Sozialdemokratie und linke Bewegungen in Armenien^1

Von Lusine Vardanyan

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Wenn jemand in Armenien nach seinen politischen Ansichten gefragt wird, wird er oder sie höchstwahrscheinlich sagen, dass er entweder «pro-Paschinjan»2 oder «pro- Kotscharjan »3 ist. In der armenischen Politik geht es eher um Persönlichkeiten als um die Ideen, die sie repräsentieren. Während meiner Recherche für diesen Artikel bin ich darauf gestoßen, dass dieses Phänomen auch von ExpertInnen vernachlässigt wurde. Der folgende Artikel soll also einen Einblick in das Denken der armenischen Bevölkerung und den Zustand der Sozialdemokratie in Armenien geben. Hierfür habe ich mich einigen ExpertInnen gesprochen, deren Erzählungen und Analysen direkt oder indirekt in den Artikel miteinfließen. 

Personenbezogene Schwarz-Weiß-Politik

Auf der ganzen Welt erleben Parteien und Ideologien einen Rückgang, während Populismus und Medienmanipulation stärker werden. Dieses Phänomen ist auch in Armenien zu beobachten.

Mikajel Soljan, Politikwissenschaftler und ehemaliges Mitglied des Parlaments der damals regierenden Allianz «Mein Schritt» (2018-2021), sieht den Ursprung dieses Phänomens in dem personalisierten Geschichtsbild, das in Schulen vermittelt werde und der Diskreditierung von Ideologien als solche aufgrund der Erfahrung einer aufoktroyierten sowjetischen Ideologie. 

Das Mitglied des Exekutivorgans der sozialdemokratischen Partei «Bürgerentscheidung», Mikajel Nahapetjan, hingegen betont den Umstand, dass in Armenien viele Jahre keine legitime Politik existiert habe und alle Hebel der Macht in den Händen einer Person konzentriert seien. Die jeweiligen Machtinhaber hätten stets versucht, einerseits alle politischen Kräfte zu befriedigen und gleichzeitig die Entstehung von alternativen Ideen und Gruppierungen mit legalen und illegalen Mitteln zu unterdrücken. Der einzige Konsens, auf den sich die Opposition habe einigen können, sei die Betonung der Fehler der Regierung gewesen. Im Prinzip habe sich das Handeln der oppositionellen Parteien jedoch nie besonders vom Regierungshandeln unterschieden. So hat Armenien drei Jahrzehnte lang funktioniert und ist zu einem Land der Schwarz-Weiß-Politik geworden․

Der Politikwissenschaftler Edgar Wardanjan wiederum hat in seiner Studie die Programme der Parteien für die Wahl 2018 untersucht und stimmt einerseits zwar grundsätzlich nicht zu, dass die Politik in Armenien nicht ideenorientiert sei. Seine Untersuchung hat aber andererseits gezeigt, dass die Ideologie, auf der konkrete politische und gesellschaftliche Gruppierungen ihre Politik stützen, ein radikaler Populismus ist4.

Die bisherige Vernachlässigung der Beschäftigung mit politischen Ideologien – insbesondere betrifft dies auch die Sozialdemokratie – ist darauf zurückzuführen, dass die Politik in Armenien lange Zeit eine Schattenerscheinung war und man von außen nicht verstehen konnte, welche Ideen dahinterstehen und es keinen Wettkampf unterschiedlicher Ideen gab.

Wardanjan ist in seiner Studie auch zu der Schlussfolgerung gekommen, dass viele armenische Parteien, besonders wenn es um die Wirtschaft geht, eine eher linke Politik befürworten und ausführen, während sie auf der soziokulturellen Ebene eher konservativ sind.

Der Zustand der Sozialdemokratie in Armenien

In Armenien, wo jeder Bereich des Öffentlichen privatisiert ist, stellt sich zunächst einmal die Frage, ob ein Verlangen nach Sozialdemokratie überhaupt besteht. Hier setzt die gesellschaftliche Initiative «Sozialdemokratische Plattform» an und versucht in Armenien, Nachfrage für sozialdemokratische Ideen zu erzeugen. Ihre Mitglieder sind der Meinung, dass die bloße Existenz des Angebotes nicht erfolgreich sein kann, wenn das Angebot nicht verständlich genug für die BürgerInnen ist. Der Begründer der Plattform, Armen Mchtschjan, ist überzeugt, dass die treibende Idee der Revolution des Jahres 2018 die Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit war. Mchtschjan argumentiert, dass die Bevölkerung die Oligarchie und die Korruption als so problematisch empfand, dass Sicherheitsfragen und andere Probleme in den Protesten des Jahres in den Hintergrund gerückt sind.

Grundsätzlich gibt es also einen Bedarf nach sozialdemokratischer Politik in Armenien, aber dieser Wunsch ist eher unbewusst, instinktiv und spiegelt sich im öffentlichen Diskurs nicht argumentativ wider, weil es keine ExpertInnen oder IdeenträgerInnen gibt, die linke Themen populär und verständlich machen können. Um den derzeitigen Zustand der Bevölkerung und der Sozialdemokratie besser verstehen zu können, lohnt ein Blick in die Geschichte. 

Die Wurzeln der armenischen Sozialdemokratie

Die sozialdemokratische «Huntschak Partei» und die «Armenische Revolutionäre Föderation» (ARF) wurden im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss russischer linker Bewegungen in der armenischen Diaspora als Volksparteien gegründet. Die ARF (auch «Daschnakzutjun») konnte sich in der ersten Republik (1918-1920) die absolute Mehrheit im Parlament sichern – die Anfänge der armenischen Demokratie waren also sozialdemokratisch geprägt. 

Abo Poghikean, ehemaliges Mitglied von Daschnakzutjun, der seine Jugendjahre im Libanon, einem Kernland der diasporischen Parteiaktivität verbrachte und 2018 aus der Partei ausgeschlossen wurde, erklärt, dass die zweijährige Existenz der ersten Republik einfach nicht genug waren, um die sozialdemokratische Ideologie in Armenien zu etablieren. Nach dem Verlust der Unabhängigkeit und der Machtübernahme der Bolschewiken entfaltete die Partei ihre Tätigkeit in der Diaspora. Um sich von der Sowjetunion abzuheben, hat sie in dieser Zeit ihren sozialdemokratischen Kern eher versteckt und sich auf die nationalen Fragen konzentriert. 

In den 1990er Jahren konnte die ARF wieder in Armenien aktiv werden, wo zu dieser Zeit der Krieg gegen Aserbaidschan um Bergkarabach herrschte (1988-1994). Abermals entschied sich der armenische Teil der Partei, die nationalen Interessen in den Vordergrund zu stellen und Kampfgruppen zu bilden, um sie nach Karabach zu schicken.

«Es wäre zu der Zeit sehr, sehr wichtig gewesen, eine gute sozialdemokratische Partei zu haben, die sich gegen den wilden Kapitalismus und die massive Privatisierung – dem Fundament der Korruption – stellt» erzählt Poghikean.

Die ARF bildete im unabhängigen Armenien traditionell mit den regierenden Republikanern eine Koalition. Zu den Wahlen 2021 sind sie in der Allianz «Hajastan» des ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan angetreten. Die ARF hat in ihrer modernen Existenz nie eine linke Politik ausgeführt und vermeidet es, sich zu eigentlich klassisch linken Themen zu äußern. Seit dem erneuten Krieg gegen Aserbaidschan im Jahr 2020 driftet sie immer weiter nach rechts ab. 

Die Revolution 2018 und ihr linker Flügel

Nachdem der damalige Präsident, Sersch Sargsjan, zunächst im Dezember 2015 eine manipulierte Verfassungsänderung veranlasst hatte, welche die Befugnisse des Premierministers zu Ungunsten des Präsidenten ausweitete, versuchte er schließlich im Jahr 2018 die Zeitbegrenzung des Präsidialamtes zu umgehen und sich zum (nun mächtigeren) Premierminister wählen zu lassen. 

Weder der erste Präsident, Lewon Ter-Petrosjan, noch der zweite Präsident, Robert Kotscharjan, hatten es – trotz eigener Defizite in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – gewagt, eine dritte Amtszeit zu fordern. Obwohl zu Beginn des Artikels darüber gesprochen wurde, dass die armenische Politik personenbezogen ist, bedeutet das nicht, dass die ArmenierInnen keine Vorstellung davon haben, in was für einem Land sie leben möchten.  Sie können vielleicht keine akademischen Definitionen geben, aber sie wissen genau, ob sie eine Demokratie oder eine Diktatur wollen.

Die Protestbewegung begann im April 2018 und nach monatelangen Demonstrationen gab Sargsjan schließlich auf und machte den Weg für den Oppositionsführer Nikol Paschinjan frei.

Obwohl Paschinjan und seine politische Gruppierung nicht links sind, gab es unter den Protestierenden einen linken Flügel, dessen Handlungen auch entscheidend für das Endergebnis der Revolution waren. Mikajel Soljan erinnert sich im Interview daran, dass eine der Hauptparolen der Bewegung, «die Revolution der Liebe und Solidarität», zum ersten Mal von linken Gruppen verwendet und dann verbreitet wurde – eine Parole mit klarer linker Botschaft.

Viele sagen, dass die sozialdemokratische Partei «Bürgerentscheidung» eben dieser linke Flügel der Revolution war. Sie war bei den ersten Wahlen nach der Revolution jedoch nicht in einer Allianz mit Nikol Paschinjan angetreten und hatte nur 0,68 Prozent erzielt. Parteimitglied Nahapetjan erklärt dieses Ergebnis dadurch, dass ihre Forderungen für das breite Spektrum von Menschen nicht verständlich waren, aber auch dadurch, dass die armenische Gesellschaft atomisiert war. Des Weiteren wurden nach der Revolution alle politischen Kräfte, die nicht in Paschinjans Bündnis organisiert waren, in einen Hut mit den alten, korrupten Machthabern gesteckt. Dass es eine linke kollektive Interessenvertretung auf oppositioneller Seite geben könnte, wurde überhaupt nicht in Betracht gezogen. 

Dass die Partei an den Parlamentswahlen nicht als Teil der Allianz Paschinjans teilgenommen hat, geschah aus der Erwägung, dass sie damit eine größere Eigenständigkeit und Popularität erreichen könnte.  Nahapetjan spricht davon, dass sie sich «nicht auf dem Dach des revolutionären Busses setzen wollten». Er erklärt: «Ich bereue die Entscheidung, dieses Angebot abgelehnt zu haben, nicht. Ich habe nicht bereut, als der «Zivilvertrag» die stärkste politische Kraft war, und ich bereue es auch jetzt nicht».

Linke Bewegungen und «Taron jan, sirun chi »

Obwohl die Sozialdemokraten in Armenien schwach sind, hat es viele erfolgreiche zivilgesellschaftliche Bewegungen mit linker Thematik gegeben. Die erste Bewegung fand 1987 gegen das Chemieunternehmen «Nairit» und deren Umweltverschmutzung statt. Diese Proteste wurden jedoch ein Jahr später durch das Aufkommen der Karabach-Bewegung, den antisowjetischen Widerstand und später den Krieg in Karabach überholt.

Auch die 2000er Jahre waren in Armenien von unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen geprägt. Eine der wichtigsten waren die Proteste im Maschtoz-Park. Daher wird oftmals die Auffassung vertreten, dass die armenische Zivilgesellschaft erst in diesem Park richtig formiert wurde. Im Jahr 2011 hat die Stadtverwaltung von Jerewan die Entscheidung getroffen, eine der Hauptstraßen in Jerewan von Kiosken zu «säubern». Den BesitzerInnen hat man die Möglichkeit gegeben, die Kioske im Maschtoz-Park wieder aufzubauen. Monatelang haben AktivistInnen im Park Sitzproteste durchgeführt. Hier entstand die legendäre Parole «Taron jan, sirun chi» (auf Deutsch: «Lieber Taron5 , es ist ja nicht schön»), die später mehrfach wiederverwendet wurde. Das Ergebnis dieser Proteste war, dass die Kioske nicht im Park gebaut wurden.

Im Prinzip waren alle Bewegungen gegen Privatisierung der öffentlichen Flächen, Businessinteressen und für den Umweltschutz, also ideell links geprägt. Für die gesellschaftliche Solidarität waren auch die erfolgreichen Proteste gegen die Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel im Jahr 2013 von Bedeutung. Damals haben sehr viele AutobesitzerInnen begonnen, Menschen aus den Straßen mitzunehmen, und zu ihren Wunschorten zu transportieren.

Mikajel Soljan meint, dass diese Gemeinschaftssolidarität in Armenien die Rolle einer gewissen sozialen Sicherheit übernommen hat. Dieses Phänomen müsse allerdings systematisiert werden und ihm müsse eine theoretische Basis gegeben. «Die russische Gesellschaft ist zum Beispiel sehr fragmentiert. Dort sind die sozialen Beziehungen untereinander zerbrochen. Deshalb gelingen dort weder politische noch soziale Demonstrationen. In Armenien ist es nicht der Fall. Warum gibt es zum Beispiel in Armenien nicht so viele Obdachlose?», fragt er.

Nationalismus und Sozialdemokratie 

Da der Staat Armenien lange Zeit nicht existierte, und die ArmenierInnen den Völkermord im Jahr 1915 und viele Kriege durchlebt haben, spielt der Nationalismus in der armenischen Politik immer eine wichtige Rolle. Er ist allerdings nicht imperialistisch zu verstehen, sondern eher als Komplex eines unterdrückten, kleinen Landes. Man sollte ihn nicht im Kontext eines ethnischen Nationalismus betrachten, sondern eher als antikolonialen Kampf für die Unabhängigkeit.

Für den Politiker Nahapetjan ist es selbstverständlich, dass die Ideen seiner Partei sich aus nationalen Interessen speisen sollten. «Das macht Armenien nicht fremdenfeindlich, macht es nicht zu einem Land ausschließlich für ethnische Armenier, macht es nicht unkooperativ, macht es nicht zu einer Kraft mit einer arroganten Haltung gegenüber anderen Nationen. Ich stelle eine rhetorische Frage: Waren nicht die Amerikaner die ultimativen Nutznießer der Politik von Franklin Roosevelt, obwohl seine gesamte praktische Politik sozialdemokratisch war?», erklärt er.

Hat die Sozialdemokratie eine Zukunft in Armenien?

Die Republik Armenien ist ein souveräner, demokratischer, sozialer Rechtsstaat. So steht es im ersten Artikel der Verfassung und genau das sollte die Erwartung der Bevölkerung an den Staat sein. Einmal wurde ich von einem meiner ausländischen Freunde gefragt, wieso in Armenien so viele Proteste stattfinden. Ja, ArmenierInnen lieben es, zu protestieren und manchmal nervt es, weil immer wieder Straßen gesperrt werden. Aber es zeugt davon, dass die armenische Bevölkerung Erwartungen an den Staat hat und bereit ist, ihre Meinung zu sagen.

Jetzt, in den Zeiten der globalen Krise, in der Kriege, Energie- und Ernährungsunsicherheit sowie zunehmende nationalistische Stimmungen auf der Tagesordnung stehen, sollte man bereits daran denken, wie die Welt nach diesen Stürmen aussehen könnte.

Die politischen Transformationen im Jahr 2018 und der Krieg 2020 haben viele BürgerInnen verwirrt – enttäuscht von der neuen Regierung wollen sie aber auch die alten Machthaber nicht zurück. In allen Bereichen, von der Landwirtschaft bis zur Bildung, erwarten sie in Armenien, dass der Staat seiner Rolle und Verantwortung gerecht wird. Und genau jetzt haben Sozialdemokraten die Aufgabe, ihre Ideen für diese Probleme der Bevölkerung näherzubringen.  In jedem Fall aber müssen die Menschen die Möglichkeit haben, eine freie und selbstbestimmte Entscheidung zu treffen. Denn diese Möglichkeit zu haben, das zeigt auch die Geschichte Armeniens und so spiegelt es sich auch in der politischen Idee der Sozialdemokratie wider, ist ein absoluter Wert.

1 Alle Aussagen und Zitate in diesem Artikel, sofern nicht anders vermerkt, stammen aus Gesprächen, die die Autorin mit den entsprechenden Personen selbst geführt hat.

2 Nikol Paschinjan, aktueller Premierminister Armeniens.

3 Robert Kotscharjan, ehemaliger Präsident Armeniens und nun Oppositionsführer.

4 Vgl. Political Ideologies of Armenian Political Parties According to Their Programs. Research Outcomes, Jerewan 2020, https://political.am/storage/uploads/files/eng_print.pdf?fbclid=IwAR16VDbGXIOezjW3Cw6gfcQjzMYJnguu2nz54kQnor4JhN9eVgs4xXFwg5w, [18.11.2022].

5 Taron Margarjan, Bürgermeister von Jerewan von 2011-2018.

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