Müssen wir nun doch alle Realist*innen werden? Eine theoretische Einordnung des Ukraine-Konflikts

Von Leon Billerbeck

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«Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage.»1 Ein kurzer Absatz in einer Regierungserklärung, der, zumindest für die Bundesrepublik, wohl aber auch für all ihre Partner*innen in den internationalen Beziehungen, eine riesige Bedeutung haben sollte. Mit dem Wort Zeitenwende prägte Olaf Scholz ein anfangs resolutes und schnelles Durchgreifen und eine Zäsur in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Bewusst setzte er damit ein Zeichen, sowohl an die Verbündeten der Bundesrepublik als auch an ihre internationalen Antagonist*innen. Das Zeichen sollte klarmachen, dass ab sofort und in Zukunft mit Deutschland als internationalem Akteur mit einem gewissen Führungsanspruch zu rechnen sei. 

Die Bundesrepublik ist seit Jahren ein innenpolitischer Riese, der sich außenpolitisch vor der eigenen Verantwortung wegzuducken versucht. Hierbei handelt es sich der Meinung zahlreicher Expert*innen zufolge um ein strukturelles Problem der Bundesrepublik, die in stetigem Konflikt zwischen ihrer historischen Verantwortung und den sich daraus ableitenden moralischen Implikationen zu verweilen scheint.2 Eine offene Diskussion ist beispielsweise zu der Frage, was es aus deutscher Perspektive eigentlich heißt, in Kriegshandlungen verwickelt zu sein bzw. sich selbst als eine pazifistische Nation zu begreifen, niemals zustande gekommen. Der Bundeskanzler setzte mit seiner Rede nun ein klares Zeichen und verband die Zeitenwende mit Handlungen. Konkret sprach sich Scholz in seiner Rede für die Lieferung von Waffen an die Ukraine aus und kündigte ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Ausrüstung der Bundeswehr an.3 

Unstrittig ist, dass die Maßnahmen der Bundesregierung als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine zu deuten sind. Sicherlich wären solch weitreichende Veränderungen des bisherigen außen- und sicherheitspolitischen Kurses – allen voran unter Regierungsbeteiligung der Bündnisgrünen – ohne einen Krieg auf europäischem Boden nur schwer denkbar gewesen. Nicht umsonst merkt Scholz in seiner Rede an, dass die Welt nach dem 24. Februar 2022 nicht mehr dieselbe ist. 

Was bedeutet schon Realismus?

Betrachtet man die genannten Veränderungen aus einer theoretischen Perspektive der internationalen Beziehungen (IB), so muss der zeitliche Bogen ein wenig weiter gespannt werden. Der grundlegende Konflikt besteht zwischen normativen und rationalistischen Theorien innerhalb der IB, welche im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in der politikwissenschaftlichen Forschung stets abwechselnd vorherrschend waren. Wie sich aus den Bezeichnungen beider Theoriebereiche ableiten lässt, hat eine Theorie den Anspruch, die Welt der IB zu beschreiben, wie sie wahrgenommen wird (rationalistisch), wohingegen die Theorien des anderen Bereichs eher ein Bild der zwischenstaatlichen Beziehungen zeichnet, wie sie bestenfalls sein sollten (normativ). Die Grobunterscheidung in diese beiden Bereiche ist die Grundlage der unterschiedlichen, weiter ausdifferenzierten Theorien, die im Laufe des Artikels nochmals näher beleuchten werden.4 

Konkret gesprochen trägt es zum Verständnis bei, wenn wir das 20. Jahrhundert in die oben genannten unterschiedlichen Epochen einteilen. Die Jahre zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, also ab 1918 bis knapp 1939, waren geprägt von dem normativen Wunsch nach internationaler Kooperation und einer Art Weltregierung. Im Hinterkopf hatten die Staatenlenker*innen (nicht nur in Europa) einen Weltkrieg, der auf unterschiedlichen Ebenen vermeidbar gewesen wäre, wenn man sich frühzeitig in internationalen Organisationen ausgetauscht und somit gegenseitiges Verständnis erzeugt hätte. Der insbesondere unter der Initiative des 28. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, gegründete Völkerbund war ein Exempel für die Bemühungen. Mit dem Aufkommen von Faschismus und nationalistischen Trends in Europa gingen die Anstrengungen allerdings unter und eine neue Ära in den internationalen Beziehungen brach an. Geprägt war die Zeit ab 1939, deutlicher noch ab 1945, von der Fixierung der einzelnen Staaten auf die Konsolidierung der eigenen Macht. Folgt man dem deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler Henry S. Morgenthau, so stellte der kalte Krieg die Geburtsstunde des Realismus als Theorie der internationalen Beziehungen dar.5 

Der Realismus in den internationalen Beziehungen ist eine Ausprägung der rationalistischen Denkschule. Realismus wird in Abgrenzung zu zahlreichen anderen Theorien als «große» Theorie der internationalen Beziehungen angesehen. Dies bedeutet, dass mithilfe nur dieser einen Theorie, ohne Zuhilfenahme von weiteren Ideen, die Welt in ihrem aktuellen Zustand erklärt und eingeordnet werden kann.6 Realismus in den internationalen Beziehungen baut auf eine Weltsicht, die auf die Überlegungen von Thomas Hobbes zurückgeht. Grundlegend befindet sich die Welt nach Morgenthau, einem der bedeutendsten Denker der realistischen Schule, in einem anarchischen Zustand. Das soll bedeuten, dass es neben den staatlich verfassten Nationen keine ordnende Instanz auf der höheren Ebene gibt. Entsprechend interagieren die Staaten aus eigenem Antrieb miteinander. Nach Morgenthau spielen Macht und Machtausbau hierbei die entscheidende Rolle. Die grundlegende Motivation von unterschiedlichen Staaten ist stets ihre Macht zu konsolidieren bzw. zu erweitern – um damit unter anderem die eigene Bevölkerung zu schützen. Kleine Staaten schließen sich nach Kenneth Waltz einer großen Supermacht im Sinne des Selbstschutzes an. Diesen Prozess bezeichnen (Neo-)Realist*innen dann als Bandwagoning.7 Hiermit lässt sich die klassische Blockbildung, die sich während des kalten Krieges vollzog, erklären. 

In den Blick genommen werden von den realistischen Theoretiker*innen nur Staaten als Black-Boxen, die ein Gesamtinteresse verfolgen und in ihrer Entscheidungsfindung nicht von anderen Akteur*innen wie NGOs oder der Wirtschaft abhängig sind. Grundlage für Frieden ist nach dieser Theorie folglich immer nur ein negativer Frieden. Besonders durch die Entwicklung von Atomwaffen hat sich diese Situation noch weiter verschärft, weil sich die Staaten, welche sich gegenüberstehen, sicher sein können, dass die Kosten eines Atomwaffeneinsatzes ihren Nutzen in eigentlich jedem Falle überwiegen. 

Insgesamt sollte der kalte Krieg, und damit der Antagonismus zwischen kapitalistischem Westen und sowjetsozialistischem Osten, über 40 Jahre andauern und in der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 (in einer Holzhütte in Belarus) gipfeln.8 Damit schien nicht nur, wie Fukuyama großspurig schrieb, das Ende der Geschichte erreicht und eine unipolare Welt geschaffen, sondern auch die Grundlage des Realismus schien entfallen zu sein.9 Betrachtet man die Geschehnisse, so waren im Anschluss an den Zusammenbruch der Sowjetunion alle Staatslenker*innen darauf bedacht, auf die sich öffnenden Märkte der Staaten hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang zu strömen und die sich neu konsolidierenden Staaten in das Wirtschafts- und Wertekonstrukt des Westens einzubinden.

Ihrer faktischen Grundlage beraubt, sahen sich Theoretiker*innen des Realismus in den internationalen Beziehungen nun von unterschiedlichen Seiten angegangen. Die Welt war nun weniger auf Konfrontation, stattdessen eher auf Zusammenarbeit aus. Die Ziele der Staaten waren eher auf die Zukunft gerichtet und Wirtschaft und Wohlstand waren ähnlich wie bei den westlichen Ländern, deren Unternehmen in sie expandierten, die normativen Ziele der ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Geschehnisse ließen sich ab diesem Zeitpunkt mit der Theorie des Liberalismus bzw. des liberalen Intergouvernementalismus in den IB besser erklären als mit realistischen Ansätzen. Geht man von einem grundlegenden Theorienpluralismus aus, so ist es sicherlich sinnvoll, die Theorie des Liberalismus mit sozialkonstruktivistischen Elementen zu vermengen. Wie wir oben bereits herausgearbeitet haben, ging mit dem Erfolg des kapitalistischen Wirtschaftssystems auch immer ein Sieg der (mehr oder minder) liberalen Demokratie einher. Im Liberalismus spielen beide Bereiche eine wichtige Rolle. Zum einen geht der Liberalismus auch von einer grundlegend anarchischen Weltordnung aus, in der sich voneinander unabhängige Staaten bewegen. Zum anderen hält er allerdings auch die Bedeutung von unterschiedlichen Organisationen auf der internationalen Ebene hoch. Als Beispiele hierfür sind neben den Vereinten Nationen auch die Europäische Union oder die NATO zu nennen.10 

Ganz egal, auf welchen Grundlagen oder für welche begrenzten Themengebiete die Zusammenschlüsse gegründet worden sind, so ist stets davon auszugehen, dass durch einen sogenannten Spill-Over-Effekt neben den eigentlichen Zielen auch Werte und Normen in andere Bereiche übertragen werden. Ein klassisches Beispiel, welches von Andrew Moravcsik, einem der bekanntesten Theoretiker des Liberalismus in den internationalen Beziehungen, immer wieder zu Rate gezogen wird, ist die Entstehung der EU. Basierend auf den Verträgen zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl waren die teilnehmenden Nationen bereit, immer weitere Kompetenzen – und damit auch immer mehr Souveränität – abzugeben. Dies sei kein Phänomen, das über Nacht entstanden sei, sondern das sich durch das stetige Arbeiten und Überschwappen auf der transnationalen Ebene entwickelt hat.11 Betrachtet man mit der Theorie die Jahre nach Ende des Kalten Krieges, so lässt sich der Wille zur Einbindung der ehemaligen Sowjetstaaten klar erkennen. Neben der Erweiterung der EU und des Europarates stand auch die Erweiterung der NATO gen Osten – ja sogar eine Ergänzung der NATO um Russland – im Raum.12 Eine Forderung, die übrigens auch von Vladimir Putin artikuliert worden ist.13 Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar ist die Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland in zahlreichen Bereichen gekappt. Fraglich ist nun, ob wir darin bereits das Ende des Liberalismus und eine Rückkehr zum Realismus sehen können?

Der Neuanfang der Geschichte

Bedeutete das Wegfallen der Systemkonkurrenz im Jahre 1990/1991 das Ende der Geschichte, so kann der Beginn des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine im Jahre 2022 vielleicht als Neuanfang der Geschichte bezeichnet werden. Es ist allerdings nicht so, dass sich diese geopolitische Veränderung nicht angekündigt hätte. Seit Jahren erstarken rechtspopulistische Parteien auf der ganzen Welt. Unsere westlich-eurozentristische Perspektive hat dafür gesorgt, dass wir besonders die erstarkenden Rechtspopulist*innen in Italien, Frankreich, Deutschland und den USA wahrgenommen haben. Gemein hatten diese Strömungen neben der nativistischen Auffassung von Staatsbürger:innenschaft auch eine sehr nationalistische Prägung der Außenpolitik. Viele populistische Bewegungen, ob von rechts oder links, sind verbunden in der Meinung, dass die Globalisierung viel zu sehr den anderen diente. Dabei ist es ein bewusstes Stilmittel, nicht weiter darauf einzugehen, wer die besagten anderen eigentlich sind. Hierin haben unterschiedliche Politikwissenschaftler*innen immer wieder eine Bedrohung für die liberale Demokratie, wie wir sie bisher kannten, gesehen und benannt.14 Ganz davon ab gestaltet sich die internationale Ordnung durch einen aufstrebenden Player im fernen Osten, der Volksrepublik China, auch nochmals anders. Russland büßt seinen Großmachtstatus als Systemkonkurrent der USA zunehmend an China ein.

Was sich konstatieren lässt, ist Folgendes: Die Ukraine ist eine aufstrebende Nation, die sich gerne dem Westen mitsamt seiner politischen Versprechungen und den damit einhergehenden Idealen anschließen möchte. Die russische Föderation ist seit Jahren darauf bedacht, seine alte Wirkmächtigkeit aus Zeiten der Sowjetunion wiederherzustellen. Im Gegensatz zu dem, was viele Beobachter*innen behaupten, geht es Putin und seinem Regime nicht darum, die Sowjetunion per se wiederherzustellen, sondern lediglich den Einfluss, den Russland damals auf die Teilrepubliken hatte, zu zementieren.15 Dass hierbei zu Mitteln wie in der ehemaligen Sowjetunion gegriffen wird, soll nicht weiter verwirren. 

Aus einer theoretischen Perspektive der internationalen Beziehungen lässt sich auf jeden Fall zumindest annehmen, dass wir uns auf dem besten Weg hin zu einem zweiten Zeitalter des Realismus befinden. Vertreter*innen der englischen Schule hielten bereits in den 1980er-Jahren fest, dass: «[…] der Krieg ein allgemein akzeptiertes Verhaltensmuster […]» in der realistischen Interpretation der internationalen Beziehungen bildet.16 Fest steht hierbei noch nichts, aber was konstatiert werden muss, ist die Schwäche der internationalen Organisationen wie beispielsweise der Vereinten Nationen, die in diesem Konflikt aufgrund ihres Aufbaus nichts zum Frieden beitragen können. Außerdem muss festgehalten werden, dass die Spill-Over-Effekte, die Bildung einer gemeinsamen Identität und die Einbindung der russischen Föderation in die wirtschaftlichen Verflechtungen des Westens anscheinend nicht die Effekte hatten, auf die von westlichen Staaten gesetzt worden ist. Ganz im Gegenteil – irgendwo auf dem Weg ging der Wille zur Integration und Zusammenarbeit verloren. Aktuell sehen wir die klassische Konstellation eines negativen Friedens, in dem sich Russland nur zurückhält, die westlichen Nationen als Kriegsparteien zu begreifen, weil eine direkte Involvierung der NATO in den Konflikt zu kostenträchtig wäre. 

1 www.bundesregierung.de: https://is.gd/54pmLb (02.11.2022).

2 Vgl. u.a. Hanns W. Maull: «Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstüberschätzung und Wegducken.» GIGA Focus – German Institute of Global and Area Studies. Hamburg 2014, S. 1ff..

3 Vgl. www.tagesschau.de: https://is.gd/qVzCpk (02.11.2022).

4 Vgl. Christiane Lemke: Einführung in die internationalen Beziehungen: Grundkonzepte, Theorien und Problemfelder. München 2012, S. 13.

5 Vgl. Hans J. Morgenthau: Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik. Gütersloh 1963.

6 Vgl. Christiane Lemke: Einführung in die internationalen Beziehungen: Grundkonzepte, Theorien und Problemfelder. München 2012, S. 13.

7 Vgl. Kenneth N. Waltz: Theory of international Politics. New York City 1979.

8 Vgl. Andreas Kappeler: Eine kleine Geschichte der Ukraine. München 2022.

9 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992.

10 Vgl. Thomas Risse-Kappen: Cooperation among Democracies. The European influence on U.S. Foreign Policy. Princeton 1997.

11 Vgl. Andrew Moravcsik/ Frank Schimmelpfennig: «Liberal Intergovernmentalism». In: Antje Wiener/ Thomas Diez (Hrsg.): European Integration Theory. New York City 2009, S.67–87.

12 Während der Ukraine bspw. noch 2008 der NATO-Beitritt verweigert wurde, sind mit den drei baltischen Staaten drei ehemalige Sowjetrepubliken Teil der NATO.

13 Vgl. Angela Stent: Putins Russland. Hamburg 2019, S. 153 ff.

14 Vgl. Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. München 2018.

15 Vgl. Katja Gloger: Putins Welt. München 2022, S. 148 ff.

16 Hedley Bull: «Die anarchische Gesellschaft». In: Karl Kaiser/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Weltpolitik. Strukturen – Akteure – Perspektiven. Stuttgart 1985, S.31–49.

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