Die tschechische Linke vor dem Abgrund? – Wie linke Kräfte in Tschechien ihr politisches Überleben sichern können.

Von Kajetan Stobiecki
Übersetzung von Laura Clarissa Loew

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Lange Zeit schien es, als sei Tschechien eine Bastion der Linken in Mittel-/Osteuropa: eine laizistische, urbane Gesellschaft mit starker sozialdemokratischer Tradition, wenig empfänglich für die Reize des Nationalismus. Gleichzeitig verschob die Existenz einer starken kommunistischen Partei das politische Spektrum nach links und verhinderte die Abwanderung systemkritischer WählerInnen an den rechten Rand. Eine solche Konstellation bewirkte, dass die proeuropäische Sozialdemokratie lange Jahre die stärkste Kraft in Wahlen war und linke Parteien in diesen üblicherweise zwischen 30 und 50% der Stimmen auf sich vereinigten. Auch, wenn die Linke weder einen geeinten Block dargestellt hatte noch frei war von regionaltypischen Problemen (fehlende Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit, Korruption), so war es doch lange Zeit kaum vorstellbar, dass sie eines Tages keine wichtige Rolle in der tschechischen Politik mehr spielen sollte.

Nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Jahr 2021 und denen auf der kommunalen Ebene ein Jahr später sah sich die tschechische Linke jedoch mit der Situation konfrontiert, kein einziges Abgeordnetenmandat auf Landesebene und keinen einzigen Sitz in der Prager Stadtvertretung erlangt zu haben. Wie konnte es dazu kommen und welche Zukunftsaussichten gibt es für linke Kräfte in Tschechien?

Die Kommunisten

Die Anfänge der Spaltung der linken Szene finden sich selbstverständlich im Kontext der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit und der fortwährenden Aktivität kommunistischer AkteurInnen im öffentlichen Leben. Im Gegensatz zu anderen Ländern der Region war die tschechische Sozialdemokratie weder aus einer Restrukturierung der kommunistischen Partei nach 1989 noch aus der Vereinigung von linken oppositionellen und postkommunistischen Kräften entstanden. Die beiden großen linken Parteien beriefen sich hingegen auf unterschiedliche historische Traditionen. Während die wiederentstandene Tschechische Sozialdemokratische Partei (ČSSD, Mitglied der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament) sich auf sozialdemokratische Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit bezog, bestand die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM, Mitglied der EUL/NGL im EP) auf den Erhalt nicht nur des Namens, sondern auch des Programms und verweigerte sich auf diese Weise selbst einer symbolischen Abgrenzung von der Diktatur.

Diese sowohl ideologische wie auch biographische Kluft zwischen den AkteurInnen der beiden linken Parteien wurde durch die ČSSD auf ihrem Parteitag des Jahres 1995 durch die sogenannte «Bohumíner Erklärung» zementiert, in der sie jede Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Kommunisten kategorisch ausschlossen und diese als extremistische Partei klassifizierten. Diese Isolierung der KSČM auf der politischen Szene sowie deren Ausnutzung des kommunismusnostalgischen Sentiments erlaubte es ihr einerseits, das antisystemische WählerInnenpotential auszuschöpfen, andererseits verunmöglichte es jedoch jegliche ideologische Weiterentwicklung und eine längerfristige Entwicklung hin zu einer modernen linken Partei. Verstärkend wirkt dabei auch das Durchschnittsalter der AktivistInnen (im Jahr 2020 betrug es 74 Jahre), das attraktive Angebote für junge Menschen und die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart erschwert. Die kommunistische Partei entwickelt sich mehr und mehr zu einer Art grotesken Freilichtmuseum, indem sie andauernd Losungen wiederholt, die wortwörtlich aus der Staatspropaganda der 80er Jahre kopiert wurden und damit immer mehr an Unterstützung verlieren, während gleichzeitig die Generation, die den tschechoslowakischen Kommunismus überhaupt noch erlebt hat, nach und nach verschwindet.

Die Sozialdemokraten

Während man in den letzten Jahren davon ausgehen konnte, dass die Kommunisten früher oder später dem Untergang geweiht sein würden, waren die Sozialdemokratie doch ein festes und unersetzliches Element der tschechischen politischen Szene. In den 90er Jahren, unter der Führung Miloš Zemans, konkurrierte sie erfolgreich mit der rechtszentristischen Partei von Václav Klaus und stand von 1998-2006 an der Spitze einer Minderheits- und später Koalitionsregierung. Der größte Teil ihrer Wählerschaft bestand damals aus KleinstadtbewohnerInnen der unteren Mittelklasse, so dass sie die besten Wahlergebnisse in den schlesischen Industriegebieten und die schlechtesten in der Metropole Prag erhielten. Typisch für diese Ära orientierte sich die tschechische Sozialdemokratie an einer Politik à la Blair; setzte auf die Integration in EU und NATO sowie technokratische Ansätze in der Wirtschaftspolitik. Trotz des Machtverlustes nach 2006 hielt die «goldene Ära» der ČSSD weiter an und endete erst mit dem Jahr 2013 und ihrem selbstmörderischen Flirt mit der Bewegung «ANO 2011» («Akce Nespokojených Občanů», «Aktion unzufriedener Bürger») des Multimilliadärs Andrej Babiš.

In den beiden Koalitionsregierungen der ANO und ČSSD, in der Babiš zunächst die Rolle des kleineren Partners einnahm, wurde sowohl das politische Programm als auch die Identität der Sozialdemokraten durch den charismatischen Finanz-, und späteren Premierminister, vollständig überdeckt. Zwischen 2013 und 2017 verlor die ČSSD ein Drittel seines Elektorats an den Koalitionspartner und ein weiteres Fünftel der WählerInnenschaft blieb der Wahlurne gleich ganz fern. Der Oligarch Babiš mit seinem Versprechen, den «Staat wie eine Firma zu managen», würde sich sicherlich nicht als „Linker“ bezeichnen, aber sein Antielitarismus und seine Selbstdarstellung als «Tribun des Volkes» verschafften ihm tausende traditionell linke WählerInnen und die Deutungshoheit über klassisch linke Themen.

Die Grünen 

Dieser Verlust des traditionellen Elektorats der Linken, der in vielen Ländern zu beobachten ist, könnte durch ihr Popularitätsanwachsen in Großstädten kompensiert werden. Ebenso wie in anderen Ländern ist auch in Tschechien innerhalb der letzten 20 Jahre eine gut ausgebildete, urbane, links-liberale Mittelklasse entstanden. Dieses Phänomen unterstütze die Entstehung von linksgerichteten Organisationen, die Themen wie LGBT+, Klimaschutz oder Geschlechterfragen bearbeiten. Seit Beginn der 2000er bespielte die Grüne Partei («Strana zelených» (SZ), Mitglied der Greens/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament) diese Themen. Sie hatte sich zunächst aus der Umweltbewegung herausgebildet, deckte aber im Verlauf der Zeit ein immer breiteres linkes Themenspektrum ab. Im Jahr 2006 konnte die Grüne Partei ihren größten Erfolg erlangen, als sie nicht nur ins Parlament einziehen konnte, sondern auch die mitte-rechts Regierung mit bildete. Diese Regierungsbeteiligung führte jedoch schnell zu innerparteilichen Konflikten. In den letzten Jahren wurde das Elektorat der Grünen jedoch von den sozialliberalen «Piraten» («Česká pirátská strana») abgegraben, die erfolgreich linke Positionen und ein modernes Selbstbild verbinden und so jüngere WählerInnen ansprechen.

Die Katastrophe 

Den Zustand des Verfalls der linken Parteien können am besten die Wahlergebnisse abbilden. Im Juni 2002 erhielten die einzelnen linken Parteien bei den Parlamentswahlen gemeinsam etwa 50% der Stimmen (davon die ČSSD 30,2%, die KSČM 18,5%, und die Grünen 2,4%). In den Wahlen zur kommunalen Selbstverwaltung im Herbst 2022 erhielt die linke Koalition aus Grünen und ČSSD hingegen in Prag nur 2,02% der Stimmen und platzierte sich damit nicht nur hinter der extremen Rechten, sondern sogar hinter der Gruppierung «Autofahrer für sich selbst» («Motoristé sobě»), deren einziges Postulat es war, die Fahrradstreifen in der Stadt abzuschaffen. Auch die Kommunisten erhielten in diesen Wahlen nur 1,47% der Stimmen.

Auch im Rest des Landes verloren ČSSD und KSČM 60-70% ihrer Mandate im Vergleich zu vorherigen Wahlen. Viele lokale sozialdemokratische KandidatInnen hatten im Wahlkampf darauf verzichtet, die Farben ihrer Partei zu verwenden, um sich nicht zu schaden. Die Kommunisten hingegen liebäugelten immer stärker mit einer Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen.

Neue Polarisierung

Viel bedrohlicher als die reinen Wahlergebnisse ist jedoch für die tschechische Linke die neue Spaltung der politischen Szene, die sich in Tschechien seit einigen Jahren abzeichnet und mit den charismatischen populistischen Führungspersonen verbunden ist. Im Jahr 2013 hatte Miloš Zeman zum ersten Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Die Beziehungen des ehemaligen sozialdemokratischen Premiers mit seiner Partei waren schon lange schwierig gewesen, aber die ČSSD war zu dieser Zeit noch die stärkste politische Kraft gewesen und hatte dem Präsidenten so den Rücken stärken können. Im selben Jahr begannen die Sozialdemokraten jedoch auch, in der Regierung mit Andrej Babiš zusammenzuarbeiten. Infolge des Agierens dieser beider mit der Sozialdemokratie verbundenen Politiker veränderte sich die tschechische politische Szene grundlegend. Es sollte sich außerdem bald herausstellen, dass die beiden Herren schnell politische Verbündete werden sollten und schon in den Wahlen 2018 war klar, dass das Hauptelektorat Zemans sich nun aus der Wählerschaft der ANO rekrutieren würde.

Zeman und Babiš sind Populisten par excellence. Es fällt schwer, auch nur irgendeinen ideologischen Hintergrund ihres Handelns zu ergründen oder zumindest bestimme Themen herauszukristallisieren, die für sie von besonderer Relevanz sind. Sie sind dazu bereit, alle möglichen inhaltlichen Vorschläge zu vertreten und jegliche politischen Allianzen einzugehen und nullifizieren damit die bisher geltende politische Aufteilung in rechts und links. Stattdessen tut sich eine neue Konfliktlinie auf, nämlich die zwischen den Populisten (Zeman, Babiš, die extreme Rechte) sowie den Antipopulisten (mitte-rechts und liberale Kräfte).

Von dieser neuen Aufteilung profitieren beide Seiten: Während Zeman und Babiš in ihrer Rolle als «Stimme des Volkes» aufgehen können und sich dafür rühmen, die «einfachen Leute» zu repräsentieren, können die Parteien der gemäßigten Rechten und die Liberalen ihre «Professionalität» und «Rationalität» unterstreichen – Werte, die innerhalb ihrer WählerInnenschaft hoch geschätzt werden. Ein Nebeneffekt dieser Aufteilung ist der massive Popularitätsanstieg der extremen Rechten, welche die enttäuschten Wähler der Populisten aufängt.

In dieser neuen Konstellation ist jedoch keine Machtgarantie für eine der Seiten angelegt. Im Jahr 2021 konnte beispielsweise die mitte-rechts Koalition die Parlamentswahlen für sich entscheiden und Babiš aus dem Amt des Premierministers drängen. Doch für die Linke stellt diese neue politische Spaltung eine große Bedrohung dar. Sie zwingt sie, das Ringen um ihr altes Elektorat aufzugeben und sich stattdessen auf der antipopulistischen Seite zu positionieren, auf der sie allerdings kaum auf Stimmen hoffen kann.

Zukunftsperspektiven

Dieser stufenweise Verfall der tschechischen Linken muss selbstverständlich im Kontext gesamteuropäischer Trends betrachtet werden. In ganz Europa und auch in den Nachbarländern Tschechiens sind ähnliche Krisen der Sozialdemokratie und das Entstehen erfolgreicher populistischer Parteien zu beobachten. In gesamt Mittel-/Osteuropa sind die postkommunistischen sozialdemokratischen Parteien entweder Schatten ihres früheren Erfolgs oder haben eine solch radikale Transformation druchlebt, dass sie inzwischen einen vollkommen anderen Charakter haben. Gleichzeitig haben sie in keinem anderen Staat der Visegrád-Gruppe so stark an WählerInnen verloren, wie in Tschechien.

Die gegenwärtige Situation erinnert in gewisser Weise an das Schicksal der polnischen Linken nach den Parlamentswahlen 2015, als sie zum ersten Mal an der Sperrklausel scheiterte und gleichzeitig innerlich zerstritten war und in einer Glaubwürdigkeitskrise steckte. Doch alles weist darauf hin, dass die Probleme der tschechischen Linken deutlich ernster sind. Denn sie sind weder zurückzuführen auf grobe strategische Fehler noch auf innere Spaltungen oder einen Ansehensverlust bei WählerInnen. Die Linke hat vielmehr alle Gruppen ihres potentiellen Elektorats verloren: ältere Menschen, die sich nostalgisch an das kommunistische System erinnern, junge und gut ausgebildete Großstädter sowie die breit verstandene «einfache Bevölkerung». 

Die traditionelle Wählerschaft der ČSSD, bestehend aus ArbeiterInnen und BewohnerInnen kleinerer Städte, die ihnen bisher Wahlsiege beschert hatte, ist kollektiv zu der Gruppierung von Andrej Babiš abgewandert, der ihnen antielitären Populismus und die «Sorge um den kleinen Mann» bietet. Im Falle der KSČM, die ihren Erfolg auf Kommunismus-Nostalgie basierte, haben selbstverständlich die Zeit und die demographische Entwicklung das Ihre getan, aber die übrigen WählerInnen sind auch zu dem Populisten Babiš oder gar der extremen Rechten übergelaufen. Mit letzteren verbindet sie sowohl ein gewisser Hang zum Autoritarismus wie die pro-russische Haltung. Die junge, urbane Linke aus Prag oder Brünn (tschechisch «Brno») hingegen wurde von der «Piratenpartei» abgegraben, die erfolgreich ein sozialliberales Programm mit einem modernen Image verbindet.

Für eine eventuell neuentstehende Linke in Tschechien wird es eine Herkulesaufgabe, dieses Elektorat wiederzugewinnen. Die gegenwärtige politische Polarisierung in Tschechien entlang der Linie Populismus – Antipopulismus schafft komplett neue politische Identitäten. Sollte es der Linken nicht gelingen, diese Spaltung zu überwinden, wird sie sich für eine der beiden Seiten entscheiden und so einen großen Teil ihres «natürlichen» Elektorats aufgeben müssen.

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