, Inflation, Klimakatastrophe. In solch krisenhaften Zeiten, so beginnt und schließt die Rede in Anlehnung an Antonio Gramsci, ist das Alte nicht mehr und das Neue ist noch nicht. …


Osteuropa weiter denken – ein Plädoyer für neue Perspektiven in der (deutschen) Debatte über Osteuropa

Von Laura Clarissa Loew

Universitätsinstitute, die sich auf historischer, kulturwissenschaftlicher oder linguistischer Ebene mit Osteuropas Sprache, Geschichte und Gesellschaft auseinandersetzen, stellen üblicherweise eigene Biotope dar, in deren Gänge sich selten andere VertreterInnen der jeweiligen Fachdisziplinen verirren. Aber genau wie viele andere gesellschaftliche Bereiche sind auch diese Mikrokosmen mit der Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf das gesamte ukrainische Territorium sozusagen explodiert. In letzter Minute geplante Vorlesungen zur Geschichte der Ukraine, deren HörerInnenzahlen wenn nicht ganz die Marke von Einführungsveranstaltungen in Maschinenbau erreichen, so doch fachinterne Rekorde brechen, reihenweise Meinungsbeiträge in deutschen Leitmedien, die zuvor vereinzelten Fachkoryphäen vorbehalten waren, und die auf einmal freiwerdenden Finanzmittel, die Universitätsleitungen nun fast bereitwillig zur Verfügung stellen, sind nur einige Anzeichen dieser plötzlichen Popularität. Und nun ist es selbstverständlich müßig, sich über die Funktionsweisen von Aufmerksamkeitsökonomie zu echauffieren, über das Kaputtsparen der Osteuropaforschung an deutschen Hochschulen, oder gar die Leier zu bemühen, dass OsteuropaexpertInnen schon vor Jahren vor genau diesem Szenario gewarnt hätten. Es lohnt jedoch, noch einmal einen Blick darauf zu werfen, wie die deutsche Wissenschaft und Politik, besonders auch sozialdemokratische und progressive Stimmen, in den letzten Jahren über Osteuropa1 diskutiert haben, diese Debatten mit Diskursen in den Ländern selbst abzugleichen und schließlich abzuwägen, wie sich diese Diskussion produktiv weiterentwickeln kann. …


Long live Belarus: Wie ein demokratischer Wandel in Belarus den Krieg in der Ukraine hätte verhindern können

Von Polina Gordienko

Als ich mit 15 Jahren nach Deutschland kam und mit einem Akzent Deutsch sprach, wurde ich oft gefragt «Woher kommst Du eigentlich?». Ich habe einen ukrainischen Namen, bin in Russland geboren und in Belarus aufgewachsen. Ich antwortete: «Ich komme aus Minsk» und ich dachte mir immer dabei: «Aus der Stadt, die keiner kennt. Aus dem Land, das keiner kennt». Denn meine Mitschülerinnen in München wussten nicht viel über die politische Lage in Osteuropa und schon gar nicht über die diktatorischen Zustände, die seit einem Vierteljahrhundert in einem kleinen Land mitten in Europa gedeihen. …


Seit der Wende: Disengagement und Aufschrei an litauischen Hochschulen

Von Domas Lavrukaitis

Ein Einblick in das Unpolitische: Engagement an den litauischen Hochschulen

Wahlen, an denen nur Mitglieder einer einzigen Organisation teilnehmen und abstimmen. Die Anzahl der zu wählenden Sitze entspricht der Anzahl der nominierten Kandidat*innen. Blumen und Glückwünsche, noch bevor die Abstimmung begonnen hat. Stets nach dem selben Muster gehaltene Reden über Einigkeit und das Versprechen der Vertretung der Interessen Aller. Keine unangenehmen Fragen, ständiges Lächeln und einhelliger Beifall. Nein, dies ist kein Parteitag der KPdSU. So sieht der politische Alltag der litauischen Studierenden aus. …


Die tschechische Linke vor dem Abgrund? – Wie linke Kräfte in Tschechien ihr politisches Überleben sichern können.

Von Kajetan Stobiecki
Übersetzung von Laura Clarissa Loew

Lange Zeit schien es, als sei Tschechien eine Bastion der Linken in Mittel-/Osteuropa: eine laizistische, urbane Gesellschaft mit starker sozialdemokratischer Tradition, wenig empfänglich für die Reize des Nationalismus. Gleichzeitig verschob die Existenz einer starken kommunistischen Partei das politische Spektrum nach links und verhinderte die Abwanderung systemkritischer WählerInnen an den rechten Rand. Eine solche Konstellation bewirkte, dass die proeuropäische Sozialdemokratie lange Jahre die stärkste Kraft in Wahlen war und linke Parteien in diesen üblicherweise zwischen 30 und 50% der Stimmen auf sich vereinigten. Auch, wenn die Linke weder einen geeinten Block dargestellt hatte noch frei war von regionaltypischen Problemen (fehlende Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit, Korruption), so war es doch lange Zeit kaum vorstellbar, dass sie eines Tages keine wichtige Rolle in der tschechischen Politik mehr spielen sollte. …


Sozialdemokratie und linke Bewegungen in Armenien

Von Lusine Vardanyan

Wenn jemand in Armenien nach seinen politischen Ansichten gefragt wird, wird er oder sie höchstwahrscheinlich sagen, dass er entweder «pro-Paschinjan» oder «pro- Kotscharjan » ist. In der armenischen Politik geht es eher um Persönlichkeiten als um die Ideen, die sie repräsentieren. Während meiner Recherche für diesen Artikel bin ich darauf gestoßen, dass dieses Phänomen auch von ExpertInnen vernachlässigt wurde. Der folgende Artikel soll also einen Einblick in das Denken der armenischen Bevölkerung und den Zustand der Sozialdemokratie in Armenien geben. Hierfür habe ich mich einigen ExpertInnen gesprochen, deren Erzählungen und Analysen direkt oder indirekt in den Artikel miteinfließen. …


Strajk Kobiet – Feministische Kämpfe in Polen 

Von Louisa Klatte

Polen ist nicht gerade für progressive Frauenrechte und Feminismus bekannt. Neben vielen fragwürdigen Entscheidungen der amtierenden PiS-Regierung liegt das vor allem an Polens Abtreibungsrecht. Seit Jahren gilt das Land als negativer Referenzrahmen in Sachen Selbstbestimmung, denn dort stehen Abbrüche bis auf wenige Ausnahmen unter Strafe. Im Herbst 2020 schränkte der polnische Verfassungsgerichtshof die Bedingungen für legale Abbrüche weiter ein. Trotz Massenproteste in Polen und internationaler Kritik trat die Gesetzesverschärfung Anfang 2021 in Kraft. …


Auf dass die Atome uns verbinden mögen! 

Von Mateusz Merta
Übersetzt von Laura Clarissa Loew

Warum auf Atomenergie gesetzt werden sollte. Vor einem guten Jahr, am 13. November 2021, findet mitten im Zentrum Berlins eine Demonstration statt. Die Teilnehmer*innen stammen unter anderem aus Belgien, Norwegen, Kalifornien, Irland, Frankreich, Kanada, der Slowakei und auch aus Polen – meinem Herkunftsland. Sie protestierten gegen die Abschaltung der letzten sechs deutschen Atomkraftwerke, die noch am Netz hängen. …


Erneuerbare Energien im Fokus behalten! – Warum Deutschland aus der Atomkraft aussteigen sollte

Von Carsten Schwäbe

Deutschland hat sich als große Industrienation das ambitionierte Ziel gesetzt, die ökologische Transformation auf erneuerbare Energien nicht nur durch den Ausstieg aus fossilen Energien, sondern auch aus Atomstrom zu bewerkstelligen. Diese Mission war der Grund dafür, dass Deutschland erhebliche Investitionen in Forschung, Entwicklung und Verbreitung erneuerbarer Energien gesteckt hat. Die problematische Lage, in der die deutsche Energiepolitik steckt, stammt nicht aus dem Atomausstieg, sondern aus der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beim Ausbau der Erneuerbaren. Die Rückkehr der Atomdebatte treibt diese Kluft nur auseinander. …


37,9% – Wo bleibt der Armuts-Wumms für Studierende? 

Von Linda Brüggemeyer

«In China haben Dutzende Fälle einer mysteriösen Lungenkrankheit die Behörden aufgeschreckt. […] Wie gefährlich die Krankheit ist, ist noch unklar.»1 So schrieb die Tagesschau vor mehr als zwei Jahren das erste Mal über die anlaufende Corona-Pandemie. …