Auf dass die Atome uns verbinden mögen! 

Von Mateusz Merta
Übersetzt von Laura Clarissa Loew

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Warum auf Atomenergie gesetzt werden sollte

Vor einem guten Jahr, am 13. November 2021, findet mitten im Zentrum Berlins eine Demonstration statt. Die Teilnehmer*innen stammen unter anderem aus Belgien, Norwegen, Kalifornien, Irland, Frankreich, Kanada, der Slowakei und auch aus Polen – meinem Herkunftsland. Sie protestierten gegen die Abschaltung der letzten sechs deutschen Atomkraftwerke, die noch am Netz hängen. Auch Abgeordnete des polnischen Parlaments, Mitglieder der sozialdemokratischen Partei «Razem», sind mit dabei. Die Debatte rund um die deutsche Energieversorgung, erscheint sie doch zunächst wie eine innenpolitische Frage, erweckt internationales Interesse. Doch wieso ist das so? Woher rührt das Engagement gerade zentraleuropäischer politischer Akteur*innen und was erwarten sie sich von Deutschland? Der Krieg an der östlichen Grenze der Europäischen Union sowie die Herausforderungen der zwingend notwendigen ökologischen Wende erfordern von uns Europäer*innen in dieser Zeit, gemeinsame Antworten auf diese Fragen zu finden und unsere Zusammenarbeit zu intensivieren, um zu einer wirklichen Gemeinschaft zu werden. Um dies zu erreichen, müssen wir zunächst lernen, unsere unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen und anzuerkennen.

Atomstrom für die Umwelt

Während die Frage nach der Nutzung von Atomenergie große Spaltungen hervorruft, ist die Antwort vieler politischer Akteur*innen auf die Herausforderungen des Klimawandels relativ eindeutig: Das Pariser Klimaabkommen aus dem Jahr 2015 haben 195 Staaten unterzeichnet. Auch Deutschland und Polen gehören zu den Staaten, die sich dem Ziel verpflichtet haben, die globale Erderwärmung auf mindestens deutlich unter 2° Celsius zu begrenzen; angestrebt wird gar eine Erhöhung um nicht mehr als 1,5° im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Ich erwähne diese ambitionierten Ziele nicht ohne Grund, legen sie den Unterzeichnerstaaten doch eine große Verantwortung auf. Auch die Begrenzung der Temperaturerwärmung auf nur 2°, wie es die Mindestanforderung des Abkommens ist, kann nicht verhindern, dass viele Ökosysteme nachhaltig zerstört, Regionen unbewohnbar und viele Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben werden. Doch bereits dieses Ziel stellt uns vor riesige Herausforderungen – wir müssen bis zum Jahr 2030 die Treibhausgasemissionen um 50% reduzieren! Die vielen abstrakten und weit entfernt scheinenden Jahreszahlen in Abkommen dieser Art oder nationalen Transformationsstrategien verschleiern, dass die Rettung des Klimas ein Kampf ist, in dem jede noch so kleine Verspätung, jedes Stocken Einfluss auf Millionen von Menschenleben und hunderten von Ökosystemen auf unserem Planeten haben wird.

Eben hier kommt die Energie ins Spiel. Der Europäischen Umweltagentur zufolge stammen schwindelerregende 77,01% der verursachten Emissionen aus der Energiegewinnung. Es wundert also nicht, dass die Umstellung auf umweltfreundliche Energiequellen zu den Prioritäten globaler wie nationaler Klimapolitik gehört. Die Frage der Energiegewinnung steht damit an vorderster Front des Kampfes ums Klima – und im Zentrum der Diskussionen zwischen zentraleuropäischen und deutschen Akteur*innen rund um die Nutzung von Atomenergie. Im Jahr 2021 sind die Treibhausemissionen in Deutschland um 4,5% gewachsen, im Fall von Kohlekraftwerken stiegen die Ausstöße dabei sogar um 18%. Zur gleichen Zeit werden in Deutschland die letzten CO2-neutralen Reaktoren abgeschaltet, weil ihre Energieproduktion auf der Spaltung von Urankernen und nicht auf der Verbrennung von Kohle beruht.

Diese Zahlen sind für viele zentraleuropäische Gesellschaften, deren Wirtschaft in einem viel größeren Maße auf der Kohle beruht, schwer zu akzeptieren. Die ökologische Transformation wird in diesen Ländern einen noch größeren Kraftakt verlangen und schwerwiegende gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen. Das deutsche Beispiel schadet dem Vorankommen dieser Transformation in Zentraleuropa und auf dem ganzen Kontinent dabei enorm.

Erstens spielt es Klimawandelleugnern und Verschwörungstheoretikern in die Hände. Populist*innen spinnen sich gekonnt Märchen darüber zusammen, dass die europäische Klimapolitik die Energiesicherheit gefährde und die polnische Wirtschaft destabilisiere. Diese Argumentation à la «unsere Kraftwerke müssen abgeschaltet werden und selbst verbrennen sie viel mehr Kohle» fällt angesichts dieser Zahlen auf fruchtbaren Boden. 

Zweitens bedroht die deutsche Entwicklung die ökologische Transformation in Europa ganz unmittelbar und neutralisiert die vielen Maßnahmen, die zu diesem Zweck getroffen werden. Die Einsparungen, die durch das allmähliche Abschalten von Kohlegruben und -kraftwerken in Polen und anderen Ländern erzielt werden, werden zum großen Teil aufgefressen durch die Kompensation der ausfallenden Kernreaktoren, basiert diese doch auf dem Ausbau von Erdgas- und Braunkohleförderung. Der deutsche Atomausstieg bremst und bedroht die gesamteuropäische ökologische Transformation also sowohl auf der symbolischen wie auf der faktischen Ebene. Eine solche Verzögerung können wir uns beim Kampf gegen den Klimawandel schlichtweg nicht leisten, steht doch das menschliche Überleben auf unserem Planeten auf dem Spiel.

Atomstrom für die Sicherheit

Etwa 285 Millionen Dollar – so viel verdiente die Russische Föderation in den ersten Monaten der Invasion auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine durch den Export von Erdgas. Diese Summe wurde Tag für Tag einem Staat bereitgestellt, der ukrainische Zivilist*innen ermordet, Städte und Dörfer in der Ukraine zerstört und Kriegsverbrechen in seinem Nachbarland verübt. Jetzt, nachdem die russischen Gaslieferungen nach Europa größtenteils gestoppt wurden, benutzt Russland die Energiefrage als Waffe und richtet sie gegen Millionen europäische Haushalte, die sich vor dem kommenden Winter fürchten.

Was schon lange vermutet wurde ist nun offensichtlicher denn je: Fossile Brennstoffe tragen nicht nur zur Klimazerstörung bei, sondern finanzieren auch blutige Diktaturen und Kriege auf der ganzen Welt. Eine ehrliche Bewertung der europäischen Energiepolitik ist damit so notwendig wie nie zuvor, denn als Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern Frieden und Sicherheit garantieren soll, haben wir versagt. Die Europäische Union hat Russland den Weg zu seinen aktuellen Verbrechen durch ihre Politik erst geebnet. Sie hat den Kreml als ganz gewöhnlichen Wirtschaftspartner behandelt, russischen Oligarchen Tür und Tor geöffnet, die eigene Energieversorgung von Russland abhängig gemacht und schließlich die Augen verschlossen vor den Gräueln, die der russische Staat in Tschetschenien, Georgien und schließlich der Ukraine begangen hat. Der naive Traum von der günstigen und einfachen Energieversorgung für Europa platzte mit dem Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine und offenbarte seine blutigen Konsequenzen.

Da wir die Problemquelle also analysiert haben, müssen nun auch Taten folgen: Europa unabhängig von fossilen Brennstoffen und damit auch autoritären Systemen zu machen, ist ein essenzieller Bestandteil unseres Bemühens um Frieden und die Gewährung der Menschenrechte auf der ganzen Welt. Für uns in Polen, die wir uns sowohl an der Ostflanke der NATO als auch der Europäischen Union befinden, ist dieser Aspekt besonders wichtig. Schließlich sind wir es, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft durch das imperialistische Handeln Wladimir Putins bedroht sind – und nicht nur indirekt. Die menschliche Tragödie des Krieges zeigt sich auch in Polen deutlich: seit Beginn des Krieges sind wir drei Millionen mehr. Drei Millionen ukrainische Freund*innen, die in unserem Land Zuflucht gefunden haben, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, mit denen und durch die wir diese Katastrophe erleben. Es liegt in der Verantwortung der europäischen Entscheidungsträger, für diese Millionen von Flüchtlingen, für die Sicherheit Europas und nicht zuletzt für das Klima, uns endlich von fossilen Brennstoffen loszusagen.

Doch solche weitreichenden Veränderungen können nicht ohne Atomkraft erfolgen. Wenn wir einerseits nach und nach auf emissionsreiche Energieträger und fossile Brennstoffe verzichten wollen und gleichzeitig jedoch auf Kernkraft als stabile und vergleichsweise saubere Option verzichten, dann verbauen wir uns den Weg zu unseren Zielen – dem Schutz des Klimas und der Energiesicherheit Europas. Denn die Atomkraft ist nicht nur eine emissionsarme Alternative, sondern produziert auch große Mengen günstiger Energie und hat somit einen stabilisierenden Effekt. 

Lasst uns den Atomstrom wieder zu einer Alternative machen!

Der Supergau ist heutzutage nur noch ein Science-Fiction Szenario. Die modernsten Atomkraftwerke haben nichts mehr mit der Technik zu tun, die wir noch aus Tschernobyl oder Fukushima kennen. Sie verfügen über passive Sicherheitssysteme, die selbst ohne Energiezufuhr von außen die Kühlung der Reaktoren gewährleisten. Die Risiken aus der Anfangszeit der Kernenergie sind damit gebannt.

Der Atomstrom ist damit ein Werkzeug, ein Puzzleteil, das wir verwenden können – und meiner Meinung nach sogar sollten – um Europa zu einer ökologischen Gemeinschaft zu machen, die ihren Bürger*innen Sicherheit und vor allem Wohlstand gewähren kann. Diese Ziele sollten wir nie aus den Augen verlieren und für die Sicherung ebendieser Werte setzt sich die polnische Linke für die Erhaltung der europäischen Atomenergie ein. In diesem Sinne und als Einsatz für international geteilte linke Werte sind auch die Vorschläge der Partei «Razem» über die Zukunft der Kernenergie in Europa zu verstehen. «Razem» fordert darin ein Moratorium für die Abschaltung von Atomkraftwerken und schlägt vor, dass Polen diejenigen deutschen Kernkraftwerke pachten könne, die sich in der Nähe der Grenze befinden. Atomkraft sollte nicht zur (Kern-)Spaltung der Linken führen, sondern uns vielmehr fusionieren im Einsatz für Menschenrechte, Sicherheit, Wohlstand, die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und die Bewahrung des Planeten. Es geht also um eine progressive Perspektive auf die Atomenergie – auf dass die Zukunft uns verbinde!

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