Aus der Kritik der alten Welt die neue finden: Sozialismus als Grundwert der Juso-Hochschulgruppen

Von Thekla Mühlpfordt

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Sozialismus, Feminismus und Internationalismus. Diese drei Grundwerte prägen die Arbeit und das Selbstverständnis der Juso-Hochschulgruppen seit ihrer Gründung. Seit 50 Jahren kämpfen sie auf dieser Grundlage für die Welt der Freien und Gleichen und setzen sich für eine soziale, emanzipatorische und progressive Bildungs- und Gesellschaftspolitik ein. Nicht nur an den Hochschulen, sondern auch in der Partei und auf der Straße stellen die Juso-Hochschulgruppen bestehende Verhältnisse kritisch in Frage.

50 Jahre jungsozialistische Hochschulpolitik sollen nun zum Anlass genommen werden, zurückzuschauen, aber auch einen utopischen Überschuss sowie konkrete Visionen für die nächsten 50 Jahre zu generieren: Diskussionsanstöße für hochschul- und gesellschaftspolitische Ideen, sowie grundsätzlich für den Diskurs innerhalb der Partei und der gesellschaftlichen Linken. Dieses Jubiläum soll auch dazu dienen, sich von der tagespolitischen Realität zu lösen und die jungsozialistische Analyse der bestehenden Verhältnisse im Ganzen zu betrachten. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, soll der Text einen Überblick über die sozialistischen Diskussionen innerhalb der Juso-Hochschulgruppen geben.

Kapitalismuskritik in den  Anfängen der Juso-Hochschulgruppen

In den Gründungsjahren der Juso-Hochschulgruppen spielten  konservative Gruppen an den meisten Hochschulen so gut wie keine Rolle. Linke Gruppen dominierten die hochschulpolitische Landschaft – Was genau dieses «links» aber bedeutete, wurde kontrovers diskutiert und war umstritten. Zwar verband die linken Gruppen eine grundlegende Skepsis und Ablehnung der Verhältnisse des kapitalistischen Systems, doch bei tiefgehenden Analysen herrschte große Uneinigkeit.  Während sich unter dem Begriff der Kapitalismuskritik beispielsweise einige  Gruppen auf Lenin oder Mao Tse-Tung bezogen und dogmatisch den Kommunismus forderten, kritisierten dies andere wiederum  als einen zu positiven Bezug auf den real-existierenden Sozialismus bzw. Kommunismus der Sowjetunion und der Volksrepublik China, der schließlich nicht die Befreiung von einer kapitalistischen Unterdrückung, sondern eher seinerseits autoritäre Repression nach sich gezogen hat. Die Romantisierung von vermeintlich anti-imperialistischen Befreiungskämpfen und das Einschwenken auf regressive, vereinfachende Kapitalismusanalysen zog dann unter vermeintlich linken Studierenden schonmal die Unterstützung antisemitischer Regime und auch Terrorgruppen nach sich und der Kampf für eine bessere Welt endete in autoritären Reflexen.

Und auch die Frage danach, ob man sich als linke Studierendengruppen mit der eigenen studentischen Situation und den eigenen Interessen oder lieber mit den Interessen der vermeintlich vom Kapitalismus stärker benachteiligten Bevölkerungsgruppen beschäftigen sollte, führte bei den  Juso-Hochschulgruppen zu zahlreichen Diskussionen und inhaltlichen Auseinandersetzungen. Insbesondere Maoist*innen verstanden  Studierende als Teil gesellschaftlich  privilegierter Gruppen, die  ihre Position lieber in den Dienst der Arbeiter*innen stellen oder direkt in die Betriebe gehen und dort arbeiten sollten.

Auch die Frage, inwiefern das Engagement in Parteien sinnvoll (oder möglich) ist, war umstritten. Im Vorfeld der Gründung der Juso-Hochschulgruppen  hatte es in der Vergangenheit bereits zwei Hochschulverbände gegeben, die der SPD nahestanden. Sowohl der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als auch der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) wurden aber nach inhaltlichen Verwerfungen von der Partei ausgeschlossen.

Im März 1973 gab es also eine Lücke in der linken sozialistischen Politik an Hochschulen, die die Juso-Hochschulgruppen füllen wollten und sollten. Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen und ihren Vorgängerorganisationen verstanden sich die Juso-Hochschulgruppen als undogmatisch. Selbst auch Jungsozialist*innen, maßten sie sich jedoch nicht an, die letzte Wahrheit zu kennen. Stattdessen sollte es der Kern der Juso-Hochschulgruppen sein, im Sinne von Karl Marx und einer immanenten Gesellschaftskritik “nicht dogmatisch die Welt [zu] antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue {zu] finden.”1

Als Teil der SPD und der Jusos gegründet, wollten die Juso-Hochschulgruppen Verantwortung auch innerhalb der SPD übernehmen und als linker undogmatischer Richtungsverband die politische Ausrichtung der Partei mitgestalten. Theorie sollte nicht als isolierter Gegenstand an Hochschulen verbleiben, sondern breit diskutiert werden und im wechselseitigen Austausch mit der Praxis stehen,um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen.

Die gegenwärtige  neoliberale Ideologie entlarven 

Die Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaftskritik der Juso-Hochschulgruppen hat seit der Gründung vor 50 Jahren keineswegs an Aktualität verloren. Gegenwärtige ökonomische Debatten werden von neoliberalen Positionen und Kräften dominiert. Durch ihren vermeintlichen Charakter der Ideologiefreiheit behaupten sie, objektive und ergebnisoffene Positionen zu vertreten. Abgesehen davon, dass neoliberale Ideale keineswegs «objektive Wahrheiten» darstellen, finden sie aber vor allem an die gesellschaftlich hegemoniale Leitidee des Antikommunismus Anschluss. 

Durch das Propagieren der neoliberalen objektiven Wahrheit und der Diffamierung sozialistischer Analysen als «Ideologien», werden politische Analysen der Ökonomie bereits als Hirngespinste oder extremes Gedankengut gebrandmarkt und als illegitim verstanden.

Aufgabe eines jungsozialistischen Studierendenverbands muss es daher sein, die neoliberale Ideologie konsequent zu entlarven und die politische Debatte über die ökonomischen Verhältnisse und Produktionsmittel als starke gesellschaftliche Linke mitzubestimmen. Letztgenannte muss, in stetiger  Vermittlung und kritischer Reflexion von Theorie und Praxis, dem neoliberalen Mainstream eine  marxistische Analyse der Verhältnisse  entgegensetzen.  

Sozialismus als Säule der politischen Arbeit

Aus dieser Geschichte heraus bleibt die Notwendigkeit bestehen, die Rolle der Juso-Hochschulgruppen innerhalb der wissenschaftspolitischen und auch der allgemeinen linken Debatte immer wieder zu reflektieren.

Linke Bewegungen und progressive Oppositionen zum kapitalistischen Mainstream sehen sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit Prozessen der Neoliberalisierung und Individualisierung konfrontiert. Die Analyse struktureller Unterdrückungsmuster, die einen kollektiven Kampf erfordern, findet in der Gesellschaft immer weniger statt.  Stattdessen erfahren individuelle Debatten entlang eigener Identitäten, die in immer neuen Kategorien beschrieben werden, Konjunktur und Popularität. Das neoliberale Versprechen der Leistungsgesellschaft von individueller Freiheit und Selbstverwirklichung hat längst seinen Weg in die Köpfe und Debatten der linken Kreise gefunden. Ausgeklammert werden an dieser Stelle äußere und ökonomische Zwänge zugunsten einer Identitätspolitik, die soziale Ungleichheit mindestens unzureichend adressiert: Eigenverantwortung sowie Selbstverwirklichung und -optimierung sind nur dann möglich, wenn der eigene finanzielle Hintergrund dies erlaubt. So entscheidet beispielsweise die soziale Herkunft noch viel zu oft über den Bildungserfolg. Oder anders: Nur weil Angela Merkel 16 Jahre Bundeskanzlerin war, ist der Politikbetrieb noch lange nicht frei von Sexismus und nur weil einige Arbeiter*innenkinder einen Doktortitel erlangen oder habilitieren, ist das Bildungssystem noch lange nicht durchlässig genug.

Es ist also klar, dass ein Fokus auf Individualisierung und das Erreichen eigener Ziele nicht weit genug geht, um tatsächlich für weitreichende, strukturelle Veränderungen zu sorgen. Dafür ist es notwendig, sich von dem Fokus auf Einzelpersonen und Varianten identitätspolitischer Kritik innerhalb der politischen Linken zu lösen und die linke Debatte wieder stärker aus einer sozialistischen Analyse heraus zu führen. Es geht dabei nicht darum, Einzelpersonen ihre individuellen Erfahrungen und Realitäten abzusprechen, sondern diese einzuordnen in eine tiefergehende Analyse. Individuelle Betroffenheit kann dabei stets Anlass für ein Engagement sein, darf aber nicht als einzige und absolute Wahrheit gesetzt werden. Es gilt, sich zusammenzuschließen, um gemeinsam Kämpfe zu führen und die zugrundeliegenden Unterdrückungsmuster zu überwinden. Als sozialistischer Verband ist es die Aufgabe der Juso-Hochschulgruppen, sich an den bestehenden Verhältnissen abzuarbeiten sowie Theorie und Praxis zu verbinden.

Zur Rolle der Studierendenschaft

Auch an Hochschulen und innerhalb der Studierendenschaft ist die Individualisierung der Debatte zu spüren. Studierende betrachten sich nicht mehr als Kollektiv, dessen Aufgabe der gemeinsame Kampf gegen schlechte Lernbedingungen,  Studiengebühren oder rechten Professor*innen ist. Seit ihren Anfängen der Studierendenbewegung ist die Studierendenschaft in viele verschiedene Interessenvertretungen zersplittert und die Ökonomisierung des Studiums sowie die schwachen demokratischen Strukturen an den Hochschulen haben ihr Übriges getan, den Campus und die Studierendenschaft in Teilen zu entpolitisieren. Während große Streikbewegungen an Hochschulen in der Anfangszeit der Juso-Hochschulgruppen noch jährliche kollektive Rituale waren, sind politische Protestformen an Hochschulen inzwischen meist thematisch sehr eng gefasst und tendenziell zur Seltenheit geworden. Zugleich lassen neueste Entwicklungen auch Hoffnungen erwachen: So begannen Ende des letzten Jahres Hörsaalbesetzungen von Klimaaktivist*innen und  dieses Jahr verspricht die bundesweite TVStud-Bewegung durch ihren Einsatz für einen Tarifvertrag für studentisch Beschäftigte einzutreten. Die Breite der Studierendenschaft konnten beide Bewegungen bislang jedoch nicht mobilisieren. Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit, studentische und linke Kämpfe gemeinsam zu führen und eine umfassende Analyse der bestehenden Verhältnisse als Grundlage zu nehmen. Und eben dies kann und muss Aufgabe der Juso-Hochschulgruppen sein: Als Bindeglied von Studierendenschaft, politischer Zivilgesellschaft und parlamentarischer Politik für progressive, sozialistische Ideen zu kämpfen!.

Zur Rolle von Hochschulen

Hochschulen haben in der gesellschaftlichen Debatte eine besondere Rolle. Sie können als Motoren für wissenschaftlichen  Fortschritt und gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Veränderung wirken und, zumindest theoretisch, eine sozialistische Analyse und Kritik vorantreiben. Hierzu bedarf es jedoch einer kritischen Wissenschaft, beispielsweise einer Forschung und Lehre der pluralen Ökonomik, sowie das Bewusstsein, dass Wissenschaft oder Theorie auf der einen Seite und Gesellschaft oder Praxis auf der anderen Seite in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. Denn systematische Ungleichheiten und Herausforderungen finden sich an den Hochschulen ebenso wie in der Gesamtgesellschaft wieder. So werden an Hochschulen nicht nur bestehende Ungleichheiten reproduziert, auch  ausbeuterische Arbeitsbedingungen, patriarchale Unterdrückungsmuster und die kapitalistische Verwertungslogik sind an Hochschulen allgegenwärtig. Aktuelle Diskussionen über Arbeitsbedingungen an Hochschulen, sowohl im Bereich der studentisch Beschäftigten als auch grundsätzlich im Wissenschaftsbetrieb, zeigen die Relevanz des Arbeitskampfes an Hochschulen.

Hochschulen sind als einzelne autonome Systeme aber in der Theorie flexibler als Staaten oder die gesamte Gesellschaft. Einige Hochschulgesetze erlauben es Hochschulen auch, im Rahmen von «Innovationsklauseln» als Experimentierräume bestehende Verhältnisse zu ändern und so andere Möglichkeiten der Teilhabe oder Organisation einzuführen. Zudem kommt Hochschulen in der Gesellschaft eine Vorbildfunktion zu, denn hier sollten bestehende Verhältnisse kritisiert werden können und neue Gedanken und Veränderungen in die Gesellschaft weitergegeben werden. An Hochschulen werden junge Menschen ausgebildet und sozialisiert, wenn diese dort demokratische Prozesse und kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Verhältnissen erleben und einüben, wird dies dazu führen, dass dies in andere Bereiche weitergetragen wird.

Neben den Strukturen an Hochschulen kommt in der sozialistischen Debatte der Forschung an Hochschulen eine besondere Rolle zu. Der Fokus auf kritische Wissenschaft ist eine langjährige Forderung der Juso-Hochschulgruppen, die an Aktualität nichts verloren hat. Ob die Corona-Pandemie oder der Umgang mit der Klimakatastrophe: Die immense Relevanz von kritischer Wissenschaft und guter Wissenschaftskommunikation zeigt sich in der öffentlichen und politischen Debatte deutlich. Wissenschaft, die sich kritisch mit bestehenden Verhältnissen auseinandersetzt, sorgt für ein gesteigertes Bewusstsein für gesellschaftliche Tatsachen und Schieflagen und kann für ein kritisches Bewusstsein sowie Umdenkprozesse sorgen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass sich international immer mehr, insbesondere rechte Gruppierungen dem Kampf gegen (kritische) Wissenschaft verschrieben haben. Ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit bedeutet dabei immer auch einen Angriff auf die demokratischen Diskurse. Wenn pseudowissenschaftliche Thesen oder Verschwörungsideologien als wissenschaftliche Erkenntnisse dargestellt werden, die einen gleichberechtigten Platz in der wissenschaftlichen Debatte verdienen, dann sorgt dies dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder neu verteidigt und erklärt werden müssen. Neben diesen direkten Angriffen ist die kritische Wissenschaft an Hochschulen auch ständig durch unzureichende Finanzierung in Gefahr.

Sozialistisch die letzten 50 Jahre, sozialistisch die nächsten 50 Jahre

Die vielen aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen und Probleme zeigen die Notwendigkeit einer starken, kollektiven sozialistischen Bewegung. An den Hochschulen und darüber hinaus werden  die Juso-Hochschulgruppen weiterhin Teil dieser Bewegung sein und Theorie und Praxis in ihrem politischen Handeln verbinden.

In den  kommenden Jahren müssen wir uns verstärkt mit alten und neuen Herausforderungen einer sozialistischen Gesellschaftskritik beschäftigen. So muss die Neoliberalisierung ökonomischer Verhältnisse und der Individualisierung politischer und linker Kämpfe immer wieder kritisch reflektiert werden. Zugleich muss unsere sozialistische Kritik gesellschaftspolitische Kämpfe für sich produktiv machen und so die wichtigen feministischen und antirassistischen Bewegungen im Sinne der Emanzipation eng an eine sozialistische Gesellschaftskritik koppeln. 

 

Literatur

Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen (2020): Welche Verantwortung hat Wissenschaft? [online] https://jusohochschulgruppen.de/content/uploads/2020/10/BiMo20_Doku.pdf [abgerufen am 24.04.2023]

 

Breder, Philipp / Reiffs, Marieke / Rothe, Kerstin / Strauß, Mareike (2018): Studium, Stupa, Streik! Die Juso-Hochschulgruppen und ihre Geschichte

1 Karl Marx: Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, in: Karl Marx/ Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 337-346, hier S. 344.

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