Akademisierungswahn oder -segen? – Zum Verhältnis von Anpassung und Ideologie

Von Leonie Bode, Leo Buddeberg

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Im vergangenen Jahr hatten wir die Möglichkeit, einen Arbeitskreis der Juso-Hochschulgruppen zu dem Themenkomplex ‹Akademisierung und unser Bildungsideal› anzuleiten. Im Rahmen dessen entwickelten wir einen neuen Ansatz, um das vielfältig diskutierte Thema der Akademisierung mit einem jungsozialistischen Bildungsideal zu verbinden. Dieses Ergebnis, das auf dem Bundeskoordinierungstreffen ‘22 beschlossen wurde, soll hier in seiner Grundidee dargestellt werden.

Die Entstehung des Akademischen

Der Ursprung des Begriffes «akademische Bildung» lässt sich auf die Akademeia im antiken Griechenland zurückführen, zunächst eine Sport- und Religionsstätte, an der Platon später seine Akademie gründete (Trelawny-Cassity 2023). Das gesammelte Wissen der Antike war sehr breit und wurde in neun Disciplinae  klassifiziert. Im antiken Rom wurden diese als freie Künste (artes liberales) bezeichnet, weil diejenigen, die sich ihnen widmeten, finanziell und sozial unabhängig waren. (Caruso 2019, S. 82)

Im christlichen Mittelalter stand die Autorität des Buches – der Bibel – im Mittelpunkt. Diese bestand auch bei den ersten Universitäten fort, da Bücher Mangelware waren und somit die Lehrform der Vorlesung etabliert wurde. (ebd., S. 94) So entstanden zwei der Assoziationen, die wir uns heute vielleicht unter ‹akademisch› vorstellen.

Während der Aufklärung wurde die formalisierte, analytische Methode als Mittel zum Sieg der Vernunft über das Mythische auserkoren. Religiöse Welterklärungen hatten bis dahin über die Theologie auch in der Wissenschaft einen großen Einfluss. Die Welt und die Natur wurden stattdessen  nun «mathematisiert» (vgl. Horkheimer und Adorno 1994, S. 39). Außerdem etablierte sich die Trennung zwischen Forschung und Bildung (Caruso 2019, S. 164). Auch wenn sich die Vertreter der Aufklärung vornahmen, alle Menschen (oder zumindest die männlichen) zu ‹mündigen› Bürgern zu erziehen, war die Welt der Universitäten und Akademien nach wie vor denen vorbehalten, die es sich leisten konnten. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Bildung zunehmend zur staatlichen Aufgabe. Manche sahen in ihr nun auch die Lösung für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. (vgl. Adorno 2003, S. 98) 

Möglicherweise stammt der einflussreiche Gedanke, über Bildung ließe sich die materielle Ungleichheit überwinden, daher, dass das Bildungssystem die gesellschaftlichen Klassen widerspiegelt. Insbesondere das dreigliedrige Schulsystem entspricht seit langem der Klassengesellschaft, und auch an Universitäten blieben Mittel- und Oberschicht unter sich (Becker 2014). In dieser Zeit lässt sich ein zunehmend verändertes Verständnis des Akademischen beobachten: Von etwas, das auf Grund ihrer materiellen Verhältnisse nur die Elite ausüben konnte, zu etwas, das die Elite zu ihrer Machtposition berechtigte. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Motive für Reformen in der Bildung vielfältig. Mit dem Aufstieg der sog. sozialen Marktwirtschaft prosperierte auch die gemäßigte Reform. Einerseits war nach wie vor die Idee verbreitet, dass über Bildung materielle Ungerechtigkeiten korrigiert werden könnten. Andererseits verlangten ökonomische Zwänge im Kontext des wirtschaftlichen Aufschwungs durch das aufstrebende exportorientierte Wachstumsmodell nach einer Fach*arbeiterinnenschaft mit spezifischen Fähigkeiten auf mittlerem bis höherem Level sowie nach der Verflechtung von Betrieben und Bildungsinstitutionen. (Wren 2020) Dies und der Einsatz von Student*innen an sog. Fachschulen selbst führte letztendlich zur Einführung der Fachhochschule sowie zur Einführung des dualen Studiums (Baethge und Wolter 2015).

So führten sozialpolitische Erwägungen Hand in Hand mit ökonomischen Absichten zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit dazu, was unter dem Namen der «Akademisierung» bis heute die Gemüter scheidet: Mehr Disziplinen wurden an formalen Hochschulen (Universitäten und Fachhochschulen) unterrichtet und die Hochschule wurde für eine breitere Bevölkerungsschicht zugänglich. Gleichzeitig hatte diese Dynamik aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit einen großen Haken: Die Mechanismen des ‹Wettbewerb› auf allen Ebenen, die die ordoliberale Ordnung der BRD kennzeichnet, durchbrach sie nicht. Konkret charakterisiert sich diese über die aus dem Wettbewerb hervorgehende simultane Auf- und Abwertung sowie Rechtfertigung ökonomischer Ungleichheiten. Im Fall der Akademisierung drückt sie sich in drei Merkmalen aus: Erstens war die Gründung von Fachhochschulen gleichbedeutend mit dem Einzug einer neuen Hierarchie in das Hochschulsystem. Im Vergleich zu Universitäten waren Fachhochschulen in der Art der Lehre auf spezifische Fähigkeiten fokussiert, in der Möglichkeit zur (kritischen) Forschung stark limitiert, verfügten über weniger gesellschaftliche Anerkennung, und manifestierten so gesellschaftliche Ungleichheit. Zweitens blieben die Universitäts-Studienplätze trotz der Bildungsexpansion, insbesondere aus den beschriebenen ökonomischen Erwägungen, beschränkt. Und drittens ging mit der formalen Aufwertung einiger Disziplinen die Abwertung von formalen Ausbildungsberufen einher.

Über die vergangenen Jahrzehnte hat sich der Stellenwert der Fachhochschulen (heute: ‹Hochschulen für Angewandte Wissenschaften›) immer weiter erhöht, insbesondere durch die zentrale Rolle für das deutsche Wachstumsmodell. Das ist nicht nur sichtbar an den hohen Einschreibungen von knapp 40 % aller Studierenden (BMBF 2023), sondern auch an der politischen Aufmerksamkeit, die sie in der Bundes- und Landespolitik erfahren. 

Gleichzeitig besteht bis heute viel Uneinigkeit über mögliche Vor- und Nachteile der Akademisierung. Dabei fällt auf, dass sich die Argumente oft an Kategorien des Werts von formalen Abschlüssen, des Elitismus oder des Fachkräftemangels entzünden. Die eigentliche Essenz der Akademisierung, die Bildung, gerät hingegen in den Hintergrund. Dabei hängt, so unsere These, der gesellschaftliche Wert der Akademisierung gerade von dieser ab.

Eine Typologisierung der Bildung

Das gesellschaftliche Verständnis von Bildung und ihre Funktion hat sich im Laufe der Jahrhunderte also gewandelt, und mit diesem die Stratifizierung des Bildungssystems. Es lohnt daher, das gesellschaftliche Potential von Bildung isoliert zu betrachten. Auf einer ersten Ebene lassen sich dabei zwei unterschiedliche Zwecke erkennen, die die Bildung gegenüber dem Subjekt erfüllen kann: Das ist zum einen die Qualifizierung als Aneignung von bestehendem Wissen. Zum anderen können Bildungsansätze den Zweck haben, zur Reflexion des bestehenden Wissens anzuleiten, das heißt, kritisches Bewusstsein zu bilden.

Diese Unterscheidung eröffnet jedoch die Erkenntnis, dass Bildung unterschiedliche Anliegen an das Subjekt herantragen kann. Davon ausgehend lassen sich mit Theodor W. Adorno verschiedene Arten von Bildung feststellen: Qualifizierende Bildung definiert sich über die Begriffe der ‹Anpassung› an die materiellen Verhältnisse und der ‹Halbbildung›. In ihrer Reinform produziere diese «nichts anderes als ‹well-adjusted people›, wodurch sich der bestehende Zustand […] durchsetzt» (Kupfer 2011, S. 64). Diese aufs bloße Wissen abgezogene Bildung «wird neutralisiert, zur bloßen Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten und zur Steigerung des Warenwertes der Persönlichkeit eingespannt» (Horkheimer und Adorno 1994, S. 240). 

Das Gegenteil davon stellt sich hingegen in einer Art völlig unangepasster Bildung dar. In ihrer Reinform ließe sich diese als maximale Loslösung vom Anpassungsziel verstehen, damit aber gleichzeitig als ideologische Negierung der materiellen Verhältnisse (Adorno 1972) Die anti-aufklärerischen Proteste von sog. Corona-Leugnern stellen ein Beispiel für den Mechanismus dieser Bildung dar.

Letztlich spiegelt sich so die Dialektik der Aufklärung in der Konzeptualisierung der Bildung: Der aufklärerische Gedanke ist der Anpassung inhärent. Ihre positivistische Methode wird zur Sprache für die Beschreibung der Welt, ermöglicht technischen Fortschritt, und setzt Qualifizierung anhand bestehenden Wissens schließlich in gesellschaftlicher Breite durch. Gleichsam birgt dieser Prozess bereits den Keim der Barbarei, wie sie in der totalen Rationalisierung der Shoa zum Ausdruck kam. Bildung zur Mündigkeit als Befähigung zum kritischen Umgang mit dem Bestehenden bewegt sich schließlich notwendigerweise im beschriebenen Spannungsfeld zwischen Anpassung und Kritischem Bewusstsein, ohne dieses zu einer Seite hin aufzulösen. 

Akademisierung hin zur Mündigkeit

Wirkliche Mündigkeit ist für Adorno daher das Potential einer dritten Bildungsart. Diese bricht einerseits mit der bloßen ‹Selbsterhaltung ohne Selbst› (Adorno 2003, S. 115)  der Halbbildung, ohne sie dabei der Bildung gänzlich zu entziehen, was diese «ohnmächtig und ideologisch» machen würde (Kupfer, S. 64). Diese Art der Bildung beschreibt das, was wir als unser Verständnis ‹Akademischer Bildung› konzeptionalisieren.

Diese sollte viel mehr bedeuten, als nur eine Institution, ihre didaktischen Eigenheiten, oder einen formellen Abschluss, welche lediglich über historische Umstände zustande kamen.  Daher möchten wir keinesfalls so verstanden werden, als würde jene Vereinigung von anpassenden und kritischen Elementen in der Lehre bereits an landläufig akademisch genannten Universitäten praktiziert oder als würde sie in anderen Bildungsformen derzeit gar keinen Platz finden. Dennoch zeigt sich, dass Institutionen, die insbesondere auf die berufliche Qualifizierung und damit auf die anpassende Bildung spezialisiert sind, derzeit wenig Raum für kritische Anteile haben. Dies ist im Übrigen auch bei zahlreichen arbeitsmarktorientierten Studiengängen der Fall.

Die derzeitige Dynamik der Akademisierung, die davon lebt, Anreize zu setzen, um den Systemerhalt zu sichern, wird das Problem materieller Ungleichheit nicht lösen. Um Akademisierung in dem Sinne zu ermöglichen, das Bildung alle gleichermaßen zu mündigen Bürger*innen ausbildet, müssen zunächst die kapitalistischen Strukturen überwunden werden. Diese Strukturen werden durch das stratifizierte Bildungssystem verstärkt. Eine Verbesserung des Zugangs zu Bildung ist daher erstrebenswert.

In einer kritisch-aufgeklärten Gesellschaft müsste es die unterschiedlichen Institutionen, die vor allem der Erhaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der damit verbundenen Auf- und Abwertung von Bildungswegen dienen, nicht geben. Bildung wäre in einer gemeinsamen Institution vereint, die allen Lernenden anpassende und kritische Inhalte vermittelt. Je nach Interessenslage könnten Schwerpunkt auf die praktische Anwendung, sei es händisch oder formell, oder auf die theoretische Reflexion gelegt werden. Der Titel des erhaltenen Abschlusses könnte allerdings nicht institutionell vorherbestimmt sein. Wie er am Ende heißen möge, ist dann lediglich Formsache.

In einer gewissen Weise argumentieren wir also für die Akademisierung. Keinesfalls verstehen wir diese dabei jedoch nur als bloße Verlagerungen von Ausbildungen an Hochschulen, um bei Mangel an Fachkräften bessere Bezahlung in Aussicht zu stellen. In diesen Fällen sind die Anhebung der Löhne und Verbesserung der Arbeitsbedingungen das probate Mittel. Stattdessen stellt für uns akademische Bildung als die Verbindung von Anpassungszielen und Kritischer Bewusstseinsentwicklung einen Wert an sich dar. Diese sollte Zeit und Raum in allen Bildungsformen bekommen. So könnte auch in einer ungleichen Gesellschaft ein Beitrag dazu geleistet werden, das barbarische Potential der Aufklärung gering zu halten und eine gerechtere Gesellschaftsordnung anzustreben.

Bibliography

Adorno, Th W. 2003. Theorie der Halbbildung. In Gesammelte Schriften, vol. 8: Soziolofgische Schriften, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Hrsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W. 1972. Erziehung – wozu? In Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, S. 108 f. Frankfurt: Suhrkamp.

Baethge, Martin, und Andrä Wolter. 2015. The German skill formation model in transition: from dual system of VET to higher education? Journal for Labour Market Research 48: 97–112.

Becker, Rolf. 2014. Entwicklung des deutschen Bildungssystems im Überblick. bpb.de. https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/194145/entwicklung-des-deutschen-bildungssystems-im-ueberblick/ (Zugegriffen: 6. Mai 2023).

BMBF. 2023. Tabelle 2.5.23 – Datenportal des BMBF. Datenportal des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – BMBF. https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.5.23.html (Zugegriffen: 6. Mai 2023).

Caruso, Marcelo. 2019. Geschichte der Bildung und Erziehung: Medienentwicklung und Medienwandel. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Horkheimer, Max, und Theodor Wiesengrund Adorno. 1994. Dialektik der Aufklärung: philosophische Fragmente. ungekürzte Ausg. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.

Kupfer, Antonia. 2011. Theodor Adorno: Bildung ist Erfahrung machen. In Bildungssoziologie: Theorien – Institutionen – Debatten, 59–66. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Trelawny-Cassity, Lewis. 2023. Plato: The Academy. Internet Encyclopedia of Philosophy. https://iep.utm.edu/plato-academy/ (Zugegriffen: 5. Mai 2023).

Wren, A. 2020. Strategies for Growth and Employment Creation in a Services Based Economy: Skill Formation, Equality, and the Welfare State. In Growth and welfare in advanced capitalist economies, Hrsg. Anke Hassel und Bruno Palier, 275–280. New York: Oxford University Press.

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