37,9% – Wo bleibt der Armuts-Wumms für Studierende? 

Von Linda Brüggemeyer

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«In China haben Dutzende Fälle einer mysteriösen Lungenkrankheit die Behörden aufgeschreckt. […] Wie gefährlich die Krankheit ist, ist noch unklar.»1 So schrieb die Tagesschau vor mehr als zwei Jahren das erste Mal über die anlaufende Corona-Pandemie. 

Die soziale Gefahr

In den folgenden Jahren brachte das Virus nicht nur gesundheitliche Gefahren mit sich, es wurden auch die sozialen Auswirkungen der Pandemie deutlich. Die flächendeckenden Schulschließungen erhielten große öffentliche Aufmerksamkeit – Universitäten und ihre Studierenden wurden in der Debatte vollkommen vergessen. Dabei waren auch sie massiv betroffen: nicht nur hinsichtlich psychischer Aspekte, sondern auch von finanzieller Mehrbelastung. Viele Studierende, die ihr Leben mit Lohnarbeit finanzierten, verloren ihren Job oder gerieten in Kurzarbeit – die Eltern konnten mit finanziellen Hilfen häufig nicht so plötzlich einspringen oder litten ohnehin selbst unter den pandemischen Auswirkungen. Trotzdem kennen wir Entlastungspakete erst seit der hohen Inflation und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – schnelle Hilfen kamen bei den Betroffenen damals nicht an. 

Dabei gab es finanzielle Hilfen – für die Wirtschaft. Jedoch war es gerade nicht die vermeintlich starke deutsche Wirtschaft, die 2021 am meisten litt: Der Armutsbericht attestierte den Studierenden in Deutschland 2021 einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Armutsbedrohung und -betroffenheit. Zahlreiche Medien berichten nun von einem großen Schock für die Gesellschaft. Aber ein Schock, der überraschend kam?  

Eine unbequeme Wahrheit

2021 waren 37,9% der Studierenden in Deutschland armutsgefährdet – mehr als jede*r Dritte.2 Im Vergleich: Der Anteil der von Armut bedrohten Gesamtbevölkerung in Deutschland betrug für dasselbe Jahr 15,8 %.3

Beinahe ein Viertel der Studierenden erlebte eine Wohnkostenüberbelastung. Dabei ist eine sichere Wohnsituation eine der grundsätzlichen Bedingungen für ein erfolgreiches Studium. In Berlin etwa existieren aktuell circa 9.500 Wohnheimplätze, die exklusiv für Studierende vorgesehen sind – gleichzeitig besuchen rund 175.000 Menschen eine der zahlreichen Berliner Universitäten und Hochschulen.4 Die zur Verfügung stehenden Wohnungen reichen bei weitem nicht aus – und lassen die Studierenden auf einem prekären Wohnungsmarkt alleine. Zu hohe Preise für Studierende, die nicht in Vollzeit arbeiten können und dürfen, prägen die Suche, und das nicht erst seit Corona. 

Zeitenwende?

Aber ist die Armutsrate unter Studierenden 2021 tatsächlich das Produkt der Corona-Krise?  

Mittlerweile scheint die Hochphase der Pandemie vorbei zu sein, sogar Karl Lauterbach erklärte in seiner Rede zum Bundeshaushalt im November, dass es «Hinweise auf eine Entschärfung der Situation»5 gebe. Heißt das, dass wir Studierende wieder aufatmen können? Lohnarbeit ist wieder normal in Präsenz möglich, aber auch das Homeoffice-Angebot wurde von Arbeitgeber*innen ausgebaut. Corona scheint sich dem Ende zuzuneigen, die gesamten Möglichkeiten für Erwerbstätigkeit neben dem Studium sind wieder hergestellt. Erholt sich die von Armut bedrohte Studierendenschaft also von ganz alleine? 

Wir befinden uns im Jahr 2022, mehr als zwei Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Artikels der Tagesschau zum damals neuartigen Corona-Virus. Es herrscht Krieg in Europa. Die Inflation in Deutschland ist auf einen Wert von 10% geklettert 6, die Lebenshaltungskosten sind gestiegen – besonders betroffen sind, mal wieder, die Studierenden. Deutschland hat eine Ampel-Regierung gewählt, statt der Merkel-Raute erleben wir nun einen «Doppel-Wumms» nach dem anderen. Wird das die studentische Armutsquote verändern? Wir sehen schon jetzt, dass besonders strukturell wieder zu wenig getan wird, um auf die Situation von Studierenden einzugehen. Die Entlastungspakete der Bundesregierung lassen uns weitestgehend außer Acht, lediglich eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro ist vorgesehen – wie und wann bleibt weiter offen. Mit der 28. BAföG-Änderungsnovelle wurde der Förderhöchstsatz auf 934 Euro angehoben.7 Geht man ernsthaft davon aus, dass dieses Geld reicht, um Miete, hohe Strom- und Heizkosten und die der Inflation angepassten Mensa-Preise zu bezahlen? 

Man muss anerkennen: Es gibt auch positives zu berichten. Das Berliner Studierendenwerk kündigte kürzlich Mieterhöhungen von 22% an.8 Mit dem Nachtragshaushalt der Berliner Entlastungspakete wurde dieser Vorgang glücklicherweise aufgehalten und ein Mietenstopp für die Wohnheime eingeführt.9 Trotzdem bezahlt die Mehrheit der Studierenden weiterhin die ungedeckelten Mietpreise – und muss darauf hoffen, schnell auf den immer länger werdenden Wartelisten für die begehrten Wohnheimplätze vorzurücken. Zeitenwende? Fehlanzeige! 

Mit der aktuellen Politik werden wir den studentischen Armuts-Schock wohl nächstes Jahr in gesteigerter Form erleben – hoffentlich dann endlich mit politischem Echo und einem echten «Wumms». 

1 Tagesschau: Rätselhafte Lungenkrankheit in China. https://www.tagesschau.de/ausland/lungenkrankheit-china-who-101.html (aufgerufen am 29.11.22)

2 Vgl. Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. N066 vom 16. November 2022. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/11/PD22_N066_63.html (aufgerufen am 29.11.22)

3 Vgl. Statistisches Bundesamt: Lebendbedingungen und Armutsgefährdung. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Lebensbedingungen-Armutsgefaehrdung/_inhalt.html (aufgerufen am 30.11.22)

4 Vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen Berlin: Studentisches Wohnen in Berlin. https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnungsbau/de/strategie/studenten.shtml (aufgerufen am 29.11.22)

5 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 20/70. https://dserver.bundestag.de/btp/20/20070.pdf (aufgerufen am 29.11.22)

6 Statistisches Bundesamt: Verbraucherpreisindex und Inflationsrate. https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/_inhalt.html (aufgerufen am 29.11.22)

7 Vgl. BMBF: Das BAföG eröffnet Bildungschancen. https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/finanzierung-bafoeg-andere/bafoeg/das-bafoeg-eroeffnet-bildungschancen.html  (aufgerufen am 29.11.22)

8 RBB24: Studierendenwerk erhöht Miete in Berliner Wohnheimen um 60 Euro. https://www.rbb24.de/wirtschaft/beitrag/2022/07/berlin-mieten-erhoehung-studierende-wohnheime.html (abgerufen am 30.11.22)

9 Berliner Zeitung: Mieterhöhungen für Studenten sind vom Tisch. https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/mieterhoehungen-fuer-studenten-sind-vom-tisch-li.286907

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