„Ökosozialismus“ – keine neue Debatte, aber von neuer Aktualität

Von Klaus-Jürgen Scherer

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Eigentlich sollte meine Generation in Sack und Asche gehen. Zwar haben wir Jahrzehnte des Ringens um vielfältige umweltpolitische Verbesserungen hinter uns.1 Doch entgegen klarer Erkenntnisse ab etwa Mitte der 1970er Jahre, dass der wachstumsfixierte Industriekapitalismus unsere Erde ruiniert2, wurde der notwendige Pfadwechsel hin zu einer „Ökonomie des Vermeidens“3, hin zu Kreislaufwirtschaft und zur Nachhaltigkeitsgesellschaft, immer wieder auf die lange Bank geschoben. Was uns jetzt, wo für eine rechtzeitige ökologische Wende die Frist abläuft, massiv auf die Füße fällt.

Da ist es lebensgeschichtlich durchaus entlastend, wenn ein Begriff, den man (als 25jähriger!) gewissermaßen „miterfunden“ hat, auf einmal wieder so richtig Konjunktur hat. So ist vom Ökosozialismus derzeit nicht nur bei Kohai Saito4, Grégory Salle5, Bruno Kern6, Alexander Neupert-Doppler7, Klaus Dörre8 oder selbst in einem Spiegel-Titel9 die Rede, sogar Internet-Seiten nennen sich „Netzwerk Ökosozialismus“ und „Initiative Ökosozialismus“. Und selbst wo der Begriff nicht verwendet wird, bei den ökosozialen Bestsellerautorinnen Ulrike Herrmann oder Maja Göpel, zeigt sich, dass die „große Transformation“ (Göpel) oder die den Wachstumszwang des Kapitalismus überwindende „Überlebenswirtschaft“ (Herrmann) im Kern auch nichts anderes meint. Das trifft auch für den „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“ einer Nancy Fraser zu: „Wenn kapitalistische Gesellschaften die Imperative der sozialen, politischen und ökologischen Reproduktion denen der Warenproduktion unterordnen, die ihrerseits auf Akkumulation ausgerichtet ist, müssen Sozialisten die Dinge auf den Kopf stellen: Sie müssen die Pflege der Menschen, den Schutz der Natur und die demokratische Selbstverwaltung als höchste gesellschaftliche Prioritäten einführen, die wichtiger sind als Effizienz und Wachstum.“10 

Natürlich war das damalige Plädoyer von Fritz Vilmar und mir „Aus dem Demokratischen Sozialismus muss ein Ökosozialismus werden“11 nicht allein unsere begriffliche Pioniertat. Carl Amery hatte als erster auf der Recklinghauser Tagung der Zeitschrift „L‘76“ bereits 1978 von der „Chance des Ökosozialismus“12 gesprochen, denn „bisher hat der Materialismus sich damit begnügt die Welt zu verändern, jetzt kommt es darauf an sie zu erhalten“. Wegweisend war für uns auch unser alter akademischer Lehrer und Futurologe Ossip K. Flechtheim, bei dem es hieß: „Der Ökosozialismus und die Hoffnung auf den neuen Menschen“.13 Gemeint war ein Humansozialismus des „Dritten Weges“, der durch Rahmenplanung eine „Bedarfsdeckungswirtschaft“ möglich macht. Johano Strasser und Klaus Traube erweiterten die reformsozialistische Kritik am Kapitalismus zur Kritik am „Industrialismus“, des auf Wachstum basierenden Wohlstandsmodells. Denn „ohne Begriffe läßt sich schwer schreiben, und der Begriff der Alternative schien uns zu unspezifisch, insbesondere seit sogar die Kernenergie zur ‚alternativen‘ Energie erhoben wurde. Gewiß wollten wir mit dem Begriff Ökosozialismus nicht die Vorstellung von einer determinierten Zukunft wiederbeleben. Vielmehr wollten wir auch begrifflich deutlich machen, daß ein humaner Fortschritt in Zukunft nur aus einer Verbindung der emanzipatorischen Grundsätze des Sozialismus mit ökologischen Einsichten entstehen kann“.14

Erinnerung an unsere Projektgruppe Ökosozialismus

Uns ging es um den programmatischen Grundsatz, dass die ökologische Überlebensfrage als gleichbedeutend thematisiert werden müsse mit Fragen sozialer Gerechtigkeit, also den sozioökonomischen Spaltungen, die der nicht hinreichend regulierte Kapitalismus erzeugt. Und dass beides zusammenhängt: Soziale Politik ist ohne ökologische Dimension nicht mehr überlebensfähig und ökologische Politik ist ohne die soziale Dimension demokratisch nicht durchsetzbar. Vor allem die frühe Computersimulation des Meadows Reports von „The Limits to Growth“15 löste damals die Erkenntnis aus, dass ein auf grenzenlosem Wachstum basierender Industriekapitalismus auf Dauer nicht funktionieren kann. Das war Anfang der 1980er Jahre eine gewagte These, heute ist dies für jeden, der die Klimaprognosen nicht verdrängt, eine Selbstverständlichkeit. Viele Stichworte unseres skizzenhaften Transformationskonzeptes16, das wir voller Idealismus vertraten und in der politischen Konstellation mit den damals noch ziemlich radikalen Grünen umsetzen wollten17, sind auch heute alles andere als überholt. Denn aller Entfaltung der Ökologiebewegung, aller Etablierung von Umweltwissenschaften, aller Institutionalisierung von Umweltpolitik, aller Zunahme ökologischer Unternehmensethik zum Trotz hat unterm Strich die expansive Dynamik umweltvernichtender kapitalistischer Inmarktsetzung keineswegs an Fahrt verloren. Das dramatische Näherrücken vielfältiger Kipppunkte von Ökosystemen hat Ausmaße angenommen, die wir uns damals kaum vorstellen konnten.

Unser Ausgangspunkt war der reformpolitische Demokratische Sozialismus mit seinen Eckpfeilern Grundwerteorientierung, Wissenschaftspluralismus, parlamentarische Demokratie, gesamtgesellschaftliche Demokratisierung, Wirtschaftsdemokratie, mixed economy, Mitbestimmung und volkswirtschaftliche Rahmenplanung. Mit dem Ökosozialismus sollten die klassenlose Gesellschaft und die ökologisch überlebensfähige Gesellschaft zu gleichrangigen Zielen werden. Klar wurde, dass die Abschaffung der kapitalistisch-profitwirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse einhergehen muss mit dem ökologischen Umbau des industriell-konsumistischen Zivilisationsmodells.

Als Subjekt der Veränderung sahen wir dabei nicht nur den akiv gestaltenden demokratischen Staat in der Tradition von Eduard Bernstein, sondern auch Akteure der assoziierten Gesellschaft selbst, denn auf die Zivilgesellschaft, ihre Bewusstwerdung und Innovationskraft komme es an, was auch ethisch motiviertes und möglichst gemeinschaftliches Unternehmertum einschließe.18 Die sozialökologische Emanzipation müsse sich im Kampf der Ideen durchsetzen und könne nicht einfach ökonomistisch oder klassentheoretisch abgeleitet werden. Entscheidend seien kommunikative Lernprozesse, zur staatlichen Regulierung müsse hinzutreten, dass die Ökologisierung des Landes als gemeinsame Umsetzungsgeschichte erlebbar wird. Der Umbau von kapitalistischen Systemstrukturen hin zur Kreislaufwirtschaft und der persönliche Wandel vom Haben zum Sein19 müssten hierbei Hand in Hand gehen. Moralisches Wirtschaften wie Alternativökonomie, gemeinwirtschaftliche und genossenschaftliche Selbstorganisation sei auszubauen, es gehe um Wirtschaftsdemokratie, Dualwirtschaft, Arbeitszeitverkürzung und selektives Wachstum20. Statt totaler und damals noch revolutionärer Konfrontation plädierten wir bereits für eine reformistische Transformationsstrategie der Gestaltung, des Unterlaufens und graduellen Zurückdrängens.

Zudem ging dies für uns einher mit der sozialen Emanzipation aller, mit der das Patriarchat überwindenden Frauenemanzipation und der Demokratisierung aller Lebensbereiche. Unser Ökosozialismus sah sich in der Tradition des freiheitlichen und gemeinschaftlichen Sozialismus, er wollte mit dem ebenfalls naturzerstörenden marxistisch-leninistischen Kommunismus, dem zentralistischen und diktatorischen, eben falsch etikettierten Realsozialismus nichts zu tun haben. 

Mit derartigen Stichworten lagen wir nicht ganz falsch, wenn auch aus heutiger Sicht vieles weiterentwickelt bzw. anders akzentuiert werden dürfte. Gerade unsere drei zentralen Fragen sind alles andere als erledigt: Warum Öko-Sozialismus? Warum Sozialismus? Welcher Sozialismus?

Warum Öko-Sozialismus? – Weil die ökologische Dramatik zum Dreh- und Angelpunkt des zivilisatorischen Überlebens wurde.

UN-Generalsekretär António Guterres warnte 2022 angesichts der katastrophalen Folgen der Erderhitzung: „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, „wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“. Im aktuellen Synthese-Sachstandsbericht des IPPC vom März 2023 hieß es: „Weder die bisherigen Verminderungen des Treibhausgasausstoßes noch die von den Staaten der Erde zum letzten Klimagipfel zugesagten künftigen Reduzierungen sind auch nur annähernd ausreichend, um eine katastrophale Erderwärmung von weit mehr als 1,5 Grad abzuwenden. Mit einem Weiter-so steuert die Erde auf einem Drei-Grad-Kurs ihrer Zukunft entgegen, vielleicht werden es sogar mehr.“21

Neu gegenüber unseren frühen Reformüberlegungen ist, dass die Grenzen des Wachstums als Klima- und Ressourcenkrise bereits heute spürbare Realität sind, katastrophische Ereignisse wie Überflutungen, Trockenheiten, Flächenbrände, Stürme, schmelzende Gletscher, Waldsterben, Insektenschwund, steigende Meeresspiegel usw. sich längst häufen. Zweitens hat sich die zeitliche Dimension vor allem beim Klimawandel und beim Artensterben dramatisch verkürzt, sodass es, berücksichtigt man Geschwindigkeit, Kompromisscharakter und Schwerfälligkeit demokratischer Prozesse, bereits fast zu spät ist zum Umsteuern. Weshalb bereits immer mehr über Resilienz und Anpassung an die veränderten Bedingungen debattiert wird. Drittens gerät, auch angesichts der global gestiegenen Reichtumsunterschiede im entfesselten und vernetzten Kapitalismus, die soziale Komponente stärker als damals in den Blick. Während die Pro-Kopf-Emissionen der ärmeren Hälfte Ende der zwanziger Jahre noch weit unter dem 1,5 Grad Ziel liegen werden, wird für das reichste Prozent eine Überschreitung um das 30-Fache vorausgesagt.22 Es kommt maßgeblich darauf an, im globalen Norden gutes Leben ohne CO2-Ausstoß zu organisieren. Auch wird es in ökonomisch ungleichen und kulturell diversen Gesellschaften Mehrheiten für die ökologische Transformation nur geben, wenn diese nicht als weitere Spaltung, Ausgrenzung, Bedrohung, Verunsicherung oder Verlust wahrgenommen wird. Es geht um die schwierige Aufgabe, beim Klimaschutz alle, auch die sozial Schwächeren, mitzunehmen.

Was heute zu tun ist, brachte die Grundwertekommission der SPD wie folgt auf den Punkt: „1. Die Neuordnung der Reproduktionskreisläufe nach ökologischen Zielsetzungen muss ein fester Bestandteil des Wirtschaftsprozesses werden. 2. Die Transformation muss mit einer qualitativen Veränderung der Produktions- und Konsumweise verbunden sein. 3. Das zielt auf den Kern der Nachhaltigkeitsidee, die Unterscheidung von Wachstum und Entwicklung. Entwicklung ist nach menschlichen Maßstäben endlos. Wachstum ist das nicht. 4. Es bedarf einer gezielten Selektion in der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Rahmensetzungen von Gesellschaft, Recht, Kultur und Politik sowie der Verbindung von Ressourcenbewirtschaftung und Kreditlenkung in Investitionen und Forschung. 5. Das leitende Ziel ist eine dauerhafte und sozialverträgliche Umweltkompatibilität“.23

Warum Sozialismus? – Weil expansives Wachstum zum Wesen des Kapitalismus gehört, bedeutet Klimaneutralität eine neue Wirtschaftsordnung. 

Der x-fache Verbrauch dessen, was der Planet hergibt, mündet im sicheren Kollaps. Bloß zusätzliches grünes Wachstum und Technologieoffenheit, Modernisierung und Marktprinzip zur Steuerung werden zur Erreichung der Klimaziele nicht ausreichen. Eine Postwachstums-Gesellschaft, bei der es natürlich Entwicklung gibt, wird einem gänzlich anderen Wirtschaftsprinzip folgen müssen als die derzeitige Profitökonomie, deren globale Wirtschaftsleistung sich alle rund 25 Jahre verdoppelt und die ohne Wachstum (derzeit global im Schnitt fast 3 %) nicht funktioniert, weil sonst Armut, Instabilität, Krisen und Zusammenbruch drohen. Extensiv wachsender Wohlstandskapitalismus, der zudem nur durch Externalisierung der Kosten und die Existenz unerträglicher Lebensbedingungen anderswo möglich ist24, und eine gerechte Welt wirklicher Nachhaltigkeit sind nicht vereinbar.

Auch wenn Glück und Lebensqualität sich neu definieren, wird es ohne Schrumpfen, De-Growth, Verzicht, Entschleunigung und Kreislaufökonomie nicht gehen – und dies ist eben nur unter Zurückdrängung kapitalistischer Strukturen möglich. Denn „wenn wichtige Güter knapp werden, kann allein der Staat für eine gerechte und effiziente Verteilung sorgen, indem er die raren Mengen lenkt und rationiert“25. Vor allem muss eine Cradle-to-Cradle-Wirtschaft („von der Wiege zur Wiege“) entstehen, in der alle Produkte von Beginn an so designt sind, dass ihre Bestandteile und Rohstoffe in kontinuierlichen technischen und biologischen Kreisläufen zirkulieren können. Eine Wirtschaft, die auf solcher Rahmenplanung und Steuerung basiert, kann man dann durchaus Sozialismus nennen (muss dies aber nicht).

Zwar hat die Idee des Sozialismus historisch an Glanz verloren, auch weil in ihr theoretische Hintergrundannahmen am Werk waren, die aus der Zeit der Entstehung des Proletariats und der Arbeiterbewegung stammen. Doch ist das Projekt nach wie vor zeitgemäß, wenn man damit das Prinzip meint, die Wirtschaft nach Maßgabe einer solidarisch verstandenen Freiheit zu gestalten.26 Für Sozialdemokraten hieß Sozialismus schon früh, die Logik der Kapitalverwertung – damals wegen ihrer Krisenanfälligkeit, steigenden Ungleichheiten und expansiven Ausbeutung – durch Elemente einer demokratischen und sozialen Logik zurückzudrängen. Jetzt treten die neuen existenziellen Gründe hinzu: Notwendig ist die Umwandlung eines Kapitalismus, der so gut wie ausschließlich der Profitlogik folgt, in ein ökologisch und sozial gezügeltes Wirtschaftssystem, das zunehmend von der Nachhaltigkeitslogik bestimmt wird. Es geht dabei um die politische Domestizierung der Märkte, ohne sie abzuschaffen, und um die ökologische und soziale Eingrenzung des Privateigentums an Produktionsmitteln, ohne dieses generell zu verstaatlichen. Doch Markt und Privateigentum müssen ihre dominante Position verlieren, der Gemeinschaft dienen und für die Interessen des Überlebens unserer humanen Zivilisation in Dienst genommen werden. Die politische Steuerung muss die Logik kurzfristig-spekulativer Kapitalrendite (gerade des Finanzmarktkapitalismus) zurückdrängen, was auf eine Umverteilung von Ressourcen und Macht hinausläuft, neue (post-)industriepolitische Zielsetzungen, veränderte Rahmenbedingungen und demokratischen Gestaltungswillen voraussetzt und einen multilateralen, staatenübergreifenden Ansatz erfordert. 

Diese Transformation weg vom real existierenden, immer noch zu stark neoliberalen Kapitalismus hin zu einer dem Primat demokratischer Politik unterworfenen, gerechten und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialordnung braucht aber mehr. Sie erfordert nicht nur demokratisch-institutionalisierte Politik im eigentlichen Sinne, sondern gerade die Aktivierung der Zivilgesellschaft. Dieser Wandel wird nur mit deutlicher Lebensstiländerung, mit breitem praktischen Engagement von aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern gelingen, die in solidarischer Verantwortung für Mitmensch, Natur und Nachkommen agieren. In der Kultur des Alltagslebens, in sozialen Bewegungen und im wirtschaftlichen Handeln sollte das Neue bereits jetzt erfahrbar werden. Es wird auf die dezentrale und kleinteilige Bewusstwerdung und Neuausrichtung der Einzelnen und von Gemeinschaften ankommen, gewissermaßen als eine kollektive Selbstaktivierung, es anders machen zu wollen. Hier kann auch an genossenschaftliche bis alternativökonomische Sozialismustraditionen erinnert werden.

Besonders ungelöst scheint hierbei, wie die Notwendigkeit schneller Schritte hin zum umweltverträglichen Konsum, klimaneutralen Lebensstil und ökologisch angepassten Arbeiten sozial verträglich umgesetzt werden können. Gilt es doch mittlerweile einer doppelten Polarisierung entgegenzuwirken: Neben die klassische Arm-Reich-Spaltung, die die kapitalistische Ökonomie verursacht, gehen die neuen ökologischen und soziokulturellen Konfliktlinien – allerdings durchaus mit der sozialen Frage verwoben – mitten durch Wählermilieus hindurch, die gewonnen werden müssten.

„Wir lassen es nicht zu, dass unser Land im Ökosozialismus versinkt“, so Rainer Kraft, AfD-MdL Bayern. Solche Parolen der AfD gegen den „Klima-Sozialismus“ verfangen. Sie stieg in der Sonntagsfrage wieder auf über 16 %, in weiten Teilen Ostdeutschlands ist sie stärkste Partei (Mai 2023). Es bleibt eine schwierige Aufgabe, Brücken zu bauen zwischen den ökologisch sensibilisierten und den sozial benachteiligten Klassen und Milieus, auch um „Gelbwestenkämpfe“ gegen soziale Zumutungen ökologischer Politik zu verhindern. Einfach in den Anstrengungen der Transformation um des lieben Friedens wieder nachzulassen, erneut wieder alles ein paar weitere Jahre auszusitzen, kann keine Alternative sein. 

Welcher Sozialismus? – Auf den Sozialismusbegriff: freiheitlich, demokratisch, konstruktiv, gemeinschaftlich kommt es an

Hinter mancher Ablehnung des Ökosozialismus steckt letztlich die alte Debatte um das Verständnis vom Sozialismus selbst. Da der Begriff unterschiedlich verwandt wurde, auch missverständlich sein kann, ist ja in der SPD derzeit (anders in den 1970er Jahren) mehr von Sozialer Demokratie27 die Rede.

Als wichtige Einwände gegen den Sozialismus gelten: Erstens: In der öffentlichen Meinung sei der Sozialismusbegriff seit Anfang der 1990er Jahre durch die Diktaturerfahrung der DDR erledigt, im Grunde toxisch geworden. Zweitens: Sogenannte Realpolitiker glauben, überhaupt auf jede theoretische Durchdringung der Verhältnisse, auf Kapitalismuskritik und politökonomische Betrachtungen verzichten zu können. Drittens: Sozialismus würde von der Praxis ablenken, weil in ihm die Illusion einer widerspruchfreien Zukunftsgesellschaft, gewissermaßen eines irdischen Jenseits angelegt sei.

Gegen diese drei Einwände wurden in der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, seitdem es sie gibt, Argumente angeführt. Erstens: Der Demokratische Sozialismus war im Sinne von Eduard Bernstein (1850-1932) über das Godesberger Programm der SPD 1959 bis hin zur Ära, die Willy Brandt28 prägte, historisch gerade der Gegenbegriff zum revolutionären Marxismus und leninistischen Kommunismus. Zweitens: Ohne auf Grundwerte bezogene kritische Gesellschaftswissenschaften, empirische Erkenntnisse und Theorien mittlerer Reichweite, ohne naturwissenschaftliche Szenarien und Prognosen ist eine zielorientierte Politik von Aufklärung, Emanzipation und Vernunft nicht möglich, was besonders für eine strukturverändernde und nachhaltige Reformpolitik des Pfadwechsels gilt. Drittens: Gerade wo die Verlängerung derzeitiger Trends zur Dystopie wird, ist der orientierende und motivierende Spannungsbogen zwischen täglichem Handeln und Visionen, Utopien, Leitbildern und wertebasierten Zielen von einer freien, gerechten und lebensfähigen Gesellschaft vonnöten. Es geht nicht um eine abgeschlossene Systemkonstruktion, wohl aber um attraktive Zukunftsbilder, für die es sich lohnt sich auf den Weg zu machen.

Letztlich bleibt entscheidend, welcher Sozialismus gemeint ist: „Wie aber lässt sich die sozialistische Transformation einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft gestalten, ohne ihre grundlegenden Funktionen lahmzulegen? Und was bedeutet Sozialismus, wenn der Vorstellung einer ‚Vergesellschaftung‘ im Sinne der Enteignung der Privateigentümer und der anschließenden Koordinierung einer überschaubaren Zahl von monopolitischen Großkonzernen die Grundlage entzogen ist? Das sind bis heute die eigentlichen Schlüsselfragen für jede ernst gemeinte sozialdemokratische Reformstrategie. Bernsteins konstruktiver Reformsozialismus ist der Versuch einer Antwort auf diese beiden Fragen. Was das Ziel anbelangt, so lautet die Antwort: Der Sozialismus ist weder ein festliegendes gesellschaftliches oder ökonomisches Modell mit eindeutig definierten Strukturmerkmalen, wie etwa ‚gesellschaftliches Eigentum‘ oder ‚Wirtschaftsplanung‘, sondern ein soziales Prinzip für die schrittweise, ergebnisoffene Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Ebendas, was Marx das ‚Prinzip der sozialen Rücksicht und Voraussicht‘ genannt hatte. Später wurde für diesen Prozess der Überformung der einen Logik durch die andere der heute gebräuchliche Terminus ‚Soziale Einbettung‘ geprägt“.29 

Fazit – auf den Inhalt kommt es an

Dort, wo der Begriff des Ökosozialismus verworfen wird, geht es also nicht immer nur um Klima(wandel)skeptiker, Verschwörungstheoretiker, Fake News Verbreiter, Wissenschaftsleugner, Fans fossiler Energien und Alternativer Fakten. Nicht nur die düsteren ökologischen Zukunftsaussichten an sich werden bezweifelt, vielmehr basiert manches ablehnende Urteil auf einem vulgärmarxistischen Sozialismusbegriff, wie er sich umgangssprachlich durchgesetzt hat. Als ginge es immer noch um die längst überholte Vorstellung, Sozialismus sei die Enteignung aller Produktionsmittelbesitzer, die Abschaffung der Marktwirtschaft und zentralistische staatliche Planung.

Die Techniken, Strategiepfade und Instrumente zur Erreichung der Klimaziele sind vorhanden, müssten aber konsequent eingeführt und Fehlverhalten müsste sanktioniert werden. Dazu braucht es den gegenüber Kapital- und Lobbyinteressen starken Staat (Ordnungsrecht, Kompensationszahlungen, Sozialverträglichkeit, Innovationskraft der Politik). Es braucht ein Primat der Politik mit notwendiger Gegenmacht gegen rechtspopulistische Antiökologen, gegen strukturkonservative Haltungen großer Konzerne und vermachteter Bürokratien, gegen den Lobbyismus umweltzerstörender Industrien und gegen das kurzfristige Shareholder-Value-Prinzip (besonders im Finanzmarktkapitalismus, beschleunigt durch Digitalisierung). Es braucht aber auch kollektive Selbstveränderung und Verhaltenswandel von unten, sowie eine neue, die ökologischen Zusammenhänge respektierende Kultur und Lebensweise, die alte Gewohnheiten überwindet und dabei durchaus neue Möglichkeiten von Gemeinschaft und „gutem Leben“ eröffnet.

Ob man eine solch radikale Reformstrategie der demokratischen, sozialen und nachhaltigen Richtungsänderung dann letztlich aufgeklärten Kapitalismus, sozial-ökologische Marktwirtschaft, Postwachstumsgesellschaft, sozialökologische Transformation, ökologische Disruption, Post-Kapitalismus, Demokratischen Sozialismus oder gar Ökosozialismus nennt, mag zweitrangig sein.

Wir allerdings bleiben lieber beim Begriff des Ökosozialismus, um auf den radikalen Reformismus des Demokratischen Sozialismus und auf die historische Tiefe des zivilisatorischen Einschnittes gleichermaßen hinzuweisen, schließlich läuft die sozial-ökologische Transformation auf einen wirklich epochalen Bruch mit dem bisherigen durch fossile Energie getriebenen Wachstumskapitalismus hinaus. Die Sozialdemokratie stellt sich heute dieser Jahrhundertaufgabe des sozialverträglichen Umbaus hin zur klimaneutalen Wirtschaft im täglichen Regierungshandeln. Dabei bleibt die Anschlussfähigkeit an entsprechende Analysen und Debatten der kritischen Wissenschaften eine Handlungsvoraussetzung. Zudem könnte es die SPD stärken, wenn ihr historisches Leitbild eine Renaissance erfahren würde, etwa im Sinne des Hinweises von Nancy Fraser, „dass Sozialismus kein bloßes Schlagwort oder Relikt der Geschichte bleiben muss, sondern der Name einer echten Alternative zu dem System werden kann, das derzeit den Planeten zerstört und unsere Chancen auf ein freies, demokratisches und gutes Leben zunichtemacht“.30


1 Immerhin gelang die Abschaltung der AKWs in Deutschland. Und aktuell kann man angesichts der Politik der Ampel-Bundesregierung vorsichtig optimistisch sein. Sie versucht „einen verlässlichen und kosteneffizienten Weg zur Klimaneutralität spätestens 2045 technologieoffen“ auszugestalten… „Wir setzen auf sozial-ökologische Marktwirtschaft und auf konkrete Maßnahmen, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden und die Menschen mitnehmen“, so der Koalitionsvertrag 2021.

2 Vgl. z.B.  Global 2000 – Bericht an den Präsidenten, Berlin (West) 1981 (deutsche Ausgabe).

3 Vgl. Michael Müller, Peter Hennicke, Wohlstand durch Vermeiden. Mit der Ökologie aus der Krise, Darmstadt 1994.

4 Kohai Saito, Natur gegen Kapital. Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Frankfurt/M. 2016.

5 Grégory Salle, Superyachten: Luxus und Stille im Kapitalozän, Berlin 2022.

6 Bruno Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft, Zürich 2019.

7 Alexander Neupert-Doppler, Ökosozialismus. Eine Einführung, Berlin 2022.

8 Klaus Dörre, Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2022.

9 Der Spiegel 1/2023, Hatte Marx doch recht? S. 10 ff.

10 Nancy Fraser, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin 2023, S. 242f.

11 Klaus-Jürgen Scherer/Fritz Vilmar, Der Demokratische Sozialismus muss ein Ökosozialismus werden, in: L’80 Heft 26, Köln 1983, S. 14ff.

12 Carl Amery, Die Chance des Ökosozialismus, in: L’76 Heft 7, Köln 1978, S. 119ff.

13 Ossip K. Flechtheim, Der Ökosozialismus und die Hoffnung auf den neuen Menschen in: FR  20. 9. 1980 (auszugsweise als Einführung in den Ökosozialismus, in: Scherer/Vilmar (Hg.), Ein alternatives Sozialismuskonzeopt: Perspektiven des Ökosozialismus, Berlin (West) 1983, S. 17ff.).

14 Johano Strasser/KlausTraube, Die Zukunft des Fortschritts. Der Sozialismus und die Krise des Industrialismus, Bonn 1981, S. 10.

15 Dennis Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, München 1972 (IndustrialisierungBevölkerungswachstumUnterernährungAusbeutung von Rohstoff-Reserven und Zerstörung von Lebensraum).  

16 Klaus-Jürgen Scherer, Fritz Vilmar, Projektgruppe Ein alternatives Sozialismuskonzept: Perspektiven des Ökosozialismus, 3. Auflage Berlin 1984. 

17 Klaus-Jürgen Scherer, Fritz Vilmar, Ökosozialismus? Rot-grüne Bündnispolitik, Berlin 1985.

18 Daher wirkte ich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beim Aufbau des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Berlin(West) mit. Daher das Interesse für die Alternativökonomie, vgl. Klaus-Jürgen Scherer, „Arbeit gibt es mehr als genug“. Die Bio-Müller aus der Heide, in: L`80 Heft 21, Köln 1982, S. 57 ff.

19 Vgl. Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976. 

20 Erhard Eppler, Wege aus der Gefahr, Reinbek 1981, bes. S. 147 ff.

21 https://www.spektrum.de/news/6-sachstandsbericht-weltklimarat-ipcc-legt-synthesebericht-vor/2121906.

22 Oxfam-Studie, Süddeutsche Zeitung 5. 11. 2021.

23 Zit. n. Susanne Ehlerding: SPD-Kommission will mehr Ökologie, in: background.tagesspiegel.de 26. 2. 2020.

24 Vgl. Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016.

25 Herrmann a.a.O., S. 260.

26 Vgl. Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015.

27 Thomas Meyer, Theorie der Sozialen Demokratie, Wiesbaden 2011 (2. Auflage).

28 Nicht von ungefähr bezeichnete Gunter Hofmann Willy Brandt als Sozialisten und nicht nur als Sozialdemokraten: Gunter Hofmann, Willy Brandt. Sozialist – Kanzler – Patriot. Eine Biographie, München 2023. 

29 Thomas Meyer, Bernsteins Theorie aus heutiger Sicht. In: Horst Heimann, Hendrik Küpper, Klaus-Jürgen Scherer (Hg.), Geistige Erneuerung links der Mitte. Der Demokratische Sozialismus Eduard Bernsteins,  Marburg 2020, S. 25.

30 Nancy Fraser, Kapitalismus als Kannibalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/23, S. 101.

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