Die Vermessung der Welt – Metriken verzwergen die Wissenschaft

Von Ralf Ludwig, Kira Ludwig

By

«Die Vermessung der Welt», so heißt der Roman des Schriftstellers Daniel Kehlmann. Das Buch handelt vom Leben der berühmten Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Kehlmann beschreibt darin die unterschiedlichen Weltbilder der beiden großen Forscher, aber auch ihre Gemeinsamkeiten beim Streben nach Erkenntnis. Beide Genies, der eine als Naturforscher, andere als Mathematiker und Geodät, wollten die Welt auf ihre eigene Weise vermessen.

Heute, etwa zweihundert Jahre später, würden diese Riesen der Wissenschaft und deren Leistung selbst vermessen. Mit der Scientometrie würde Maß genommen und beide womöglich für zu klein befunden. Aus Giganten würden Zwerge der Wissenschaft. Denn die Aktivität und Produktivität würde gemessen in Impact-Faktoren, H-Indices, Altmetrics und Drittmitteleinwerbung.

Ein neuer Index zur Vermessung wissenschaftlicher Leistung hat Aufsehen erregt: Der CD-Index, C steht für «Consolidation» und D für «Disruption». Beide Begriffe stammen aus der Ökonomie. 45 Millionen Veröffentlichungen und 3,9 Millionen Patente aus dem Zeitraum zwischen 1945 und 2010 wurden danach ausgewertet, wie «disruptiv», also bahnbrechend die Wissenschaft sei. Das ernüchternde Ergebnis: auf allen untersuchten Gebieten wie der Physik, den Lebenswissenschaften, aber auch den Sozialwissenschaften sei der CD-Index in den letzten Jahrzehnten drastisch gesunken, um bis zu 90 Prozent. Das alarmiert Journalisten, Wissenschaftsmanager und Politiker: Wo bleibt der nächste Einstein? Müssen wir unser Fördersystem überdenken? Haben wir zu viel Geld in zu wenig Ergebnis gesteckt? Als Belege für «disruptive» Wissenschaft werden Einsteins Relativitätstheorie und Watsons und Cricks DNA (Desoxyribonukleinsäure) genannt, die Genschere oder die Entwicklung von Corona-Impfstoffen gehören nicht dazu.

Aber sieht man sich diese Beispiele genauer an, zerbröselt das Label «disruptiv» rasch. Durch die Relativitätstheorie ist die klassische Mechanik nicht hinfällig geworden und auch Newton stand nach eigenem Bekunden schon auf den Schultern von Riesen. Watson und Crick haben mit der DNA ein großartiges Strukturmotiv gefunden, die Wissenschaft revolutioniert haben sie damit nicht. Linus Pauling, der zuvor die Struktur der Doppel-Helix aufgeklärt hatte, saß ihnen zweifelslos im Nacken. Die Bedeutung der DNA, nämlich die Erbinformation aller Lebewesen zu tragen, hatten bereits Kossel, Avery, Hershey, Chase und Chargaff verstanden. Ungesagt bleibt zudem, dass Watson und Crick das Experimentieren gerne anderen überließen und sich am Ende sogar mit fremden Federn geschmückten. Von guter wissenschaftlicher Praxis konnte hier nicht die Rede sein.

Was soll demgegenüber «Consolidation» in der Wissenschaft bedeuten? In der deutschen Übersetzung wird gleich abwertend von «inkrementeller» Wissenschaft gesprochen, Fortschritt in kleinen Schritten. Die CRISPR-Cas9-Technik oder sogenannte Genschere sei inkrementell, weil die grundlegenden Arbeiten bereits 20 Jahre zurückliegen. Dabei gilt sie als Wunderwaffe der Molekularbiologie, da mit dem Verfahren DNA-Bausteine präzise umgebaut oder entfernt werden können. Ebenso inkrementell sei die Entwicklung wirksamer Impfstoffe gegen Corona, weil die zugrundeliegende mRNA-Technik schon 30 Jahre alt sei. Die Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) überträgt die genetische Information für den Aufbau eines bestimmten Proteins in einer Zelle und erlaubt wohl bald die Behandlung von Erbkrankheiten über die Krebsforschung bis hin zu Impfungen gegen Krankheiten wie Malaria.

Wenn das «inkrementelle» Wissenschaft und Forschung ist, dann möchte man einfach nur mehr davon haben. Die Erhöhung der Wirkungsgrade von Solarzellen, die Entwicklung leistungsfähiger und haltbarer Batterien, Fortschritte bei der Speicherung, dem Transport und der Nutzung von Wasserstoff, alles bloß «inkrementelle» Wissenschaft? Möglich, aber auch kleine Schritte kosten oft viel Engagement, Zeit und Geld, bis schließlich der Durchbruch gelingt. Müssen aber Entscheidungsträger in der Politik nicht den Eindruck gewinnen, dass viel Geld in zu wenig Ertrag fließt? Auch Wissenschaftsmanager wurden durch den CD-Index getriggert. Selbstverständlich sollten wir das Wissenschaftssystem und die Forschungsförderung ständig selbstkritisch hinterfragen. Beim Nachdenken darüber fiel der Volkswagenstiftung eine ungewöhnliche Lösung ein: Wissenschaftsprojekte könnten per Losverfahren gefördert werden. Das erweckt in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass die Erfolgsquote größer sei, wenn Forschungsanträge durch den Zufall entschieden würden, schlimmer kann man eigentlich auf Wissenschaft nicht herabsehen. Zudem wird die redliche und durchaus mühsame Gutachtertätigkeit in den Gremien von Forschungsfördereinrichtungen diskreditiert. Sie ist ein sehr wichtiger Teil der Reflexion der Wissenschaft über sich selbst, nimmt neben Forschen und Lehren im Arbeitsalltag viel Zeit in Anspruch und ist das wichtigste Kriterium zur Beurteilung von Qualität. Manchmal unterscheiden sich Forschungsanträge in Qualität und Originalität kaum, das kommt in allen Disziplinen vor. Hier wird ebenso wohl abgewogen und mit viel Sachverstand verglichen wie bei allen anderen Vorhaben. Selbstverständlich werden auch bei der DFG riskante und innovative Forschungsvorhaben gefördert. In die Lostrommel brauchen wir deshalb nicht zu greifen.

Anstatt sich immer wieder aufs Neue vermessen und so permanent in die Defensive drängen zu lassen, sollten Wissenschaftlerinnen deutlich machen, warum sie Wissenschaft und Forschung betreiben. Doch sicher nicht, um Impact-Faktoren, H-Index und die Drittmitteleinwerbung zu maximieren. Wir halten es eher mit Popper: Die Wissenschaft habe der Suche nach der Wahrheit zu dienen, aber auch zur Lösung von Problemen und der Verminderung von Übel und Leid beizutragen. Und gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Probleme haben wir genug auf der Welt. Wenige Stichworte wie Klimakrise, Ernährungssicherheit oder Artensterben geben ein beredtes Zeugnis davon. Viele der Ziele für eine nachhaltige, soziale, ökonomische, und ökologische Entwicklung unserer Welt können nur mit exzellenter Wissenschaft und Forschung erreicht werden, unterstützt durch Diversität, Wissenstransfer, Internationalität und Interdisziplinarität. Einige konkrete Beispiel möchten wir aus der lesenswerten Agenda 2030 der Vereinten Nationen herausgreifen.

Beispiel: Gesundheit

Ziel 3 der Agenda der UN fordert ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters. Dazu gehört unter anderem eine schnelle, finanziell verträgliche und gesellschaftlich akzeptierte Entwicklung von Arzneimitteln. Bestes Beispiel dafür sind die Covid-Impfstoffe. Die in vielen Jahren Grundlagenforschung entwickelte mRNA-Technologie hat Impfstoffe in Rekordzeit verfügbar gemacht und damit die Pandemie entscheidend beeinflusst. So konnten schwere Verläufe deutlich reduziert werden. Mit der mRNA-Technologie kann sehr flexibel eine große Bandbreite an Krankheitsbildern adressiert werden. Sie erlaubt eine schnelle Entwicklung von Medikamenten und vor allem eine Skalierbarkeit in der Produktion von sehr kleinen bis hin zu sehr großen Mengen. Die Palette reicht hier von Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten bis hin zu Medikamenten gegen Krebserkrankungen. Booster-Impfstoffe sind innerhalb kurzer Entwicklungszeit verfügbar. Eine solches Entwicklungstempo für Impfstoffe war bis vor kurzem undenkbar, ist nun aber dank der mRNA-Technologie möglich geworden. 

Heute noch begeistert das «Projekt Lightspeed», der Weg zum BioNTech-Impfstoff, den Özlem Türeci, Uğur Şahin und später hinzugekommen Katalin Karikó so enthusiastisch verfolgt haben. Die Wissenschaftlerinnen (allesamt mit Migrationshintergrund) haben gebrannt für die Forschung, sie haben den neuen Impfstoff unbedingt gewollt und rund um die Uhr dafür gearbeitet. Auch solche Phasen im Leben von Wissenschaftlerinnen muss es geben. Man kann nicht einfach auf den Zufall warten. Der Biochemiker Carl Ferdinand Cori sagte einmal: «Luck does not exist because it is always the same people who are lucky. »

Beispiel: Ernährung

Wenn wir heute mehr Ernährungssicherheit auf unserem Globus fordern, dann hängt dies entscheidend von einem großtechnischen chemischen Verfahren ab. Im berühmten Haber-Bosch-Prozess wird aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff bei hohen Drücken und Temperaturen unter Zuhilfenahme eines eisenhaltigen Katalysators Ammoniak gewonnen. Das bedeutende Chemieverfahren mit einem Produktionsausstoß von mehr als 150 Millionen Tonnen im Jahr 2017 deckt fast die gesamte weltweite Produktion. Ammoniak wird überwiegend für die Herstellung von Düngemitteln verwendet und trägt damit wesentlich zur Ernährung der Weltbevölkerung bei. Die Fixierung von Stickstoff aus der Atmosphäre für die Herstellung von Düngemitteln wurde in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als «Brot aus der Luft» gefeiert. Bis dahin wurden Düngemittel aus Salpeter gewonnen. Fritz Haber erhielt dafür 1918 den Nobelpreis, Carl Bosch 1932 für die Entwicklung des industriellen Prozesses, Gerhard Ertl in 2006 für die vollständige Aufklärung der Reaktionsmechanismen. Von der Grundlagenforschung zur Anwendung und wieder zurück. Aus erkenntnisgewinnender Forschung wurde erkenntnisnutzende Forschung. Ein Beispiel für gelungenen Wissenstransfer.

Neben den Nobelpreisträgern darf im Zusammenhang mit der Ammoniaksynthese der Name Alwin Mittasch nicht fehlen. Mittasch hatte kein Abitur und durfte sich deshalb nicht habilitieren. Notgedrungen ging er in die Industrie (zur BASF). Dort führte er 20.000 Versuche zur Optimierung des Eisenkatalysators durch. 

Auch hier spielte nicht Glück, sondern Fortune eine Rolle, nämlich die Entfaltung einer Begabung in einem günstigen Umfeld. Ständig befinden wir uns an der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen. Entscheidend ist aber, ob das Wissen auch auf fruchtbaren Boden fällt. Experimente provozieren den Zufall und es kommt darauf an, den zu Nutzen und die Bedeutung des zufälligen Ergebnisses zu erkennen und einzuordnen. 

Und damit dürfen wir nicht aufhören. Aus heutiger Sicht wirft die Ammoniak-Synthese Probleme auf. Die Reaktionen bei hohen Temperaturen und Drücken erfordern einen enormen Energieeinsatz, verbunden mit beträchtlichen CO2-Emissionen. Der für die Synthese mit Stickstoff eingesetzte Wasserstoff kommt aus Erdgas. Allein zehn Prozent des Erdgases weltweit werden für den im Haber-Bosch-Verfahren benötigten Wasserstoff eingesetzt. Wir müssen also nach technischen Lösungen suchen, die Ammoniak-Synthese bei milderen Bedingungen durchführen oder gar andere Prozess der Stickstofffixierung finden.

Beispiel: Nachhaltige Energieversorgung

Wir brauchen bezahlbare, verlässliche, und nachhaltige Energie. Natürlich steht hier die Entwicklung der erneuerbaren Energiequellen im Fokus. Wind und Sonne sind solche unerschöpflichen Quellen, stehen aber nicht rund um die Uhr, zu jedem Tag und zu jeder Jahreszeit gleichmäßig zur Verfügung. Um die Volatilität dieser Energieformen aufzufangen, benötigen wir ausreichende Speicherkapazitäten und geeignete Transportmöglichkeiten für den aus Erneuerbaren erzeugten Strom. Dazu muss die Entwicklung von Batterien und Akkus und deren Einsatz im Verkehr weiter vorangetrieben werden. Auf die Wasserstofftechnologie werden wir ebenfalls nicht verzichten können. Mit Strom aus On- und Off-Shore Windanlagen wird durch Elektrolyse von Wasser der Energieträger Wasserstoff gewonnen, für den geeignete Speicher- und Transportmöglichkeiten zu entwickeln sind. Da der reine Wasserstoff schlecht zu handhaben ist, empfiehlt sich eine Speicherung in wasserstoffreichen Molekülen, wie Ameisensäure, Ammoniak, Methanol oder Methan. Diese Verbindungen können zudem als Grundstoffe in der chemischen Industrie eingesetzt werden, die bisher aus fossilen Energieträgern gewonnen werden mussten. Transportmöglichkeiten dafür sind bereits vorhanden, so dass am Zielort auch wieder Wasserstoff freigesetzt und mittels einer Brennstoffzelle wieder Strom «on demand»gewonnen werden kann. 

Für die Spitzenforschung brauchen wir die besten Forscherinnen, also muss Internationalität großgeschrieben werden. Die Wissenschaft schlägt, wie auch die Kultur, Brücken zwischen Nationen. Forschende aus vielen Nationen arbeiten und leben zusammen und erreichen gemeinsam ihre hochgesteckten Forschungsziele. Sie lernen ihre kulturellen Eigenarten kennen, respektieren und schätzen. Später tragen sie diese Erfahrung zurück in ihre Heimatländer. Forscherinnen und Forscher werden so zu Botschafterinnen und Botschaftern für das konstruktive Miteinander der Nationen.

Beispiel: Atmosphäre

Ziel 9 der Vereinten Nationen fordert den Aufbau einer widerstandsfähigen Infrastruktur, die Förderung einer breitenwirksamen und nachhaltigen Industrialisierung sowie die Unterstützung von Innovationen. Hier sei an die berüchtigten Fluorkohlenwasserstoffe (FCKW) erinnert, die vor langer Zeit entwickelt wurden, um giftige und schnell entflammbare Kältemittel zu ersetzen. In der 80iger Jahren stellte sich heraus, dass diese FCKW wesentlich zum Abbau der Ozonschicht beitragen. Im Montrealer Protokoll von 1987 wurde international vereinbart, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen zu schützen. Dies kam einem Verbot der FCKW gleich. Die Substitution der FCKW war nicht einfach, denn die Vorteile dieser Substanzen, nämlich inert und nicht entflammbar zu sein, sollten nicht verloren gehen. Der Ersatz gelang, inzwischen hat sich die Ozonschicht wieder erholt. 

In dem Protokoll verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten auch, neue Technologien unter«gerechten und möglichst günstigen Bedingungen» weiterzugeben. Allerdings muss kräftig weiter geforscht werden, denn die neuen Kältemittel tragen zur Klimaerwärmung bei. Um diese Transformation zu bewältigen, müssen wir interdisziplinär unsere Kompetenzen zu den Fragen bündeln und dabei «hart am Wind segeln», wie man im Norden sagt. Dafür müssen wir (Chemiker) ins Labor, auch wenn es kalt ist. Di-Mi-Do und aus dem Homeoffice heraus werden wir keine neuen Moleküle und Materialien herstellen können.

Wissenschaft und Werte

Diese Beispiele zeigen, dass der Beitrag von Wissenschaft und Forschung für die Lösungen der großen Herausforderungen unverzichtbar ist. Wir benötigen neue Technologien zur Bewältigung dieser Mammutaufgaben, nicht nur in Krisensituationen. Wirklicher Fortschritt wird aber nur erzielt, wenn diese Technologien nachhaltig sind, von der Gesellschaft akzeptiert werden und die Situation von Mensch und Umwelt wirklich verbessern. Dies bedarf nicht nur struktureller Änderungen, sondern auch der Abkehr von einem reinen Wachstumsdenken.

Zur Bewältigung großer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Herausforderungen-benötigen wir auch eine hochwertige Lehre, gute Ausbildung der Studierenden, beste Betreuung für die Zukunft der Wissenschaft. Dafür müssen bereits in der Schule die Grundlagen gelegt werden. Wer an der Fachausbildung der zukünftigen Lehrerinnen beteiligt ist, kann aber feststellen: Wir brauchen wieder mehr Wissen, nicht nur Konzepte, Methoden und Fertigkeiten. Kompetenz ohne Wissen gibt es nicht. Wir können auf Grundanforderungen an fachlicher Bildung nicht verzichten. Nur wer viel weiß, kann auch fundiert Kritik üben, urteilen und handeln. Nur wer viel weiß, kann auch Fake-News, Legenden, Mythen und Verleumdungen entgegentreten. Nur wer viel weiß, hat den nötigen Respekt vor anderen Menschen und anderen Meinungen. 

In einigen Bundesländern allerdings wird in unheilvoller Weise an der notwendigen Weitergabe dieses Wissens gedreht und beispielsweise die Logarithmusfunktion aus dem Curriculum gestrichen. Der natürliche und dekadische Logarithmus hilft uns zu verstehen, was ein pH-Wert oder ein Ionenprodukt ist. Mit ihm können wir Pufferlösungen ansetzen, die Versauerung der Weltmeere begreifen. Es ist die Umkehrung der Exponentialfunktion, die Wachstumsprozesse oder Zerfallsprozesse beschreiben. 

Verzichten müssen Schüler auch auf die Unterrichtung der trigonometrischen Funktionen. Ein Sinus, Cosinus oder Tangens wird noch geometrisch bestimmt, den Verlauf einer solchen Funktion braucht offenbar niemand mehr zu kennen. Es gibt Schallwellen, Wasserwellen, Radiowellen, Mikrowellen, La-Ola-Wellen, aber die Entwicklung solcher Funktionen in Raum und Zeit werden nicht mehr für wichtig genommen. Das sind Entwicklungen, denen wir ganz entschieden entgegentreten müssen. Dazu muss Wissenschaft mit Politik sprechen und selbst mutig Stellung beziehen, in der Klimapolitik tun wir es ja längst auch, indem wir unsere Ergebnisse prominent veröffentlichen und erklären. Die Wissensgesellschaft hat gleichfalls ein lauteres Engagement verdient. 

Wir brauchen einen verfügbaren Bestand von Fakten, Theorien und Regeln mit hohem Grad an Gewissheit. Wissen ist unser Kompass, der uns begründet, zielgerichtet und schlüssig handeln lässt.

Erkenntnis fliegt uns nicht zu. Wissenschaft macht Freude, ist aber auch mühselig. Bertolt Brecht hat die Mühseligkeit des Forschens im «Leben des Galilei» erfasst: «Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. » Dann rechnet er ab. «Sollte uns dann jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit denen, die nicht geforscht haben und doch reden.» Für seinen «Galilei» ging Brecht in das Kopenhagener Institut von Niels Bohr, um sich ein eigenes Bild von der Welt der Forschung zu machen. Eine wirklich kluge Idee, die man Journalisten, die über Forschung schreiben und Politiker, die über Forschung entscheiden nur ans Herz legen kann.

Es stimmt, Wissenschaft und Forschung brauchen oft lange, bis sie Früchte tragen. Aber exzellente Grundlagenforschung in allen Disziplinen, von der Medizin bis zur Mathematik, von der Ökonomie bis zur Soziologie, ist der Schlüssel für die Krisenfestigkeit und Zukunftskompetenz. Die Grundlagenforschung ist Voraussetzung für künftige Innovationen. An dieser Stelle wollen wir einen Philosophen und einen Naturwissenschaftler sprechen lassen. Ludwig Wittgenstein sagte: «Wir wissen mitunter nicht, wonach wir suchen, bis wir es schließlich gefunden haben». Der Physikochemiker und Nobelpreisträger Manfred Eigen stellte fest: «Wir betreiben Grundlagenforschung, weil wir etwas wissen wollen, nicht, weil etwas ‚Bestimmtes‘ wissen wollen. » Metriken haben da keinen Platz.

Wissenschaftlerinnen dürfen durchaus selbstbewusst sein. Laut einer Studie aus 2021 stehen ihnen nur 7-8 Prozent der Befragten misstrauisch gegenüber. Diese Zahl hat auch während der Pandemie nicht zugenommen. Die ausdrückliche Zustimmung schwankte zwischen 47 Prozent vor Corona, 71 Prozent im April 2020 und 61% im November 2020. Dieses Vertrauen müssen wir immer wieder rechtfertigen. Der Schlüssel für das Vertrauen in die Wissenschaft sind ihre Werte: Eindeutigkeit, Transparenz, Objektivität, Überprüfbarkeit, Verlässlichkeit, Offenheit und Redlichkeit und nicht zuletzt die Neuigkeit.

Was heißt das? Wissenschaft erläutert die Motive und Ziele ihrer Arbeit. Akademische Kontroversen und die Grenzen der Fächer werden ständig diskutiert. Die Kommunikation ist ehrlich und authentisch. Wissenschaftler gestehen Sackgassen ein, diskutieren auch Negativergebnisse. Die Ökonomisierung der Wissenschaft ist eine ständige Herausforderung, ebenso wie die Frage «Was ist drin für mich? » Beidem sucht Wissenschaft zu widerstehen. Wissenschaftliche Exzellenz hat Vorrang.

Die Werte der Wissenschaft werden gelebt und sie sind unvergleichbar mit Wirtschaft oder Politik. Aus der Ökonomie stammende Metriken, die Wissenschaft unreflektiert in die Kategorien «disruptiv» und «inkrementell» einteilen, sind es nicht und sollten es auch nicht werden.

Literatur

Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Schauspiel. Frankfurt am Main 2004.

Eigen, Manfred: Perspektiven der Wissenschaft. Jenseits von Ideologien und Wunschdenken. Stuttgart 1988. 

Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Reinbek b. Hamburg 2005.

Michael Park/ Erin Leahey/ Russel J. Funk: «Papers and patents are becoming less disruptive over time». In: Nature 613, 138–144 (2023).

Max Kozlov: «‹Disruptive› science has declined — and no one knows why». In: Nature 613, 225 (2023).

Birgit Herden: «An den Grenzen des Wissens: Wo bleibt der nächste Einstein?». In: Tagesspiegel, 15. Januar 2023.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert