Kritische Wissenschaft in Zeiten der Klimakatastrophe

Von Moritz Stockmar

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Über das Erfordernis und die Ausgestaltung einer kritischen Wissenschaft zur Abwendung der schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe

Auch im Frühjahr 2023 überschlagen sich die Nachrichtenmeldungen bezüglich der Klimakatastrophe. Jeden Tag wird man auf Kämpfe um Wasser in verschiedensten Teilen der Welt, Naturkatastrophen, wie beispiellose Waldbrände oder Überschwemmungen, oder Hitzewellen in Südasien, bei denen teilweise tödliche wet-bulb1 Temperaturen erreicht werden, aufmerksam. Diese Nachrichtenlage, die sich schon länger beobachten lässt, wird in Deutschland von der üblichen Bürokratie kontrastiert: Am 17. April 2023 veröffentlicht der «Expertenrat für Klimafragen» den «Prüfbericht zur Berechnung der deutschen Treibhausgasemissionen für das Jahr 2022» gemäß § 12 Abs. 1 Bundesklimaschutzgesetz2.

Im Bericht kommen die hochdotierten Wissenschaftler*innen des Rates zu der nüchternen Erkenntnis, dass das Umweltbundesamt bei der Berechnung der Treibhausgasemissionen wohl keine schwerwiegenden Fehler gemacht habe und die Emissionen insgesamt um 1,9% gesunken sind, sonst aber eigentlich alles ziemlich schlecht sei. Die meisten Einsparungen seien nicht systematisch durch Klimaschutzmaßnahmen zustande gekommen, sondern durch Wohlstandsverluste, durch hohe Energiepreise und eine «milde Witterung» –  gemeint sind viel zu hohe Temperaturen im Herbst und Winter. Der Ausbau erneuerbarer Energien schreitet nebenbei auch viel zu langsam voran. Wenige Stunden nach Vorstellung des Berichts verkündet dann ein Vize-Regierungssprecher, dass ein gesetzlich vorgesehenes Sofortprogramm, das für Sektoren, die ihre Emissionsziele nicht einhalten, vorgesehen ist, vom Bundesverkehrsministerium dieses Jahr nicht zu erstellen sei. Man habe im Koalitionsausschuss eine «andere Beschlusslage»3 herbeigeführt. Allzu genau mit den Gesetzen nimmt es die deutsche Bürokratie dann also doch nicht. 

Dass die Politik in Fragen der Klimakatastrophe nicht ausreichend auf die Wissenschaft hört, ist heute ebenso wenig eine neue Erkenntnis, wie es vor 50 Jahren gewesen wäre. Doch es gibt nun mal auch heute noch abwendbare Folgen der Klimakrise, an die man sich nicht mehr anpassen kann und nicht abwendbare Folgen, an die man sich aber anpassen kann. Es gibt also durchaus etwas, für das es sich zu streiten lohnt. Daher ist es höchste Zeit für eine Diskussion über die Möglichkeiten, die eine kritische Wissenschaft bietet, um die notwendige sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft zu begleiten und zu fördern.

Zum Verständnis der kritischen Wissenschaft 

Man findet heute wohl in keiner Domäne eine Wissenschaftlerin, die von sich behaupten würde, nicht kritisch zu sein. Denn zur modernen Wissenschaft gehört natürlich und richtigerweise die kritische innerwissenschaftliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien, Methoden und Herangehensweisen an Forschungsfragen. Positivismus, Falsifizierbarkeit und das Wissen um die letztendliche nicht-Beweisbarkeit von wissenschaftlichen Theorien sind seit der Etablierung des kritischen Rationalismus in den Natur- und Technikwissenschaft, aber auch weiten Teilen der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften als Teile des wissenschaftlichen Standardrepertoires grundsätzlich akzeptiert. Dadurch scheint sie , durchaus in der Lage zu sein, zu ungekanntem wissenschaftlichem Fortschritt, der nebenbei auch nicht gänzlich unschuldig an der Klimakatastrophe zu sein scheint4, zu führen. Dieser Kritikbegriff reicht nicht aus, um die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Natur adäquat zu beschreiben. Es braucht einen erweiterten Kritikbegriff, der in einer kritischen Wissenschaft mündet, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in ihrer Gänze hinterfragt und selbstbewusst Vorschläge zur Emanzipation aus diesen ausarbeitet. Die reine Beschreibung von einzelnen Missständen, oft unbenannte Symptome der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, reicht dafür genauso wenig aus, wie es ausreicht den eigenen Standpunkt als Wissenschaftler*in zu reflektieren. Denn genau hier unterscheidet sich eine kritische Wissenschaft von der aktuell vornehmlich praktizierten Spielart: Objektiv ist eben nicht, wer vermeintlich wertfrei, nicht-parteiergreifend und rein positivistisch das aktuelle Gesellschaftssystem in der eigenen Forschung reproduziert, sondern wer die zugrundliegenden vermeintlichen Sachzwänge und Naturalisierungen als solche entlarvt. Das «Sein» wäre durchaus änderbar, wenn man die Dekontextualisierungen und die in der eigenen Forschung mitschwingende Internalisierung des bestehenden Gesellschaftssystems hinterfragen würde, wenn man Ideologiekritik üben würde. 

Kritische Wissenschaft und die Klimakatastrophe

Kritische Theorie und Nachhaltigkeitsdebatten wurden bisher wenig systematisch zusammengedacht, was natürlich auch an den Entstehungskontexten der Kritischen Theorie liegt.5 In seiner Auseinandersetzung mit dieser Thematik beschreibt Christoph Görgs,  wie jene gesellschaftlichen Institutionen, die eine nachhaltigere gesellschaftlichen (Re-)Produktion fördern sollen, natürlich weiterhin nach dem Grundprinzip der kapitalistischen Verwertbarkeit agieren und damit einer inhärenten Irrationalität folgen. Eine Einsicht, die wohl sehr deutlich wird, wenn man bedenkt, dass der Kapitalismus sich momentan der eigenen Grundlage entzieht, indem er auf der Suche nach kurzfristigen Gewinnen alles aufs Spiel setzt. Diese Irrationalität gilt es genauestens aufzudecken, indem die «sprachlich-kulturelle» und «materiell-stoffliche»6 Vergesellschaftung der Natur in den Vordergrund gestellt wird. Grundsätzlich ist das problematische Verhältnis nur durch eine radikale Kritik der spezifischen Herrschaftsverhältnisse aufdeckbar.

Auch wenn die kritische Theorie bisher vor allem in den gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen angewandt wurde, darf man sich in Zukunft nicht auf diese beschränken. Dass die aktuelle naturwissenschaftliche Forschung mit ihrem extremen Verhaften am reinen Positivismus, wohl stark unter die obige Negativbeschreibung einer traditionellen Wissenschaft fällt, dürfte offensichtlich sein. Mit Blick auf die Herausforderungen, die die aufziehende Klimakatastrophe für die Wissenschaft bezüglich nötiger Forschung im Bereich der Abwendung und Anpassung darstellt, aber auch mit Blick auf die Herausforderung eine notwendigerweise effektivere, zielgerichtetere und letztendlich erfolgreichere Wissenschaftskommunikation zu leisten, dürfen die Potenziale einer Kritisch(er)en Wissenschaft nicht unterschätzt werden.

Praktische Ansätze einer kritischen Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe

Die Beschreibung konkreter Maßnahmen, die eine Kritische Klimawissenschaft leisten müsste, krankt an zwei Umständen. Erstens wird eine solch umfassende Krise von so vielen und diversen Disziplinen bearbeitet, dass eine einzige Aufzählung von konkreten Maßnahmen schwer vorstellbar scheint. Zweitens handelt es sich beim Streben nach einer Kritischen Wissenschaft an sich sowieso um ein Unterfangen, welches sich weniger in der Implementierung konkreter Maßnahmen, denn in einem Inhärent-Werden der zugrundeliegenden Einstellung, erschöpft. Maßnahmen, die zu einer Kritischen Wissenschaft führen, adressieren niemals die Forschenden allein, sondern stellen Aufgaben für das gesamte System dar. Das bestehende Drittmittelsystem, welches rein auf ökonomische Verwertbarkeit wert legt und damit eine Analyse von zugrundeliegenden Herrschaftsverhältnissen unabhängig von der konkreten Forschungsfrage im besten Fall als unnötig, im schlimmsten Fall als unerwünscht ansieht, verdeutlicht den Umstand. Kritische Wissenschaft kann also nur in einer Wissenschaft geleistet werden, die weitestgehend von wirtschaftlichen Interessen weitestgehend unabhängig ist.

Trotz der Diversität der Disziplinen lassen sich dennoch einige übergeordnete Forschungsziele und -methoden beschreiben, die dafür sorgen würden, dass alle Disziplinen einer Kritischen Wissenschaft näherkommen. Görg beschreibt beispielsweise, dass sie zur Aufgabe hätte, die Beziehung von Gesellschaft und Natur und die grundsätzliche Bedeutung letzterer für moderne Gesellschaften zu erforschen. Nur so können Fragen nach den bestehenden Herrschaftsverhältnissen, die für den Raubbau an Mensch und Natur verantwortlich sind, und die Überwindung dieser gestellt werden. Zugrunde liegt die Frage, warum der Mensch es nicht geschafft hat, die Natur vollständig nach seinen Vorstellungen zu optimieren, sondern die gegenteilige Entwicklung eintritt. 

Auch abseits von diesen Fragen, erarbeiteten  in den letzten Jahren  Akteur*innen7, die sich für eine bessere Klimawissenschaft einsetzen, Ansätze. In ihren Auseinandersetzungen spielen die „Interdisziplinarität“ und die Methodenvielfalt eine große Rolle. Die Idee, große Forschungsfragen über disziplinäre Grenzen  hinweg  anzugehen, ist keinesfalls neu und glücklicherweise gerade im Bereich der Klimaforschung auf dem Vormarsch. Das Nicht-Beschränken auf eine Disziplin, sondern das Betrachten der Probleme aus verschiedensten Herangehensweisen, sorgt sicherlich nicht nur für neue Lösungsansätze, sondern trägt dem umfassenden Wissenschaftsbild der Kritischen Theorie Rechnung. Dies  kann zu einem partiellen Ausbruch aus der reinen Verwertungslogik führen. Das weiterführende Konzept der (kritischen) «Transdisziplinarität» geht einen Schritt weiter und sorgt für die Integration von außerwissenschaftlichen Akteur*innen in die Forschung8. 

Jedoch sollte auch die Rolle der Lehre, die an Hochschulen und Universitäten einen Großteil der Entscheidungsträger*innen der Zukunft erreicht, nicht vernachlässigt werden. Massenvorlesungen, Auswendiglernen und Multiple-Choice tragen keinesfalls zur kritischen Bildung der Studierenden bei, sondern sind Ausdruck der kapitalistischen Verwertungslogik des Bildungssystems. An deren Stelle sind Seminare, die selbstständige Auseinandersetzung mit Themen und ein selbstbestimmtes Studium zwar kurzfristig teurer, aber stark zu bevorzugen und sicherlich langfristig gesellschaftlich nachhaltiger. 

Denn ganz gleich wie sich der oben benannte Expertenrat für Klimafragen hätte verhalten sollen, kann die Wissenschaft in einer Demokratie nur bessere Handlungswege aufzeigen und künftigen Generationen das Werkzeug an die Hand geben, um es besser zu machen. Eine wirklich Kritische Wissenschaft ist dafür die effektivste Herangehensweise. 

1 Die niedrigste Temperatur, auf die Flüssigkeiten bei gegebenen Bedingungen durch Verdunstung heruntergekühlt werden können. Gibt also an, inwieweit der menschliche Körper durch Schwitzen in der Lage ist, die Temperatur zu regulieren.

2 Expertenrat für Klimafragen (2023): Prüfbericht zur Berechnung der
deutschen Treibhausgasemissionen für das Jahr 2022. Prüfung und Bewertung der Emissionsdaten
gemäß § 12 Abs. 1 Bundes-Klimaschutzgesetz. Online verfügbar unter: https://www.expertenrat-
klima.de.

3 https://bit.ly/3LxEpgs (27.04.2023).

4 Diesem Gedanken wird bspw. von Theresa Schouwink im Essay „Frankfurt for Future“ (2021) nachgegangen: https://bit.ly/3oLHDnI (27.04.2023).

5 Christoph Görg. 2003. Dialektische Konstellationen. Zu einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Seite 39 – 62. In: Alex Demirovic (Hrsg.). Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Tradition und Perspektiven der Kritische Theorie. 2003.

6 Görg, S.40ff.

7 Für dieses Essay wurden Publikationen von „Scientists For Future“, „Students For Future“, „netzwerk n“ und „Institut für sozial-ökologische Forschung“ gesichtet und Gespräche mit Aktivist*innen geführt.

8 Genauer: Thomas Jahn. 2019. Kritische Transdisziplinarität und die Frage der Transformation. 

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