Kritische Wissenschaft? – Wie das Projekt einer politische Epistemologie gelingen kann

Von Lukas Thum 

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Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie eine jungsozialistische Perspektive auf das Verhältnis zwischen Wissenschaften und Gesellschaft aussehen kann, welche Fragestellungen aufkommen und wie wir versuchen können, sie zu beantworten. Dabei ist es zum einen wichtig, keine Utopie zu erfinden, sondern Wissenschaft in aktuellen gesellschaftlichen Kontexten zu denken. Daher soll im ersten Schritt (1) der Raum zwischen den Polen der Wissenschaftsleugnung und der Wissenschaftsverklärung, in dem diese Frage verhandelt wird, abgesteckt werden. Hieraus ergeben sich bestimmte Problemstellungen die vor allem mit einem idealistischen und ahistorischen Verständnis von Wissenschaft einhergehen. Dagegen sollen (2) Motive aus der feministischen Epistemologie skizziert werden, die um die Frage der Materialität und Objektivität von Wissenschaft kreisen. Anschließend sollen (3) die Konsequenzen dieser Motive für ein realistisches Bild der Wissenschaften beschrieben werden. Abschließend (4) möchte ich Möglichkeiten aufzeigen, wie Jungsozialist*innen unter dem Begriff der politischen Epistemologie hier ein Projekt starten können, Wissenschaft und Gesellschaft, Erkenntnis und politische Praxis zu aktualisieren, kritisch zu denken und emanzipatorisch zu transformieren.

Wissenschaftsleugnung oder Wissenschaftsverklärung?

Auf eine genaue Beschreibung von Corona-, Klimawandel- und anderen Wissenschaftsleugner*innen soll hier verzichtet werden. Nur so viel: Wissenschaft spielt in der deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine zentrale Rolle1. Nicht nur gehen schon seit einigen Jahren mehr als 50%2 eines Jahrgangs nach der Schule an eine Hochschule, um dort weiter zu lernen. Auch ist die Wirtschaft auf den Wissenschaftsstandort angewiesen. Synergieeffekte zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sollen genutzt und Innovationen zum Markt getragen werden.3 Und doch gibt es eine weitverbreitete Wissenschaftsskepsis bis hin zur -leugnung. Das reicht von Beispielen wie Globuli über die Skepsis gegen Erkenntnisse der Klimawissenschaften bis hin zu ihrer offenen Ablehnung.4 Das diese Haltungen nach Rechts offen sind, kann man nicht nur an kruden esoterischen Ideologien und alternativer Medizin sehen, sondern auch bei der Gruppe der Corona-Leugner*innen.5

Es scheint daher geboten, den Wissenschaften zur Seite zu springen und sie gegen ihre Skeptiker*innen und Feinde zu verteidigen. Das eine solche Verteidigung jedoch selbst nicht immer unproblematisch ist, macht folgende Diagnose Frieder Vogelmanns deutlich:

«Die Verteidigung wissenschaftlicher Praktiken gegen die grassierende Wissenschaftsfeindlichkeit tendiert also derzeit dazu, Wissenschaft als einheitliche und politisch neutrale empirische Forschungspraxis zu glorifizieren und gegen Kritik zu immunisieren. Der Leugnung von Wissenschaft steht so ihre Verherrlichung gegenüber.»6

Aus jungsozialistischer Perspektive scheint mir gerade die Kritik Vogelmanns an der Idealisierung der Wissenschaften als einheitliche und politisch neutrale empirische Forschungspraxis entscheidend zu sein. Eine Idee davon, wieso ein solches Verständnis Gefahren birgt und auf welche Probleme eine Alternative antworten muss, kann uns die feministische Epistemologie geben.

Motive der feministischen Epistemologie

Die feministische Epistemologie entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem, um patriarchale (Macht-)Verhältnisse in der Wissenschaft und den Ergebnissen dieser zu kritisieren. Dabei haben sich unterschiedliche Ansätze herausgebildet; von einem feministischen Empirismus7, einer poststrukturalistisch angehauchten8 und einer marxistisch beeinflussten Perspektive9, 10. Im Folgenden sollen Motive aus letzterer vorgestellt werden, hauptsächlich aus den Texten Sandra Hardings.

Zwei zentrale Motive in der feministischen Standpunkttheorie sind (1) die soziale Situiertheit von Wissen und (2) die Konzeption von starker Objektivität, die nun kurz beleuchtet werden sollen.

(1) Mit dem Problem konfrontiert, dass Wissenschaft diskriminierende und patriarchale Ergebnisse liefert, entwickelten Feminist*innen unterschiedliche Ansätze, um dies zu erklären und zu kritisieren. Einer dieser Ansätze ist, dass die Methoden der Wissenschaft in diesen Fällen einfach nicht konsequent genug angewandt wurden und so Vorurteile und Werte in den Prozess Einzug hielten. Was ist aber mit den Werten und Vorstellungen, auf denen diese Methoden gründen? Und reichen diese Methoden überhaupt aus, um klare wissenschaftliche Ergebnisse zu generieren?

Die These der Unterdetermination11 von wissenschaftlichen Theorien liefert auf genau diese Frage eine klare Antwort: Nein. Das Argument zielt auf die Verbindung zwischen Daten und Erklärung beziehungsweise Theorie ab. Klassischerweise wird davon ausgegangen, dass aus einem Satz an Daten eine klare Antwort folgt. Daten müssen jedoch interpretiert werden. Und auch das Erheben von Daten – nicht nur in den Sozialwissenschaften – ist theoriegeladen und damit nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Aus diesem Umstand und aus einem materialistischen Verständnis der gesellschaftlichen Formationen entwickelten die feministischen Standpunktheoretiker*innen die Idee von sozial situiertem Wissen.

«The situated-knowledge thesis asserts that social position shapes and limits what we can know because it influences the kind of experiences one has.»12

Wissenschaftler*innen sind an eine materielle Position in den gesellschaftlichen Verhältnissen gebunden. Sie erfahren die Welt nur aus dieser Position heraus, sie können also nur aus ihr Wissenschaft betreiben. Dadurch und durch die Unterdetermination kann die Entscheidung zwischen zwei Theorien in der Wissenschaft nicht alleine aufgrund einer rationalen idealistischen ahistorischen Checkliste passieren.

Dies hat zwei Konsequenzen für Wissen und Wissenschaft. Zum einen bedeutet es, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, aus denen der Untersuchungsprozess gestartet werden kann. Dabei – so die feministische Standpunkttheorie – sind einige epistemisch privilegierter als andere13. Dies wird oft mit einem Verweis auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik argumentiert. Die dominante Perspektive in einer Gesellschaft ist demnach epistemisch unterprivilegiert, weil sie zum einen sich selbst immer als universell und absolut denken muss, sich also selbst nicht kritisch reflektieren kann, zum anderen, da sie die Perspektive der subalternen Gruppen in einer Gesellschaft nicht erkennen kann. Dabei geht es jedoch nicht darum zu sagen, nur Angehörige der subalternen Gruppen sind in der Lage, diese subalterne Perspektiven einzunehmen. Es geht vielmehr darum, von diesen Perspektiven aus zu starten14.

Die zweite Konsequenz hat direkt mit der ersten zu tun. Dadurch, dass Wissen und Erkenntnis als sozial situiert beschrieben werden, verändert sich das Verhältnis zwischen Untersuchungsobjekt und -subjekt. War es vorher das nicht-materielle, universelle, ahistorische Subjekt, welches erkannt hat, ist es nun die Erkenntnis eines Subjektes, welches auf der gleichen ontologischen Ebene existiert wie das Untersuchungsobjekt. Die eigene Perspektive wird damit selbst immer mit zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung15.

(2) Aus dem Diskutierten leitet Sandra Harding die Idee der strong objectivity ab. Denn auf den ersten Blick scheint Wissen hier in einen Relativismus zu verfallen. Wenn Wissen und Erkenntnis davon abhängen, welchen Standpunkt eingenommen wird, dann kann zwischen den unterschiedlichen Aussagen nicht mehr anhand des Kriteriums Wahrheit unterschieden werden, sondern es wird zu einer bloßen Frage moralischer Durchsetzbarkeit in einer durch Aufmerksamkeitsökonomie strukturierten Öffentlichkeit16. Die Idee einer objektiven Wissenschaft scheint mit dem Akzeptieren einer historisch materiellen Idee von Wissenschaft zu fallen.

Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass der Begriff von Objektivität, der einer solchen Diagnose zugrunde gelegt wird, selbst schon nicht unproblematisch ist. Begegnet man einer materiellen Argumentation mit einem idealistischen Begriff von Objektivität, ist dies zum Scheitern verurteilt. Ein materieller und kollektiver Objektivitätsbegriff kann jedoch nicht nur dieses Dilemma auflösen, er ist auch – so Hardings Argument – wesentlich stärker. Wissenschaft aus der Perspektive der dominanten Gruppe, die sie als unpolitisch, idealistisch und ahistorisch denkt, kann eben nur zu begrenzten Erkenntnissen gelangen. Durch die Unfähigkeit, die eigenen epistemischen Grenzen zu erkennen, wird so Erkenntnis verzerrt und Objektivität zu einem Schleier, hinter dem sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verstecken können.

Wird dagegen die Barriere zwischen Untersuchungsgegenstand und Subjekt eingerissen und beide einer kritischen Reflexion unterzogen, können nicht nur die Grenzen unserer Erkenntnis erweitert werden, Wissenschaft kann auch erst dadurch zu einem wirklich kollektiven Unterfangen werden.

«All of the kinds of objectivity-maximizing procedures focused on the nature and/or social relations that are the direct object of observation and reflection must also be focused on the observer and reflectors – scientists and the larger society whose assumption they share. But a maximally critical study of scientists and their communities can be done only from the perspective of those whose lives have been marginalized by such communities.»17

Die Konsequenzen für ein realistisches Bild von Wissenschaft

Diese kurzen Einblicke in die feministische Standpunkttheorie zeigen, dass wir die Verklärung der Wissenschaft als Reaktion auf ihre Verleugnung nicht unkritisch übernehmen können.

Wir können der Verklärung der Wissenschaft als neutrale, empirische Forschungspraxis also eine Idee von Wissenschaft entgegensetzen, die sich durch Pluralität, Historizität und Kontextualität18 auszeichnet, die auch von Vogelmann als zentrale Aspekte eines realistischen Blicks auf Wissenschaft identifiziert wurden. Dies bringt uns zwei Vorteile. Erstens setzen wir so durch einen materiellen und kritischeren Begriff von Objektivität einen höheren Standard an Wissenschaft an, zum anderen wird Wissenschaft dadurch zu etwas Politischem, ohne dabei in Relativismus oder Dogmatismus zu verfallen. Die Perspektive der subalternen Gruppen in einer Gesellschaft einzunehmen und aus ihr Wissenschaft zu betreiben, ist an sich schon ein politischer Akt.

Die Rolle der Juso-Hochschulgruppen in diesem Projekt.

Wissenschaft liegt etwas grundlegend Progressives inne. Ihr Streben nach weiterer Erkenntnis und Wahrheit zwingt sie dazu, sich immer wieder in die Zukunft zu entwickeln – ob nach vorne oder zur Seite – und dabei nie stehen zu bleiben. Stellen wir uns den liberalen Verklärer*innen der Wissenschaften als unpolitisch, ahistorisch und idealistisch nicht entgegen, laufen wir nicht nur Gefahr, diesen progressiven Charakter zu verlieren, sondern wir hegen sie auch in das naturalisierende Korsett des liberalen Kapitalismus ein. Wissenschaft wird zum bloßen Reproduktionsapparat der gesellschaftlichen Formation, sie kann ihr Erkenntnisversprechen hier nur bedingt einlösen. Wir müssen uns jedoch auch gegen die politische Vereinnahmung der Wissenschaften wehren, da sonst ihr Charakter der Wahrheitssuche durch den des Postulierens von Dogmen abgelöst wird.

«Politische Erkenntnistheorie beginnt mit der Einsicht, dass Erkenntnistheorie ohne politische Philosophie idealistisch, politische Philosophie ohne Erkenntnistheorie dogmatisch ist.»19

Eine politische Epistemologie kann sowohl das politische Potential der Wissenschaften heben, ohne sie dabei ihrem Charakter zu berauben. Die Aufgabe der Juso-Hochschulgruppen kann es nun sein, 1. für ein realistisches Bild der Wissenschaften zu kämpfen und die Strukturen in den Hochschulen dahingehend zu hinterfragen sowie 2. Räume zu schaffen, in denen das Projekt einer politischen Epistemologie verfolgt werden kann um ihre eigene und die Praxis der Sozialdemokratie dahingehend zu informieren.

1 Was sich leider noch nicht in der Wertschätzung für Wissenschaftler*innen niedergeschlagen hat. Stichworte sind #ichbinhanna und TVStud.

2 Vgl. Statista. «Studienanfänger in Deutschland bis 2021/2022.» Accessed April 18, 2023. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4907/umfrage/studienanfaenger-in-deutschland-seit-1995/.

3 Was man bspw. an der neuen Innovationsstrategie des BMBFs erkennen kann. «Erstens müssen wir unsere Technologieführerschaft verteidigen und in Teilen auch neu erringen. Heute entscheidet sich, wer auf dieser Welt morgen und übermorgen internationale Standards setzt, wer mit Innovationen Geld verdient und damit auch den Wohlstand für die gesamte Bevölkerung fördert. […] Zweitens stärken wir den Transfer von der Forschung in die Anwendung. […] Und noch ein dritter Punkt: Wir müssen offen für neue Technologien sein. Wir sollten frei denken und alle guten Ideen einbeziehen, wenn wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken und unsere Wirtschaft angesichts eines harten globalen Wettbewerbs und ehrgeiziger Klimaschutzziele erfolgreich modernisieren wollen.»  (Bundesministerium für Bildung und Forschung, ed. Zukunftsstrategie Forschung Und Innovation. Berlin, 2023. https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/1/730650_Zukunftsstrategie_Forschung_und_Innovation.pdf?__blob=publicationFile&v=4.) In allen drei dieser Wünsche der Ministerin geht es um Anwendung, Wertschöpfung und Transfer in die Wirtschaft.

4 Mehr Beispiele gibt es  (Vogelmann, Frieder.  «Weder verleugnen noch verherrlichen: Für ein realistisches Verständnis wissenschaftlicher Praktiken.» Leviathan 50, no. 2 (2022): 297–320. https://doi.org/10.5771/0340-0425-2022-2-297. S. 298 ff).

5 Siehe hierzu bspw. den Verfassungsschutzbericht 2022 aus NRW  (Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, ed. Verfassungsschutzbericht NRW 2022. Düsseldorf, 2023. https://www.im.nrw/system/files/media/document/file/verfassungsschutzbericht_nrw_2022.pdf., S. 150).

6 Vogelmann, «Weder verleugnen noch verherrlichen,» S. 302.

7 Vgl. bspw.  Longino, Helen E. «Essential Tensions—Phase Two: Feminist, Philosophical, and Social Studies of Science.» In A Mind of One’s Own, 93–109. Routledge, 2002;  Longino, Helen E. «Can There Be A Feminist Science?» Hypatia-a Journal of Feminist Philosophy 2, no. 3 (1987): 51–64. http://www.jstor.org/stable/3810122.

8 Vgl. bspw. Haraway, Donna. «Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective.» Feminist Studies 14, no. 3 (Autumn 1988): 575. https://doi.org/10.2307/3178066.

9 Vgl. bspw. Harding, Sandra. «Rethinking Standpoint Epistemology: What Is ‘Srong Objectivity?’» The Centinnal Review, 1992; Harding Sandra.The Science Question in Feminism. Ithaca: Cornell University Press, 1986.

10 Ein guter Text, der zwei der Drei großen Strömungen miteinander Diskutiert ist  Intemann, Kristen. «25 Years of Feminist Empiricism and Standpoint Theory: Where Are We Now?» Hypatia 25, no. 4 (2010): 778–96. https://doi.org/10.1111/j.1527-2001.2010.01138.x.

11 Vgl. Intemann, Kristen, «Feminism, Underdetermination, and Values in Science.» Philosophy of Science 72, no. 5 (December 2005): 1001–12. https://doi.org/10.1086/508956; Harding, «‘Strong Objectivity’,» S. 346;  Vogelmann, «Weder verleugnen noch verherrlichen,» S. 304 und Duhem, Pierre. Ziel und Struktur der Physikalischen Theorien. Vol. 477. Felix Meiner Verlag, 1998, S. 245.

12 Intemann, «25 Years of Feminist Empiricism and Standpoint Theory,» S. 784.

13 Vgl. Harding, «Rethinking Standpoint Epistemology: What Is ‹Strong Objectivity?›» S. 443.

14 vgl. ebd., S. 445.

15 vgl. ebd.,, S. 458.

16 Wie dies leider immer wieder in vielen Teilen «links aktivistischer» Kreise zu sehen ist.

17 Harding, «Rethinking Standpoint Epistemology: What Is ‹Strong Objectivity?›» S. 459.

18 Siehe dazu auch Vogelmanns eigene Diskussion  (Vogelmann, «Weder verleugnen noch verherrlichen,» S. 302 f)

19 Vogelmann, Frieder. Die Wirksamkeit Des Wissens: Eine Politische Epistemologie. Erste Auflage. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2372. Berlin: Suhrkamp, 2022.

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