Long live Belarus: Wie ein demokratischer Wandel in Belarus den Krieg in der Ukraine hätte verhindern können

Von Polina Gordienko

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Als ich mit 15 Jahren nach Deutschland kam und mit einem Akzent Deutsch sprach, wurde ich oft gefragt «Woher kommst Du eigentlich?». Ich habe einen ukrainischen Namen, bin in Russland geboren und in Belarus aufgewachsen. Ich antwortete: «Ich komme aus Minsk» und ich dachte mir immer dabei: «Aus der Stadt, die keiner kennt. Aus dem Land, das keiner kennt». Denn meine Mitschülerinnen in München wussten nicht viel über die politische Lage in Osteuropa und schon gar nicht über die diktatorischen Zustände, die seit einem Vierteljahrhundert in einem kleinen Land mitten in Europa gedeihen.

Belarus in der Wahrnehmung vieler Deutscher 

Belarus – oder wie das Land früher oft bezeichnet wurde: Weißrussland – wurde aus deutscher Sicht lange als eine Provinz der Sowjetunion, als ein Hinterhof Russlands angesehen. Alle fünf Jahre wurde das regelmäßig als «letzte Diktatur Europas“ bezeichnete Land kurz in den westeuropäischen Medien aufgrund wieder mal gefälschter Präsidentschaftswahlen beleuchtet, jedoch war Belarus bis zum Sommer 2020 und den damals stattfindenden Massenprotesten vielen Deutschen weitgehend unbekannt. Und auch die Ukraine war bis zur Euromaidan-Revolution 2013/14 in der Wahrnehmung vieler Deutschen ein unsichtbarer Staat. Der Haupteffekt der sogenannten Ukraine-Krise der letzten acht Jahre ist, dass die Ukraine als Land, Staat, Nation auf der inneren Landkarte der Deutschen an Gestalt gewonnen hat und die Ukraine in der Wahrnehmung der Europäer endlich zum politischen Subjekt geworden ist. Früher hat man das russische Imperium und die Sowjetunion immer mit Russland identifiziert, und somit zahlreiche nicht-russische Völker und Nationalitäten ignoriert. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Schuld deutlich, die die Deutschen angesichts ihrer Verbrechen im deutsch-sowjetischen Krieg empfinden. Dabei geht unter, dass diese Schuld auch gegenüber allen Völkern der Sowjetunion gilt. Die Deutschen haben im Laufe der letzten Jahrzehnte vergessen – oder nie wissen wollen –, dass Belarus und die Ukraine Hauptschauplatz des NS-deutschen Krieges gegen die Sowjetunion waren.

Noch nie zuvor war das mangelnde Wissen der deutschen Öffentlichkeit über Osteuropa so deutlich, wie seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Dabei wird vor allem die Frage, wie die belarusische1 Demokratiebewegung und der russische Einmarsch in der Ukraine zusammenhängen, im gesellschaftlichen Diskurs komplett außer Acht gelassen. Ich möchte im Folgenden allerdings ausführen, wie ein demokratischer Wandel in der «letzten Diktatur Europas» die russische Invasion in der Ukraine hätte verhindern können.

Wie ein demokratischer Wandel in Belarus die russische Invasion in der Ukraine hätte verhindern können

Jahrelang hat Wladimir Putin seine Drohungen wieder und wieder wahr gemacht: Er ließ Oppositionelle vergiften, führte Kriege, verschob Grenzen. Nur in Deutschland wollte das politische und wirtschaftliche Spitzenpersonal das nicht wahrhaben. Im heutigen politischen Diskurs wird zudem oft vergessen, dass Putin bereits jahrelang systematisch die territoriale Integrität der Ukraine verletzt hat. Kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 zeigten sich viele führende Figuren in der EU-Politik sehr geschockt. Warum war die deutsche Außenpolitik so lange so naiv gegenüber Russland? Hat denn wirklich niemand damit gerechnet, dass Putin das Nachbarland überfallen, Tod und Verderben über Frauen, Männer und Kinder in der Ukraine bringen könnte?

Der entscheidende Aspekt im Plan Putins, eine souveräne Demokratie von der Weltkarte zu tilgen, war ein Einmarsch der russischen Truppen in den Norden der Ukraine durch das belarusische Staatsgebiet. Denn allein eine Invasion aus dem russischen Staatsgebiet, also über den Osten der Ukraine, hätte niemals für den ursprünglichen Plan Putins, die ukrainische Hauptstadt Kyiv innerhalb von drei Tagen einzunehmen und die dortige Regierung zu stürzen, ausgereicht. Der Einmarsch der russischen Armee, die seit dem Spätherbst 2021 in Belarus stationiert war, erfolgte mit bedingungsloser Kooperation des Regimes Lukaschenkas. Dass die belarusische Regierung seit etwa einem Jahr so agiert, als wäre das Land ein weiteres Föderationssubjekt Putins, stell das Worst-Case-Szenario dar, dass die belarusischen Demokratiekämpfer*innen im Jahr 2020 befürchtet hatten.

Die Bilder von hunderttausenden Menschen auf den Straßen von Minsk gingen im August und September 2020 um die ganze Welt. Nach 26 Jahren Angst, Unterdrückung und Schweigen wachten die Menschen in Belarus auf und verlangten nach einem Leben in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Doch wenige Monate später war der Hoffnungsschimmer für einen demokratischen Wandel verschwunden. Die grausame Willkür des belarusischen Sicherheitsapparats wurde deutlich, als regimekritische Belarus*innen zu immer längeren Haftstrafen verurteilt und die Proteste immer brutaler niedergeschlagen wurden. Die Menschen konnten nicht mehr auch nur in kleinen Gruppen auf die Straße gehen – die neuen Änderungen im belarusischen Strafgesetzbuch sehen nun auch die Möglichkeit der Todesstrafe für die Teilnahme an einer «nicht genehmigten Veranstaltung» vor. Nachdem damals dritten Sanktionspaket der EU gegen Lukaschenkas Machtclique im Dezember 2020 herrschte plötzlich Stille in der EU, während Swjatlana Zichanouskaja um die ganze Welt reiste und Regierungschef*innen von der Notwendigkeit weiterer Sanktionen zu überzeugen versuchte. 

Die Wintermonate vom Dezember 2020 bis zum Februar 2021 sowie die für März 2021 geplante zweite Protestwelle in Belarus wären entscheidend für den Erfolg der Demokratiebewegung gewesen. Damit aber die Protestierenden im Inland den Druck auf das diktatorische Regime weiter hätten ausüben konnten, wäre ein größerer Druck aus dem Ausland – in der Form von echten und ernsthaften Sanktionen der internationalen Gemeinschaft – notwendig gewesen. Es musste aber anscheinend erst zu einer Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten ein halbes Jahr später kommen, damit die EU ihre Sanktionen gegen Lukaschenka endlich verschärfte. Darüber hinaus plädierte Zichanouskaja bereits 2020 für die Einführung von Sanktionen gegen den belarusischen Finanzsektor und den Ausschluss belarusischer und russischer Banken aus dem Finanztransaktionssystem SWIFT, der letztendlich erst nach dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine im Februar 2022 zustande kam.

Kampf für die Demokratie 

Die belarusischen Demokratiekämpfer*innen verloren im Winter 2021 ihre Chance auf echte demokratische Veränderungen, als Lukaschenka ihre Heimat in ein Gefängnis verwandelte. Gleichzeitig wurde die politische Abhängigkeit Lukaschenkas von Putin, der mit der großzügigen Unterstützung des Diktators seine eigene innenpolitische Stabilität in Russland sicherte, immer deutlicher. Denn langfristig ist Lukaschenka nicht überlebensfähig in einem unabhängigen und souveränen Belarus – eine Untergliederung unter Russland, also de facto eine Annexion von Belarus, könnte seine einzige politische Überlebenschance sein. Ein Jahr später sehen wir nun zu, wie Belarus zu einem Militärstützpunkt für die Truppen des Kremls sowie russische Atomwaffen und Lukaschenka zum Kriegspartner Putins geworden ist. Ein Worst-Case-Szenario, das mit richtiger Unterstützung für die belarusische Demokratiebewegung zum entscheidenden Zeitpunkt hätte verhindert werden können.

Wir dürfen keinen Zweifel daran haben, dass es Putins ultimatives Ziel ist, ein russisches Imperium zu errichten und die europäische Sicherheitsordnung zu zertrümmern. Jetzt ist deshalb die Zeit, gegen Putins Krieg, gegen Lukaschenkas Diktatur und für ein freies, offenes, friedliches und demokratisches Europa einzustehen. «Demokratie braucht Demokraten» soll Friedrich Ebert gesagt haben. Lasst uns also Demokratinnen und Demokraten sein und entschlossen an der Seite aller Demokratiekämpfer*innen – auf der richtigen Seite der Geschichte – stehen.

1 Das Adjektiv «belarusisch» wird in diesem Text bewusst nur mit einem «s» geschrieben, siehe dazu: «Belarussisch» oder «belarusisch»?, in: Duden.de, https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/%E2%80%9EBelarussisch%E2%80%9C-oder-%E2%80%9Ebelarusisch%E2%80%9C#:~:text=Schreibvarianten%20beim%20Adjektiv,Unterschied%20in%20der%20Aussprache%20an [18.11.2022].

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