Editorial: Zeitenwende oder Lernprozess durch Perspektivenwechsel

Von Hendrik Küpper und Laura Clarissa Loew

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In der politischen Debatte werden seit dem Angriff Russlands auf das gesamte Territorium der Ukraine am 24. Februar 2022 immer wieder Metaphern des radikalen Wandels bemüht – ob «Zeitenwende» oder «Epochenbruch», es ist klar, dass bisherige Gewissheiten auf den Kopf gestellt wurden. Dieses Narrativ wird begleitet durch die entsetzten Beteuerungen, man hätte diese Entwicklung doch nicht vorahnen können. Nun stimmt es, dass ein mit konventionellen Waffen geführter Angriffskrieg in diesem Ausmaß tatsächlich ein Szenario war, dass sich nur wenige haben vorstellen können. Doch die Entwicklung Russlands zu einem immer autokratischeren Regime, dessen pseudohistorisch begründeten imperialen Großmachtansprüche – immer wieder unterstrichen durch tatsächliche militärische Interventionen in Georgien oder der Ostukraine – und die Vernachlässigung der Sorgen und Perspektiven vieler Staaten in Mittel- und Osteuropa waren Phänomene, auf die ExpertInnen in den letzten Jahren immer wieder verwiesen haben. Und nicht nur die SPD oder eine weiter verstandene linke Bewegung, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit1 muss sich dem Vorwurf des Nicht-Sehen-Wollens, der verweigerten Perspektiveinnahme stellen.

Bereits bei vermeintlich einfachen Dingen wie der geographischen Einordnung wird dies deutlich. Nur wenige ZuschauerInnen der US-amerikanischen Kultserie «Friends» werden sich wohl gewundert haben, dass David, die Affäre der hippieesken Phoebe, einen Forschungsauftrag in Minsk (auch damals schon die Hauptstadt von Belarus) annimmt, um dann «to Russia» zu fliegen. Dass Prag und Zagreb westlicher als Wien liegen ist ein Umstand, der die innere Landkarte Vieler wohl erstmal durcheinanderbringt und auf die Frage nach der Herkunft antworteten viele BelarusInnen, KazachInnen oder UkrainerInnen meistens einfach «Russland», um sich nicht lange erklären zu müssen. Der «Raum» Osteuropa ist eben keine geographische Setzung, sondern viel öfter eine politische Zuschreibung. Alles «hinterm eisernen Vorhang», von Warschau bis Wladiwostok, wird dann schnell mal unter einem Oberbegriff versammelt. Als gemeinsame Kriterien sollen dann eine einheitliche Religion oder Sprachgruppe gelten, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung dieses Territoriums weder slavisch-sprachig noch christlich, noch orthodox ist. Oder das Label «post-kommunistisch», das die Länder nicht nur auf diesen einzigen Aspekt ihrer Geschichte reduziert, sondern auch das blockfreie Jugoslawien mit dem Satellitenstaat Ungarn oder der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik auf eine Stufe gestellt. 

In der wissenschaftlichen Debatte haben sich zum Zwecke der Differenzierung verschiedene Begriffe gebildet. Traditionell ist hier die Dreiteilung in den Oberbegriff «Osteuropa» sowie die Unterordnungen in Südost- und Ostmitteleuropa, wobei die geographischen Trennlinien oft nur schwer zu ziehen sind. Und auch zu diesen Begriffen gibt es alternative Gruppierungskonzepte. So wurde für die Kategorie, die sich sowohl auf Gemeinsamkeiten frühneuzeitlicher Herrschafts- und Gesellschaftsorganisation wie auch der Notwendigkeit nach Abgrenzung von der Sowjetunion bezieht, die Alternative «Zentraleuropa» entwickelt (die von den entsprechenden Staaten auch gerne als Eigenbezeichnung genutzt wird). Dieser Begriff bezieht sich auf den historischen Einflussbereich des Habsburger-Reiches und versucht, Blockdenken zu überwinden.2 Ein anderer Versuch der Eingruppierung ist bspw. der Vorschlag der «Schwarzmeerregion», die sich – beispielsweise analog zum Mittelmeerraum – um ein großes Gewässer bildet.3 Und schließlich werden auch diese Zuordnungsversuche im Allgemeinen regelmäßig in Frage gestellt und ihre Auflösung postuliert – historische oder politische Zusammenhänge sollten stattdessen anhand anderer Kriterien gesammelt und verglichen werden.4 

Nun ist besonders der Erhalt einer kollektiven Identität zur gemeinsamen strategischen Interessenvertretung ein Umstand, der zumindest auf politischer Ebene solche Sammelbegriffe noch einige Zeit notwendig machen wird, und schließlich arbeitet auch diese Ausgabe damit. Diese Erläuterungen sollen jedoch auf die Konstruiertheit der Begriffe verweisen und die Augen für die Diversität und Uneinheitlichkeit werfen, die sich hinter dem Begriff «Osteuropa» verbirgt und die auch in dieser Ausgabe der «jungen perspektiven» zum Ausdruck kommen soll. Nicht ganz ohne den unvermeintlichen Blick in die Vergangenheit möchten wir in die Zukunft schauen: darauf, wie sich linke und progressive Bewegungen in Osteuropa entwickeln und wie sich der deutsche Blick auf diese Region verändern muss. Wir möchten nicht nur «junge», sondern auch «neue» oder bisher vielleicht zu wenig berücksichtigte und eingenommene Perspektiven auf Osteuropa zu Wort kommen lassen. 

Denn individuelle und kollektive Lernprozesse können nur erfolgen, wenn die Perspektive des Anderen anerkannt und miteinbezogen wird, wozu wir mit dieser Ausgabe einen Beitrag leisten wollen. Die Auseinandersetzung mit osteuropäischen Perspektiven hat also auch zum Ziel, neue Einsichten und Erkenntnisse zu fördern und das absolute Setzen der eigenen Perspektive kritisch zu hinterfragen. 

Zunächst aber beginnt diese Ausgabe mit zwei theoretischen Beiträgen, die im Anschluss an den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine den Zustand und das Potential verschiedener Theorieschulen der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen beleuchten. Leon Billerbeck vergleicht hierzu in seinem Artikel im ersten Teil den Realismus mit dem Liberalismus und argumentiert anschließend, dass wir uns auf dem Weg hin zu einem zweiten Zeitalter des Realismus befinden. Auch Maria Dellasega beleuchtet verschiedene Theorieschulen. Allerdings um im Anschluss Grenzen und Chancen postkolonialer Perspektiven im Hinblick auf die derzeitige weltpolitische Lage zu reflektieren.

Im anschließenden Teil gehen junge OsteuropaexpertInnen und AktivistInnen auf konkrete Entwicklungen in der Region ein. Sie diskutieren Potentiale progressiver und sozialdemokratischer Bewegungen, ordnen exemplarisch länderspezifische Debatten in den europäischen Kontext ein und beleuchten zentrale Herausforderungen und Risiken.

Einleitend für diesen Teil steht der Artikel von Laura Clarissa Loew, die den bisherigen politischen und wissenschaftlichen Blick auf Osteuropa kritisiert, aktuelle Tendenzen in Diskursen reflektiert und eine neue Art der Auseinandersetzung mit der Region fordert. Dem Artikel schließt sich der Beitrag von Polina Gordienko an, die aufzeigt, wie ein demokratischer Wandel in Belarus den Krieg in der Ukraine hätte verhindern können. Anschließend folgt in vier Fallbeispielen die Auseinandersetzung mit aktuellen linken Bewegungen in osteuropäischen Ländern. Den Anfang macht Domas Lavrukaitis mit einem Essay über hochschulpolitisches Engagement in Litauen und dessen Parallelen zur ostdeutschen Hochschulpolitik. Daran anschließend reflektiert Kajetan Stobiecki die desolate Lage der tschechischen Linken, in der sie sich seit einigen Jahren befindet, und zeigt Wege auf, wie diese überwunden werden kann. Auch mit der Lage linker Kräfte beschäftigt sich Lusine Vardanyan in ihrem Artikel. Sie stellt die Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung in Armenien dar und konstatiert die Notwendigkeit einer sozialdemokratischen Kraft in der Gegenwart. Den Abschluss dieses Quartetts bildet Luisa Klatte, die über den Kampf gegen die immer stärkere Eingrenzung von Schwangerschaftsabbrüchen berichtet. 

Abgeschlossen wird die Ausgabe mit einer Kontroverse über Atomenergie. Während Mateusz Merta erläutert, warum die polnische Sozialdemokratie auf Atomenergie setzt, hält Carsten Schwäbe dagegen und argumentiert innovationsökonomisch einerseits, dass erneuerbare Energien fokussiert werden sollten und begründet andererseits, warum Deutschland aus der Atomenergie aussteigen sollte. Auch der Artikel von Linda Brüggemeyer über die soziale Lage von Studierenden in der Rubrik «Hochschulperspektiven» ist Teil dieser Ausgabe der «jungen perspektiven». Erneut ist damit auch wieder ein Mitglied der Juso-Hochschulgruppen in der Rubrik vertreten, was einmal mehr für die gute Zusammenarbeit spricht.  

Wir konnten in dieser Ausgabe selbstverständlich nur ausschnittsweise und punktuell auf aktuelle Phänomene in Osteuropa eingehen. Dabei ist beispielsweise auch eine eingehendere Beschäftigung mit Russland oder der Ukraine zu kurz gekommen, obwohl der Anlass unserer Fokussetzung in dieser Ausgabe auch der aktuelle russische Angriffskrieg auf die Ukraine war, der auf brutalste Weise das Licht auf diese Region gewendet hat. Doch im Rückgriff auf die Vergangenheit und in kritischer Auseinandersetzung haben wir den Blick nach vorne gewagt und hoffen mit dieser Ausgabe einen Beitrag dazu geleistet zu haben, bisher zu wenig beachteten Perspektiven auf Osteuropa Aufmerksamkeit zu verschaffen, um aus den Fehlern der Vergangenheit lernen zu können, um die Gegenwart verstehen und die Zukunft besser gestalten zu können.   

 

1 Ob die deutsche Öffentlichkeit symptomatisch für die Wahrnehmung Osteuropas im «Westen» ist oder mit ihrem einseitigen Fokus auf Russland und den lange nur unter Zähneknirschen abgegebenen Gebietsansprüche in Zentraleuropa sogar ein besonders extremes Beispiel der Ignoranz darstellt, wäre zu diskutieren.

2 Vgl. Ther, Philipp: Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa – Kulturgeschichte als Area Studies, in: H/Soz/Kult, 02.06.2006, https://www.hsozkult.de/article/id/artikel-739 [22.11.2022].

3 Troebst, Stefan: The Black Sea as Historical Meso-Region: Concepts in Cultural Studies and the Social Sciences, in: Journal of Balkan and Black Sea Studies 2 (2019), S. 11-29.

4 Vgl. z.B. Krzoska, Markus/Lichy, Kolja/Rometsch, Konstantin: Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History / Zeitschrift für moderne europäische Geschichte / Revue d’histoire européenne contemporaine 16 (2018), Nr. 1, S. 40-63.

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