Wichtiger denn je? Anmerkungen zum Verhältnis von politischer Bildung und digitaler Transformation

Von Nils Quentel

By

„Unsere Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch, der durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche getrieben wird. […] Diese Veränderungen sind keine festgeschriebenen Entwicklungen, sondern gesellschaftlich und politisch gestaltbar.“
(Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, 2022)

Digitalisierung – Digitale Transformation – Datafizierung – Digitalität: Wie man das Phänomen auch benennen mag, der Siegeszug von Datenprozessen in diverse Felder unserer Gesellschaft ist nach wie vor in aller Munde. Dabei ist der zugrundeliegende Prozess, das Datafizieren bzw. Digitalisieren – „„the rendering of social and natural world in machine-readable digital format“ (Williamson, Bayne & Shay 2020: 351), unverändert. Was sich verändert hat, ist die Skalierung, die Verfügbarkeit und natürlich die Rechenleistung, die sich im Rekordtempo weiterentwickelt.

Es ist wichtig, die Digitalität zu gestalten und nicht passiv über sich ergehen zu lassen bzw. darauf lediglich zu reagieren, wie es der Begriff Digitalisierung vielleicht implizieren könnte (Macgilchrist, 2019). Zeigen wir, um dieses gestalterische Potenzial zu skizzieren, auf drei exemplarische Felder des gesellschaftlichen Alltags. Mit den Aspekten Mobilität, Gesundheitswesen und Bildung sollen drei verschiedene Lebensbereiche in aller Kürze hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit für die digitale Transformation vorgestellt werden.

Blicken wir auf die Mobilität bzw. die Verkehrsinfrastrukturen, so ist die technische Ausstattung von Fahrzeugen, smarten Verkehrsleitsystemen bis hin zu Live-Tracking von Bus- und Bahn bereits weit verbreitet. Politische Maßnahmen wie der Deutschlandtakt im Schienenverkehr, Verpflichtungen zu Sicherheitseinstellungen beim LKW-Berufsverkehr bis hin zu Systemen zur Prävention von Sekundenschlaf am Steuer auch von PKW. Die Datafizierung mithilfe von vernetzter Sensorik sowie die algorithmisch gestützte Auswertung all dieser Datenmengen, ist das Fundament von aktuellen Trends wie dem autonomen Fahren. 

Im Gesundheitswesen assistieren Roboterarme bei Operationen, tauschen Arztpraxen Patient*innendaten untereinander aus und Krankenkassen verleihen Bonuspunkte für sportliches Verhalten, die man nutzen kann, wenn man seine Smart Watch damit verbindet. Darüber hinaus bilden Big Data Analysen z. B. von Abwässern Verbreitungsmuster von Viruskrankheiten wie COVID-19 auch datengestützte Aussagen zur Erforschung und (gesundheits-)politischen Einordnung von Szenarien. Auch, wenn die EU-Datenschutzgrundverordnung strenge Schutzmaßnahmen für Gesundheitsdaten vorsieht, bildet der Gesundheitssektor ein gigantisches Wachstumsfeld.

Die digitale Transformation im Bildungsbereich umfasst längst nicht mehr nur die Bereitstellung von Beamern, Tablets oder Smartphones. Digitale Lernplattformen unterstützen bei der zielgenauen Nachhilfe, Lehrkräfte wie Schüler*innen nutzen zunehmend lernende – also algorithmisch gestützte – Rechtschreibprogramme und lassen sich neuerdings gar ganze Aufsätze vorformulieren – und korrigieren, wie es der aktuelle Diskurs im ChatGPT deutlich macht. 

Schöne, neue, leichte Welt also? Ganz so einfach ist es nicht.

Hinter den meisten der innovativen Erfindungen, die große Datenmengen – also Big Data im engeren Sinne – im Kern haben, stecken private und gewinnorientierte Unternehmen, die mit teils unterschiedlichen Geschäftsmodellen Profit machen. Einige dieser Modelle sind dabei längst bekannt, etabliert und lassen sich als traditionelle Abonnement-Modelle, Lizensierungen oder klassische Hardware-Verkäufe umfassen. Nicht auf den ersten Blick erkennbar waren jedoch lange die Monetarisierungsmodelle von Plattformen und weiteren Intermediären im digitalen Raum, die mit den Daten ihrer Nutzer*innen, die ihre Rechte daran durch die Anmeldung abgeben, Geld verdienen. Meist geschieht dies noch heute über Partnerschaften mit Werbetreibenden und Unternehmen, die durch die großen Sammlungen an Metadaten, also Daten wie IP-Adressen, Nutzungsverhalten auf einer Plattform, Interaktionen ihre Werbung zielgenau platzieren können – und dafür bezahlen. Dieser Plattform- oder auch „Überwachungskapitalismus“, wie er von Suzanna Zuboff 2018 treffend überschrieben wurde, sickert auch fernab der Werbeanzeigen zunehmend in weite Teile der Gesellschaft. Social Scoring Systeme, wie sie China wiederholt erprobt (Lee, 2017) zielen darauf ab, mittels digitaler Überwachung die Zivilgesellschaft für erstrebsames Verhalten zu belohnen – und für Missachtungen zu bestrafen. 

Vor allem letzteres Beispiel zeigt sehr deutlich auf, warum die digitale Transformation samt ihrer Datafizierungsprozesse ein Thema für die Politik, Lehrkräftebildung und speziell die politische Bildung ist. Eine politische Bildung, die darauf abzielt, mündige Bürger*innen hervorzubringen, die selbstständig und frei Urteile bilden, politisch Handeln und an der demokratischen Gesellschaft partizipieren können (Detjen et. al., 2012), steht solchen dystopisch anmutenden Überwachungsszenarien diametral gegenüber. Politische Bildungsprozesse müssen also die digitale Transformation als ganzheitliches Phänomen – nicht nur als technischen Prozess der Übersetzung, wie er zu Beginn dieses kurzen Beitrags eingeführt wurde – begreifen und thematisieren. Die Gesellschaft für Informatik (GI) hat dabei treffend mit dem Frankfurter Dreieck ein übersichtliches Analyseschema geschaffen, dass neben einer anwendungsbezogenen und einer technischen Perspektive auch eine kritisch-gesellschaftliche Perspektive, also den Blick darauf, welche Auswirkungen ein digitales Phänomen auf die Gesellschaft hat, etabliert. Dieses Dreieck macht deutlich, was auch für die politische Bildung gelten muss: Ein ganzheitlicher Bildungsansatz, der nicht nur Chancen oder Risiken, sondern auch das informatische Verständnis sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen beleuchten muss. 

Dieser interdisziplinären Aufgabe müssen sich Bildung wie auch die Politik als Gesetzgeber zu Eigen machen, wenn wir die digitale Transformation tatsächlich wertebasiert im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gestalten wollen. Es kann keine Lösung sein, wenigen marktbestimmenden privatwirtschaftlichen Unternehmen dieses Zukunftsfeld unreguliert zu überlassen – oder vice versa sämtliche Entwicklungen gänzlich auszubremsen oder zu verlangsamen, wie es manch konservative Stimme z.B. im Bildungsbereich gerne verlauten lässt (z.B. Spitzer, 2012). Es gilt, eine progressive Entwicklung der digitalen Transformation voranzutreiben, ohne sich treiben zu lassen – und dabei vor allem die politische Mündigkeit in der digitalen Welt als Bildungsziel einer politischen Medienbildung, wie es auch die Zentralen für politische Bildung in ihrem Positionspapier fordern (Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, 2022), zu stärken.

Literaturverzeichnis

Detjen, J., Massing, P., Richter, D. & Weißeno, G. (2012). Politikkompetenz – ein Modell. Wiesbaden.

Lee, F. (2017, November 30). Die AAA-Bürger. ZEIT ONLINE. Online verfügbar: https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2017-11/china-social-credit-system-buergerbewertung/komplettansicht

Macgilchrist, F. (2019). Digitale Bildungsmedien im Diskurs. Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte. In: APuZ 69(27-28), 18-23.

Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (2022). Positionspapier politische Medienbildung. Online verfügbar: https://demokratie.niedersachsen.de/download/184604/Positionspapier_politische_Medienbildung.pdf

Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München.

Williamson, B., Bayne, S. & Shay, S. (2020). The datafication of teaching in Higher Education: critical issues and perspectives. Teaching in Higher Education, 25(4), 351. https://doi.org/10.1080/13562517.2020.1748811

Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert