Mark Fischer: Sozialdemokratische Zeitenwende im Superwahljahr 2017?

Erfolgreiche Sozialdemokratie = langfristige Politikvorstellung? «Es bedarf einer Einbettung von Einzelschritten in eine klar ersichtliche Struktur sozialdemokratischen Handelns » meint Mark Fischer in der aktuellen Print-Ausgabe.

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Die persönliche Strahlkraft, die Martin Schulz seit Antritt seiner Kanzlerkandidatur umgibt, reicht allein wahrscheinlich nicht aus, um bis zum kommenden Bundestagswahlkampf die Option auf eine Kanzlerschaft für die SPD zu erhalten. Um eine erfolgreiche Bundestagswahlkampfkampagne zu gestalten, bedarf es der Formulierung einer Politik, die einen vertrauensvollen Ausblick auf eine Stabilisierung und Verbesserung der Lebensumstände für breite Bevölkerungsschichten gibt. Dies funktioniert nur auf einer inhaltlichen Basis, die ihre mittel und langfristigen politischen Ziele und Strukturen im Blick behält. Die Herausforderungen an Schulz und die Gesamtpartei sind dabei vielschichtiger, als es der aktuelle mediale Diskurs vermuten lässt.

Konkrete Politik für die kommende Legislaturperiode

Die SPD wird in der kommenden Bundestagswahl nicht allein für ihre Verdienste in der Regierungszeit der letzten Jahre gewählt werden. Ebenso führt eine zu dominante Fixierung auf die Person des Kanzlerkandidaten zu einer Abhängigkeit von Tagesstimmungen und medialer Berichterstattung jenseits von Inhalten und konkreter Politik. Als Ausweg aus dieser Situation muss die SPD klare politische Maßnahmenpakete und wegweisende Zukunftsprojekte anbieten. Das Aufzeigen verlässlicher politischer Orientierung ist für ein glaubwürdiges Profil Voraussetzung. Es bedarf einer Einbettung von Einzelschritten in eine klar ersichtliche Struktur sozialdemokratischen Handelns. Damit wird das Kernklientel der SPD wieder an die Partei gebunden und für eine mögliche Kanzlerschaft langfristig aktiviert, ohne den Bezug zu weiteren Wähler*innenschichten aufgeben zu müssen.

Mit dem Thema Gerechtigkeit gibt Schulz einer Vielzahl von Menschen die Hoffnung auf einer sozialdemokratischen Wende innerhalb Deutschlands und darüber hinaus. Die kurz- und mittelfristigen Herausforderungen an die Politik sind dabei divers. Migration und Fluchtbewegungen einerseits, Arbeitslosigkeit, auch bei sinkenden Zahlen weit jenseits von Vollbeschäftigung, andererseits müssen im öffentlichen Diskurs in Einklang gebracht werden.[1] Hinzu kommen Themen wie Umwelt- und Klimaschutz, Wohnungsnot in Ballungszentren oder die Fragen nach Bildungsgerechtigkeit und leistungsfähigen Gesundheits- und Pflegesystem. All diesen Themen ist gemeinsam, dass es sich hierbei letztlich um Verteilungsfragen von gesellschaftlich erarbeiteten Wohlstand handelt. Der drohende Arbeitsplatzabbau durch die Arbeit 4.0 wird die kommenden Jahre ein Umdenken vor allem im Bereich von Arbeitsdefinition und Arbeitsintensität einfordern. Schulz muss jetzt eine Antwort geben gegenüber drohendem Absinken des Lebensstandards bis hin zu Altersarmut für einen wachsenden Teil von heute noch arbeitenden Menschen. Das klare Bekenntnis zum Umlagesystem in der Rentenversicherung und einem Rentenniveau von deutlich über 50% wären erste Maßnahmen um eine Stabilisierung realer wie gefühlter sozialer Absicherung im Alter zu erreichen. Hinzu kommt die Bedeutung einer notwendigen Reform von SGB II und entsprechender Leistungen. Die Erhöhung des Schonvermögens auf 10.000 Euro oder die Verlängerung der ALG I Bezuges durch das Qualifizierungsgeld sind positive Ansätze. Mittelfristig wird eine Umorientierung in der strategischen Verortung der SPD gegenüber von entsprechenden Leistungen und Förderprogrammen mit weitreichenderen Reformen aber unvermeidlich sein. Nur so kann sich die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit reetablieren.  Die Wiedereinführung von Zumutbarkeitskriterien, den Erhalt von Qualifizierung durch Vermittlung in entsprechende Jobs und der Kampf gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen betrifft zumindest auch indirekt die Zukunftsaussichten der gesamten Mittelschicht.

Kommunikation einer langfristigen Politikvorstellung

Eine solche SPD Politik kann nur effektiv kommuniziert werden und wirken, wenn sie in eine langfristige Politikvorstellung eingebettet wird. Es muss klar ersichtlich sein, dass die Gesamtpartei gesellschaftliche Vorstellungen hat, die sie stringent verfolgt. Solche Konzepte und Leitlinien helfen umgekehrt auch in unübersichtlichen politischen Situationen Kurs zu halten. In sich öffnenden Zeitfenstern, z.B. in Krisensituationen des Kapitalismus, können so zielgerichtete Entscheidungen für eine Umgestaltung der Gesellschaft hin zu einer gerechteren Verteilung von Wohlstand, individuellen Möglichkeiten und sozialen Freiheiten getroffen werden.

Die bereits angesprochene Verteilungsfrage wird der zentrale Aspekt der Diskussion um die Aufstellung der SPD bleiben. Anstatt in Krisenzeiten die Härten des Kapitalismus abzufedern und an offensichtlichen Fehlstellen kleine Korrekturen vorzunehmen, ist es vielleicht wieder an der Zeit, auch an das Ändern der Spielregeln mitzudenken. Die Partei muss sich die Frage erneut stellen, ob einer stärkeren Fokussierung auf eine nachhaltige Veränderung der Wirtschaftsmechanismen nicht zunehmende Bedeutung zukommt. Dies gilt umso mehr, da Fragen von Nachhaltigkeit und ökologischer Rücksichtnahme in der weltpolitischen Gesamtlage eine zunehmend kleiner werdende Rolle zu spielen drohen.

Die Vorstellungen weltweit gerechter Verteilung von Wohlstand, einer nachhaltigen und ressourcensparenden Wirtschaftsweise, Frieden und Freiheit in allen Regionen der Welt mag als humanistisch-sozialistische Utopie belächelt werden. Als Handlungshorizont können Utopien aber die Inspiration und Kraft freisetzen, die zur Veränderung des überhaupt Möglichen notwendig ist. Wohl jede*r Leser*in von William Morris «News from Nowhere» wird sich dem Zauber der Utopie nur schwer verschließen können. Hoffnung und Perspektive können eine Antriebfeder für realpolitisches Engagement und Einsatz sein. Schulz eigene Popularität zeigt die Wirkmächtigkeit solcher Gefühle. Eine alleinige Fixierung auf Personen erscheint in Demokratien aber wenig nachhaltig zu sein. Stattdessen sollte die SPD als Programmpartei sich der Kraft ihrer inhaltlichen Wurzeln und Überzeugungen neu bewusstwerden. Der demokratische Sozialismus als dauerhaftes Ziel sozialdemokratischen Handelns, wie er im Hamburger Programm beschrieben wird, kann heute als eine hoffnungsvolle Perspektive wieder stärker in den Vordergrund sozialdemokratischer Politik rücken. Der Anspruch aktiver Zukunftsgestaltung wirkt gegenüber konservativer Rhetorik von Bewahren und Verwalten attraktiver und vitaler. Gesellschaftliche Veränderungen können durch eine entsprechende Formulierung und Artikulation von Zielvorstellungen etabliert und angestoßen werden. Hiermit wäre ein Gegenentwurf zum Neoliberalismus genauso zu finden, wie auch eine klare Absage gegenüber rechtspopulistischen und neovölkischen Bewegungen. Gerade der jüngeren Generationen kann dies nach einem viertel Jahrhundert seit Ende des kalten Krieges Perspektiven eröffnen, die anstrebenswert erscheinen.

Angehen weiterer Parteireformen

Das Gewinnen neuer Mitglieder und einer Verjüngung der Partei scheint mit dem Blick auf den Zustand der SPD dringend geboten. In den letzten 10 Jahren verlor die SPD rund 100.000 Mitglieder, das aktuelle Durchschnittsalter der verbliebenen ca. 440.000 Mitglieder beträgt 60 Jahre. Die SPD ist vor Ort aufgrund der schwindenden Mitgliedszahlen, sinkenden Wahlergebnissen sinkender Mittel aus der Parteifinanzierung finanziell in strukturell schwachen Regionen nicht mehr in der Lage, eine flächendeckende Versorgung mit sozialdemokratischer Infrastruktur in Form von Geschäftsstellen und Personal zu sorgen. Gleichzeitig fehlt es an Parteimitgliedern als Multiplikator*innen in die Zivilgesellschaft. Für eine Sozialdemokratie als gesellschaftliche Bewegung sind diese Entwicklungen überaus negativ zu bewerten.

Dementgegen müsste eine Form der gesellschaftlichen Einflussnahme stehen, die jenseits von Abgeordneten und Mandatsträger*innen wieder vermehrt auf breite Diskurse und sozialdemokratisches Agenda Setting setzt. Statt zu sparen, muss auch die SPD in Zeiten der Krise vor allem investieren. Das Investment in die eigenen Mitglieder scheint dabei das vielversprechendste zu sein. Nur eine dauerhaft motivierte Mitgliedschaft, die über den Wahlkampf hinaus in politische Prozesse eingebunden wird, ihre Position einbringt und sich an Diskussionen aktiv beteiligen kann, kann langfristig Strukturen sichern, die die Bezeichnung «Volkspartei» für die SPD rechtfertigen. Das Herausbilden eines entsprechenden Bewusstseins für sozialdemokratische Fragestellungen auf allen Handlungsebenen von Gesellschaft und Politik auch in der eigenen Mitgliedschaft zu fördern, würde eine Veränderung der Ausgangsposition in Wahlkämpfen und für gesellschaftliche Mehrheiten mit sich bringen.[2] Ein solcher Ansatz der eigenen Bildungsarbeit erscheint gerade vor dem Hintergrund der Dominanz neoklassischer Deutungsmuster von Wirtschaft und darauf aufbauender Politik dringend erforderlich zu sein.  Die Bedeutung eines verlässlichen inhaltlichen Rahmens für Parteiarbeit darf dabei nicht unterschätzt werden.

Fazit

Die Hoffnung auf die kommenden Bundestagswahlen sollte nicht verdecken, dass unabhängig vom Ausgang der Wahl vor der SPD eine Reihe von Herausforderungen stehen. Eine erfolgreiche Gestaltung sozialdemokratischer Politik braucht dabei mehr als tagesaktuelle Reaktionen auf politische Ereignisse. Vielmehr wäre ein verlässliches Festlegen auf Zielstellungen und ihre entsprechende Kommunikation in die Öffentlichkeit notwendig. Die SPD hat hierfür in der Idee des Demokratischen Sozialismus einen Rahmen, der erstaunlich gut in eine neue Zeit passt.


[1] Wie der aktuelle Anstieg der Binnennachfrage zeigt, wird vor allem durch die aktuellen Investitionen aufgrund der Flüchtlingssituation die aktuelle Beschäftigungsstabilität und das leichte Wirtschaftswachstum in Deutschland mitermöglicht. Damit werden freilich teilweise nur Auswirkungen der schwarzen Null Politik ausgeglichen.

[2] Hier von zeitgemäßen Formen der «organischen Intellektuellen» nach Antonio Gramsci zu sprechen, erscheint auf den ersten Blick etwas hochtrabend. Inhaltlich scheint mir der Bezug aber nicht zu weit hergeholt.

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