Demokratischer Sozialismus – Wieso, weshalb, warum?

Von Christian Krell

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200 Jahre voller Ideen 

Als Olaf Palme in einer schwedischen Wahlkampfsendung 1982 gefragt wurde, ob er tatsächlich ein demokratischer Sozialist sei, spürte man, wie intensiv er selbst über diese Frage nachgedacht hatte: 

„Ich bin ein demokratischer Sozialist, mit Stolz und mit Freude. Zu dieser Überzeugung bin ich gelangt, als ich in Indien reiste und die schreckliche Armut sah, die sich mit dem unermesslichen Reichtum mischte; als ich in den Vereinigten Staaten reiste und in mancher Hinsicht noch demütigendere Armut sah; als ich als junger Mann Auge in Auge mit der kommunistischen Versklavung und der Unterdrückung und unmenschlichen Verfolgung in den kommunistischen Staaten konfrontiert wurde. Und als ich in die Konzentrationslager der Nazis kam und die Todesliste von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern sah.“

Die Anfänge dieser Idee liegen weit zurück. Sie können mit der Französischen Revolution von 1789 und der Philosophie der Aufklärung in Verbindung gebracht werden. Und Bausteine dieser Idee taugen immer noch für Zukunftsentwürfe. In diesem Beitrag soll die Idee des demokratischen Sozialismus skizziert werden. 

Die Ideengeschichte wird dabei verbunden mit der Bewegungsgeschichte. Denn das, was Theoretiker*innen vorgedacht haben, hat oft die politische Praxis und damit das konkrete Leben der Menschen beeinflusst. Und umgekehrt haben die praktischen Erfahrungen, die in der Arbeiter*innen-Bewegung und darüber hinaus gemacht wurden, auch die Ideen beeinflusst. Wer wissen will, was es mit dem demokratischen Sozialismus auf sich hat, muss beides in den Blick nehmen: Theorie und Praxis. 

Sieben Schneisen werden in den reichen Ideenwald des Demokratischen Sozialismus geschlagen. Sie folgen historisch lose aufeinander, ohne dass daraus schon eine umfassende Geschichte des Demokratischen Sozialismus entstünde.

1. Freiheit und Gleichheit – Was Karl Marx über das Reich der Freiheit dachte

Keine Freiheit, nirgends. So lässt sich die Situation für die allermeisten Menschen in Europa im ausgehenden 18. Jahrhundert beschreiben. Der Feudalismus begründete Gesellschaften, in denen die Landesherren ihre Untertanen fest im Griff hatten. Menschen waren wie Waren im Besitz weniger Adeliger. Freiheitsrechte waren kaum und wenn, dann nur für einzelne Gruppen in den Gesellschaften vorhanden.

Mit einer neuen Wirtschaftsform – dem sich von England ausbreitenden Industriekapitalismus – änderte sich in den Freiheitsspielräumen der Menschen zunächst nur wenig. Der Industriekapitalismus wirbelte zwar die Gesellschaften durcheinander, aber führte auch zu neuen Formen der Ausbeutung. Zu Millionen mussten sich Männer, Frauen und Kinder in den Fabriken verdingen, die etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schossen. Die kapitalistische Produktionsweise schuf unglaubliche Reichtümer in rascher Zeit – von denen aber nur die wenigsten profitierten. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der allermeisten waren von Hunger, Ausbeutung, Not und einem ständigen Überlebenskampf geprägt.  

Unfreiheit und Ungleichheit – das ist der Hintergrund, vor dem erste sozialistische Ideen entstanden. Es ist kein Zufall, dass die französischen und englischen Frühsozialisten dabei eine Vorreiterrolle einnahmen. Hier entfalteten sich die Entwicklungen, die die alte, mittelalterlich-ständische Gesellschaft zum Erliegen brachten, früher als in anderen Teilen Europas. 

Einer der bekanntesten französischen Frühsozialisten war Claude-Henri de Saint-Simon (1760-1825). Er sah im Privatbesitz von Produktionsmitteln die Ursache für Ausbeutung. Saint-Simon und seine Schüler traten dafür ein, dass die Produktionsmittel letztlich im Besitz des Staates bleiben sollten. Einen anderen Weg schlug Robert Owen (1771 – 1858) vor. Auch er sah den Privatbesitz an Produktionsmitteln problematisch, aber schlug vor, dass die Arbeiter:innen sich in Produktionsgenossenschaften selbst organisierten. So sollte der Ertrag ihrer Arbeit auch vollständig in ihren Händen bleiben. 

In Deutschland nahm der Schneidergeselle Wilhelm Weitling (1808 – 1871) eine wichtige Rolle ein. Er betonte, dass alle Menschen frei und gleich seien. Dabei müssten aber immer auch die Grenzen anderer berücksichtigt werden. Es ist kein Zufall, dass seine Überlegungen an den kategorischen Imperativ des bekanntesten deutschen Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant (1724 – 1804), erinnern. Weitling schrieb: „Jeder besitzt außerhalb des Rechts Anderer die größtmögliche Freiheit seiner Handlungen und Reden“ (Weitling, 1845 in Krell/Woyke, 2015: 98).

So unterschiedlich die jeweiligen Frühsozialisten im Detail auch gedacht haben mögen, sie hat vieles verbunden. Sie verfolgten die Idee einer Gesellschaft, in der die Menschen frei und gleich sind in ihren Rechten. Und das in einer Zeit, in der politisch, ökonomisch und sozial völlige Ungleichheit herrschte. Deshalb verbanden sie ihre Forderungen nach gleichen politischen Rechten auch mit wirtschaftlichen und sozialen Forderungen: Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sollte überwunden werden durch eine harmonische und solidarische Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft. 

Damit werden Überschneidungen zu einer anderen politischen Idee deutlich, die in dieser Zeit entstand: Der politische Liberalismus. Mit ihm teilten die Frühsozialisten die Vorstellung, dass alle Menschen über gleiche Rechte verfügten. Der politische Liberalismus beschränkte diese Idee aber im Wesentlichen auf den Bereich politischer und bürgerlicher Freiheitsrechte. Dass auch wirtschaftliche und soziale Rechte maßgeblich sind, um tatsächlich Unfreiheit und Not zu überwinden und jedem gleiche Freiheitsspielräume im Leben zu ermöglichen, das war die Perspektive der Sozialisten, die die Liberalen in der Mehrheit nicht teilten. 

In dieser Zeit der Frühsozialisten entstand auch eine erste Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus. Die Sozialisten galten als diejenigen, die gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln vorsahen, aber darüber hinaus nicht in den Privatbesitz eingriffen. Die Kommunisten galten als diejenigen, die darüber hinaus eine umfassende Gütergemeinschaft forderten, also weitgehend ohne jeden Privatbesitz (vgl. Offermann, 1986: 191). 

Die bis heute bekanntesten Denker zu den Ideen des Sozialismus sind Karl Max (1818 – 1883) und Friedrich Engels (1820 – 1895). Ihre Werke sind – nach religiösen Büchern – die auflagenstärksten Publikationen weltweit und hatten erheblichen Einfluss auf Theorie und Praxis des Sozialismus. Und das ist kein Zufall. Auch heute noch wird die Kraft ihrer Sprache sofort deutlich: Sie wollten Ausbeutung überwinden und ein „Reich der Freiheit“, in dem „das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.“ (MEW 25: 828). 

Ausgangspunkt ihrer Analyse war – ähnlich wie bei den Frühsozialisten – die kritische Untersuchung der verheerenden Realität des Industriekapitalismus. Sie verstanden sich aber als diejenigen, die einen wissenschaftlichen Sozialismus verfolgten. Es ging ihnen darum, mit wissenschaftlichen Methoden politische Positionen zu begründen, nicht nur mit moralischen Urteilen. Sie kamen zu dem Schluss, dass es zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte Klassengegensätze gegeben habe. Diese Gegensätze haben sich dann in Revolutionen entladen, die wiederum die Gesellschaften insgesamt auf eine höhere Entwicklungsstufe gebracht haben. Die vormaligen Gegensätze waren darin aufgehoben. In diesem dialektischen Ansatz wurden die Bezüge zur Philosophie Hegels deutlich. 

Sie gingen davon aus, dass auch der damalige Industriekapitalismus mit seiner Ausbeutung und Unfreiheit zerbrechen werde. Diese Gesellschafts- und Wirtschaftsform, in der eine Klasse – die Bourgeoisie – auf Kosten einer anderen – des Proletariats – lebte, würde überwunden zugunsten einer Gesellschaft der Freien und Gleichen: „An Stelle der Klassen und Klassengegensätze tritt eine Assoziation (der Produzenten), worin die freie Entwicklung eines jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. (MEW 4: 482).

Bereits bei Engels gibt es einen Hinweis darauf, dass unterschiedliche Strömungen im sozialistischen Lager bestehen. Es gäbe die „demokratischen Sozialisten“, die ähnliche Maßnahmen treffen wollten wie die Kommunisten, zum Beispiel die Errichtung einer demokratischen Staatsverfassung, „aber nicht als Übergangsmittel zum Kommunismus, sondern als Maßregeln, welche hinreichend sind, um das Elend aufzuheben und die Übel der jetzigen Gesellschaft verschwinden zu machen.“ (MEW 4: 378).

Die Marx-Engelssche Emanzipationsidee war hoch attraktiv. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verbreitete sie sich und beeinflusste die Parteien der Arbeiterbewegung (vgl. Morina, 2017). Auch die deutsche SPD griff im Erfurter Programm (1891) wesentliche Thesen aus Marx Kapital auf. Neben den konkreten Ideologiebausteinen, die in die Programmatik des demokratischen Sozialismus einflossen, waren Marx und Engels auch Symbolfiguren, die die politischen Bewegungen des Sozialismus mit ihrer Verheißung eines Siegs der Arbeiterklasse und einer freien Gesellschaft motiviert haben. 

Der ikonische Charakter von Marx und Engels verkleisterte den Blick auf Widersprüche und ungelöste Fragen in ihrem Werk. So ist unklar, wie genau denn der Übergang von einem Reich der Notwendigkeit zu einem Reich der Freiheit gelingen könne. Der Verweis auf Revolutionen als „Lokomotiven der Geschichte“ (MEW 7: 85), die den Fortschritt bringen werden, lässt mehr offen, als er klärt. Thomas Meyer (1973) hat deutlich gemacht, dass in Marx Werk sowohl die Möglichkeit eines radikalen ökonomischen und politischen Bruchs durch eine Revolution angelegt war, als auch die Möglichkeit einer schrittweisen Veränderung durch demokratische Reformen. Kein Wunder also, dass sich in der Folge alle möglichen politischen Bewegungen und Praktiken auf Marx und Engels berufen konnten. 

Was bleibt von Marx, Engels und den Frühsozialisten für den demokratischen Sozialismus? Sie haben die Umbrüche ihrer Zeit gedeutet, eine für die junge Arbeiterbewegung motivierende Erzählung entfaltet und das Bild einer Gesellschaft ohne Ausbeutung beschrieben, in der die Menschen frei sind und entsprechend ihrer Neigungen und Bedürfnisse leben können. Es ging darum, „…alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (MEW 1: 385)   Allerhand für den Auftakt.

2. Frauenwahlrecht! – Wie Rosa Luxemburg für die Emanzipation einstand 

Wenn alle Menschen frei und gleich sein sollen, bedeutet das auch, dass Männern und Frauen gleiche Rechte zustehen und dass Menschen aller Geschlechter die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Die gesellschaftliche Realität war und ist davon freilich weit entfernt. Die Emanzipation der Frauen und das gleichberechtigte Miteinander der Geschlechter gehören daher zu den Kernbausteinen des demokratischen Sozialismus. 

Weitreichende Forderungen dazu finden sich bereits in den Schriften der Frühsozialisten. Für Charles Fourier (1772 – 1837) war der Stand der Emanzipation der Frauen ein Gradmesser für den gesellschaftlichen Fortschritt. Der langjährige Vorsitzende der SPD, August Bebel (1840 – 1913), schrieb das wahrscheinlich auflagenstärkste Buch in der Geschichte der demokratischen deutschen Arbeiter*innen-Bewegung ausgerechnet zur Frage der Emanzipation: „Die Frau und der Sozialismus“ (1879) wurde allein bis 1913 53 mal aufgelegt und entwickelte sich zu einem „realutopischen Kult- und Kursbuch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in ganz Europa“ (Grebing, 2015: 56). 

„Her mit dem Frauenwahlrecht!“ Unmissverständlich brachte Rosa Luxemburg (1871 – 1919) ihre Forderung beim II. sozialdemokratischen Frauentag 1912 auf den Punkt. Sie war wahrscheinlich nicht die bekannteste Vertreterin der Frauenbewegung zu dieser Zeit. Ihre Schriften und Reden befassten sich mit Ideen zu einer sozialistischen Demokratie und sie bekämpfte leidenschaftlich den Nationalismus. Aber dass mit ihr eine Frau über Jahrzehnte hinweg zu den Spitzen der SPD gehörte, das hatte auch eine hohe symbolische Wirkung. Als die Vorstellung vorherrschte, dass Frauen sich um Kinder und Küche zu kümmern haben, war sie der Prototyp einer modernen Spitzenpolitikerin. 

Kein Wunder also, dass die Parteien des demokratischen Sozialismus in ihrer Programmatik und Praxis Fragen der Gleichberechtigung aufnahmen. Im Erfurter Programm der SPD (1891) wurde das aktive und passive Frauenwahlrecht gefordert. 1918 schließlich war es so weit. Als 1948 das Grundgesetz beraten wurde, war aber immer noch umstritten, ob die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ so ins Grundgesetz aufgenommen werden sollte. Es brauchte mit Elisabeth Selbert eine engagierte Sozialdemokratin, um das durchzusetzen. 

Auch modernere Konzepte des Feminismus stehen immer wieder in engem Austausch zu Ideen des demokratischen Sozialismus. Die „vielleicht wichtigste Stichwortgeberin des modernen Feminismus“ (Misik, 2015: 94), Simone de Beauvoir, stand sozialistischen Ideen nahe. Ihre ebenso eindrucksvolle wie klare Feststellung war folgenreich: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (Beauvoir, 1951: 265).

Am Ende ist es ganz einfach: Es geht darum, ein Mensch zu sein. Und zwar ohne, dass einem andere einen Stempel aufdrücken, wer und wie man zu sein hat. 

3. Revolution oder Reform – Wie Eduard Bernstein Bewegung ins Spiel brachte 

Wie erreicht man gesellschaftliche Veränderungen? Die Beatles hatten 1968 ein klares Konzept: Revolution. In ihrem gleichnamigen Chart-Hit heißt es: “You say you want a revolution.
Well, you know. We all want to change the world.” 

Wie man eigentlich genau die Welt verändern kann, war eine Kernfrage im demokratischen Sozialismus. Nicht erst seit Marx und Engels gab es die Vorstellung, dass eine Revolution kommen wird – irgendwie, irgendwo, irgendwann. Wie genau sie sich vollzieht, ob die Arbeiter*innen-Bewegung sie aktiv organisieren soll, oder nur darauf warten solle, war umstritten. Und ob aus dem Zusammenbruch einer schlechten Ordnung zwangsläufig etwas Besseres entstehen würde, das war offen.

Wie man Fortschritt erreichen könnte, war auch in der SPD umstritten. Ihr Parteiprogramm von 1891 zielte einerseits auf einen revolutionären Umschwung, nannte aber andererseits auch zahlreiche einzelne Reformschritte, die man jenseits einer umfassenden Revolution verwirklichen könnte. Die Frage nach Veränderung wurde immer drängender für die SPD: Sie wurde allmählich zur stärksten Partei im Deutschen Reich. Sowohl im Reichstag, bei den Wählerstimmen und bei der Mitgliederzahl war sie tatsächlich „die stärkste der Parteien“ – wie es in der „Internationalen“ hieß. Reale Macht bedeutete das allerdings nicht. Faktisch konnte die SPD mit dieser Stärke kaum etwas bewegen. 

Ein kleiner Mann setzte der Revolutionsromantik in seiner Partei etwas entgegen. Eduard Bernstein (1850 – 1932) stand einer Revolution skeptisch gegenüber. Er glaubte nicht, dass eine komplexe und hochgradig ausdifferenzierte Gesellschaft ihre Funktionsweise von heute auf morgen durch eine ganz andere, alternative Funktionsweise ersetzen könne. Millionen von Wirtschaftsakteuren können nicht von einem Tag auf den anderen umgepolt werden. Auch war Bernstein skeptisch, dass ein unter kapitalistischen Bedingungen sozialisiertes Proletariat sich unmittelbar für eine alternative Gesellschaftsform entscheiden werde. Im Gegenteil, wer die Selbstbestimmungsrechte der Individuen ernst nimmt und Wandel breit gesellschaftlich getragen sein soll (und nicht nur durch eine Elite vorgegeben), der kann realistischerweise nur einen graduellen Wandel erwarten.  

Eine Transformation der Gesellschaft muss deshalb immer durch Veränderungen aus dem bestehenden System, eben durch Reformen, gelingen. Diese Veränderungen „müssen als Teillieferungen des Sozialismus selbst“ (Meyer, 1977: 180) verstanden werden. Es geht, so eine andere prominente Formulierung, um ein „Hineinwachsen in den Sozialismus“.  

Entscheidend dabei ist, dass es nicht um jedwede Veränderung geht, sondern eine zielgerichtete Veränderung. An dieser Stelle führt Bernsteins vielleicht berühmtestes Zitat, dass das Endziel nichts, die Bewegung aber alles sei, in die Irre. Später hat Bernstein (1984 (1889): 201ff.) erläutert, dass es nicht um irgendwelche Veränderungen geht, sondern um Bewegung in Richtung umfassender Selbstbestimmung für alle Individuen in der Gesellschaft. Das Endziel dieser Bewegung sei allerdings kaum abstrakt zu benennen und schon gar nicht im Vorhinein festzulegen, da sich Gesellschaften und ihre Bedingungen immer ändern. Das, was Sozialismus ist, kann nicht von vornherein festgelegt werden. 

In Bewegung bleiben, den Fortschritt fest im Blick, und Schritt für Schritt daran arbeiten, ohne die naive Idee, dass mit einem Schlag alles ganz anders werden könnte. Diesen Mix aus Radikalität und realistischem Blick für die Veränderungsbereitschaft der Menschen hat Bernstein dem demokratischen Sozialismus hinterlassen. Dass es dafür vor allem eine Veränderung im Denken braucht, haben schließlich auch die Beatles aufgegriffen: „You’d better free your mind instead!“ – singen sie in Revolution. 

4. Gleiche Rechte – Wie sich Hermann Heller eine soziale Demokratie vorstellte 

Die Weimarer Republik (1918 – 1933) war die erste Demokratie in Deutschland. In ihr kamen Sozialdemokraten erstmals zu Regierungsverantwortung. Für die Debatte darum, was eigentlich demokratischer Sozialismus sein könne und was das im konkreten Leben eines Menschen bedeute, waren die 1920er eine fruchtbare Zeit. Viele Ideen, die oft erst später ihre Wirkmacht entfalteten, wurden in dieser Phase durchdacht.

Hermann Heller (1891 – 1933) war ein junger Staatsrechtler in der Weimarer Republik. Er gehörte zu den wenigen Vertretern seiner Zunft, die unzweifelhaft für die Demokratie eintraten. Ihm ging es darum, die Demokratie auszubauen und weiterzudenken. Entscheidend für ihn war dabei die Idee eines „sozialen Rechtsstaates“. 

Mit dieser Idee verband Heller die Ausdehnung des Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Wirtschaftsordnung, die „rechtsstaatliche Vergesetzlichung der Wirtschaft“ (Heller, 1971: 461). Das meint, dass sich die demokratischen Rechte nicht nur auf politische Beteiligung erstrecken sollten – zum Beispiel Wahlfreiheit oder Meinungsfreiheit – sondern dass auch die wirtschaftlichen Verhältnisse durch demokratische Spielregeln geprägt sein sollten – zum Beispiel durch eine Sozialbindung des Eigentums. 

Ob die Produktionsmittel vergesellschaftet werden müssen oder nicht, diese Frage verlor an Bedeutung angesichts der Idee, dass man mit einem demokratischen Verfassungsstaat die Regeln für die Wirtschaft so gestalten kann, dass Ausbeutung überwunden wird. Mit Hilfe des demokratischen Staates – zum Beispiel durch Arbeitsrecht, durch Wettbewerbsrecht, durch Mitbestimmung, durch Steuerrecht, durch Tarifrecht – könne die Wirtschaftsordnung so gestaltet werden, dass nicht nur einige wenige, sondern viele von ihr profitieren.  

Damit veränderte sich auch der Blick auf den Staat. Sahen die Frühsozialisten oder auch Marx und Engels im Staat vor allem ein Herrschaftsinstrument der Mächtigen, wurden nun in einem demokratischen Staat die Chancen zur Verwirklichung sozialistischer Ideen gesehen. Nicht mehr Unterdrückung von Meinungen durch den Repressionsstaat, sondern Garantie der Meinungsfreiheit durch den Staat – um nur ein Beispiel zu nennen. Heller brachte es auf den Punkt „Sozialismus ist nicht Aufhebung, sondern Veredelung des Staates“ (Heller in Scholle, 2015: 145). 

Die Kritik an sozialer Ungleichheit blieb. Denn eine wirklich gleichberechtigte Demokratie, in der alle die Chance haben, die gemeinsamen Angelegenheiten in gleichem Umfang zu beeinflussen, die braucht auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht Augenhöhe. Sonst werden die Reichen ihr Geld auch zu politischem Einfluss ummünzen können, während die Armen im täglichen Überlebenskampf keine Kraft mehr für demokratische Mitbestimmung haben. Heller forderte deshalb eine soziale Demokratie, in der neben den politischen Rechten auch soziale und wirtschaftliche Rechte – wie das Recht auf Arbeit oder gesundheitliche Versorgung – als einklagbare Rechte für jeden garantiert werden. Die Begriffe demokratischer Sozialismus und Soziale Demokratie hatten deshalb für Heller die gleiche Bedeutung. 

Spätestens hier müssen wir die Frage in den Blick nehmen, um was es jetzt eigentlich geht: Demokratischer Sozialismus oder Soziale Demokratie. Beide Begriffe gehen zurück bis in das 19. Jahrhundert. Das Wort von den „Sozial-Demokraten“ kommt aus der 1848er-Revolution. Seit den 1920er Jahren wurde es für die demokratische Arbeiter*innen-Bewegung immer wichtiger, sich von antidemokratischen Tendenzen abzugrenzen. 

Die totalitären Regime, die im Osten Europas und in anderen Teilen der Welt versuchten, mit Marx und Engels Unterdrückung und Unfreiheit zu rechtfertigen, brachten auch diejenigen in Misskredit, die für die freiheitlichen und emanzipatorischen Ideen des demokratischen Sozialismus einstanden. Oft genug wurde die sprachliche Nähe im politischen Wettbewerb missbraucht, wie Willy Brandt schrieb: „Das Bekenntnis zu einem Demokratischen Sozialismus (ist für Sozialdemokraten, CK) selbstverständlich und bedürfte keiner besonderen Erläuterung, wenn nicht durch die politischen Gegner immer wieder Begriffsverwirrungen gestiftet worden wäre“ (Brandt, 1986: 120) 

Die Situation spitze sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 zu. Sozialismus klang nun ungefähr so attraktiv wie Honeckers Cordhüte. In der politischen Kommunikation verzichteten Parteien wie die SPD oder auch die britische Labour Party zunehmend auf ein offensives Zurschaustellen des Begriffs „Demokratischer Sozialismus“. Zu groß schien die Notwendigkeit, immer erst klarzustellen, was nicht gemeint ist, bevor man für die eigentlichen Ziele werben konnte. 

In der politischen Substanz sind die Unterschiede zwischen beiden Begriffen ehedem schwer auszumachen. Es geht um eine Gesellschaft, in der Menschen frei, gleich und selbstbestimmt leben können und um eine Politik, die die Voraussetzungen dafür schafft. 

5. Theorie und Praxis – Wie Willi Eichler das Nachdenken vordachte 

Wer sich mit dem demokratischen Sozialismus auseinandersetzen will, der braucht vor allem eins: Eine ziemlich belastbare Lesebrille. Unzählige Werke wurden geschrieben, in denen immer wieder neue Ideen, Bausteine und Argumente zu Theorien verdichtet wurden. Marx und Engels Werke umfassten alleine 44 ziemlich dicke Bände. Und jeden Tag erscheint irgendwo irgendein Aufsatz, ein Büchlein oder sogar ein dicker Wälzer, der sich in theoretischer Perspektive mit dem Sozialismus auseinandersetzt.

Warum schreiben Sozialisten so gerne? Eine der Ursachen liegt in der politischen Bewegungsrichtung. Sozialisten wollten und wollen die Dinge verändern. Sie habe eine Idee von einer besseren Ordnung der Dinge. Konservative politische Strömungen wollen das Bestehende bewahren. Vielleicht geht es hier oder da um eine Modernisierung, aber im Kern sollen die Dinge so bleiben, wie sie sind. Das Reden von der „guten, alten Zeit“ schwingt da mit. Und gewiss auch die Angst vor Veränderungen. Wer aber Fortschritt will, muss diese Veränderung beschreiben können. Hier geht es um die Hoffnung, dass eine bessere Welt möglich ist. Wer das will, muss zeigen, wo die Reise hingehen soll und wie man ans Ziel kommt. Das allein begründet eine stärkere Theorieorientierung bei fortschrittlichen politischen Kräften.

Bestenfalls kann eine gute Theorie die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Veränderungen erklären und einen Zielhorizont für das politische Handeln beschreiben. Sie kann wissenschaftliche Erkenntnisse für die politische Praxis erschließen und der politischen Bewegung eine Richtung geben. Bestenfalls ist sie auch eine Plattform für den Austausch mit Intellektuellen und einer breiteren Öffentlichkeit. 

Aber es geht auch anders: Schlimmstenfalls hat die Theorie einer politischen Bewegung nichts mit der politischen Praxis zu tun, weil sie zu abgehoben und zu realitätsfern ist. Oder weil die politisch Handelnden sich schlicht nicht für eine übergreifende Standortbestimmung interessieren, sondern im täglichen Ringen um Details den Blick fürs große Ganze verlieren. Dann kommt es zu einem unproduktiven Nebeneinander von Theorie und Praxis.

Wie entscheidend umsichtiges Vordenken für eine erfolgreiche politische Praxis war, zeigte sich in der deutschen SPD in den 1950er Jahren. Nach dem II. Weltkrieg ging die SPD davon aus, dass ihr die Unterstützung der Wähler*innen sicher sein werde. Schließlich stand die SPD gegen die Nazi-Diktatur und hatte für das gute Deutschland gekämpft. Doch es kam anders. Bei der ersten Wahl zum deutschen Bundestag 1949 waren CDU/CSU und SPD noch fast gleichauf, danach vergrößerte sich der Abstand bei jeder Wahl zugunsten der CDU.

Um wieder politische Mehrheiten zu erringen, hat die SPD ihr politisches Programm von Grund auf erneuert. Das Godesberger Programm (1959) verabschiedete sich von einem orthodox interpretierten, marxistischen Geschichtsdeterminismus und stellte stattdessen die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität „an die Spitze des Programms“ – wie Susanne Miller (1915-2008) als Sekretärin der Programmkommission prägnant zusammenfasste (in Krell/Woyke, 2015: 124). Mit dem Programm war eine Ausrichtung an Werten verbunden, aber auch eine zeitgemäße Analyse der Gegenwart und ein zupackender Forderungskatalog.

Tatsächlich konnte die SPD nach der Verabschiedung dieses Programms erstaunliche Erfolge erzielen. Von Wahl zu Wahl legte sie zu. Neben den neuen Inhalten waren sicher auch die Diskussionen um das Programm wichtig. Willi Eichler (1896 – 1971) war verantwortlich dafür und stand an der Spitze einer Kommission, deren Name allein bezeichnend war. Er lautete: „Kommission zur Weiterführung der Parteidiskussion“.  Es ging darum, miteinander zu reden, zu streiten, zu debattieren, in der Partei und darüber hinaus. 

Um die Godesberger Beratungen herum entstand deshalb eine ganze Diskussions-Infrastruktur: Neue Zeitungen erschienen, Bildungsstätten wurden errichtet und Diskussions-Zirkel gegründet. Es wurde gemeinsam vorgedacht. Der politische Erfolg gab denjenigen Recht, die eine lebendige Verbindung zwischen Theorie und Praxis forderten. Und er bestätigte, was der langjährige Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Erhard Eppler (1926 – 2019) immer wieder betonte: „Ein Programm ist nur so viel wert wie die Diskussion, die dahin geführt hat.“ (Eppler 1985, in Krell/Woyke, 2015: 124)

6. Industrie oder Ökologie – Warum Erhard Eppler eine Wende wollte 

Hochöfen, Bergwerke, Spinnereien und Chemiefabriken – Die Orte an denen die sozialistische Bewegung ihre Anhänger*innen fand, waren häufig Zentren der industriellen Produktion. Die Parteien des demokratischen Sozialismus wurden oft als Arbeiter-Partei verstanden. Den Tatsachen entsprach so ein enges Label nie. Es waren immer unterschiedliche Gruppen, die die Partei getragen haben. In ihren Anfängen waren neben den Arbeitern z.B. Handwerker wichtig. Es stimmt, dass zahlreiche Forderungen sich zunächst auf die Arbeiter bezogen.  Zugleich war damit immer ein universeller Anspruch verbunden. Es ging nicht darum, neue Privilegien nur für eine Gruppe zu erkämpfen, sondern Freiheitsspielräume für möglichst viele.

Zu dem industriellen Kapitalismus, der die Entstehung der sozialistischen Ideen und Gruppen prägte, bestand ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits war dort Ausbeutung allgegenwärtig und die Arbeitsbedingungen waren hart. Andererseits lieferten die Arbeitsplätze dort auch Lohn und Brot und die Arbeiter*innen-Bewegung war lebensweltlich eng verbunden mit dieser Form der Arbeit. Wenn heute auf Parteitagen Lieder aus dem Bergbau gesungen werden, zeigt sich diese Verbindung. Umso erstaunlicher ist, dass es schon in den Anfängen der sozialistischen Bewegung einzelne Stimmen gab, die die Auswirkungen industrieller Produktion auf die Natur anprangerten und sich nicht nur gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, sondern auch gegen die Ausbeutung der Natur durch den Menschen einsetzten. Später gab es mit den „Ökosozialisten“ eine eigene Strömung, die sich damit befasste. 

Richtig Fahrt nahm die Debatte nach der Veröffentlichung des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums (1972) auf. In einem bemerkenswerten Buch diskutierte Erhard Eppler (1975) die planetaren Grenzen des Wirtschaftswachstums. Er fragte, ob wir zu einer grundlegenden Wende in der Lage sind oder ob wir dem Ende des Menschen auf diesem Planeten entgegensehen. Es war auch Eppler, der schon einige Jahre zuvor die Gleichsetzung von ständigem Wachstum und Fortschritt ablehnte. Ausgerechnet auf einer Tagung der IG Metall hielt er ein aufsehenerregendes Referat unter dem Titel „Die Qualität des Lebens“ (1972). 

Ein ständiges Weiterwachsen der Wirtschaften in den Industrieländern sei schon damals nicht mehr möglich gewesen. Unser Planet gibt das schlicht nicht mehr her. Aber es ist auch gar nicht nötig. Denn für die Qualität des Lebens oder gar das Glück des Einzelnen ist rein quantitatives Wachstum zumindest ab einer gewissen Wohlstandsschwelle nicht entscheidend. Materielle Sicherheit ist gewiss eine entscheidende Bedingung für ein gutes Leben. Sozialdemokratische Parteien müssen sich für diese Sicherheit einsetzen. Aber es brauche neue Maßstäbe jenseits des BIP-Wachstums, um mehr Lebensqualität zu erreichen. 

Die Auseinandersetzung darüber ist bis heute nicht abgeschlossen. Es gab seit dem unzählige Kommissionen, Tagungen und Initiativen, um jenseits des rein quantitativen Wirtschaftswachstums Messgrößen für den Fortschritt in unseren Gesellschaften zu entwickeln. Über Zeitreichtum, Glück oder ein Leben im Einklang mit der Natur wurde gesprochen. Vom Thron gestoßen wurde das BIP aber noch nicht. 

Eppler hat Bleibendes hinterlassen: Es geht nicht um industriell erzeugten, materiellen Wohlstand oder um dessen Vervielfältigung. Es geht mit Eppler nicht um immer größere Autos auf immer breiteren Straßen, nicht um immer aufwändigere Verpackungen für immer fragwürdigere Konsumgüter. Es kann nur da um Wachstum gehen, wo es wirklich die Lebensqualität der Menschen steigert. Angesichts der Klimakrise muss man ergänzen: Es kann nur das wachsen, was unsere Lebensgrundlagen als Menschen auf diesem Planeten sichert. Damit hat Eppler geholfen, dass die alten Parteien der Arbeiterbewegung, die eng verbunden waren mit der Industrialisierung, ein Fortschrittsverständnis für die postindustrielle Ära entwickeln konnten.  

 7. Verteilung oder Anerkennung – Warum Alexandra Ocasio-Cortez zeigt, dass das keine Gegensätze sind 

In den 2000er Jahren herrschte Ratlosigkeit. Wofür stehen die Parteien des demokratischen Sozialismus eigentlich noch? Im Osten Europas war die Idee nach dem Scheitern des sogenannten realexistierenden Sozialismus gründlich verbrannt. Und im Westen Europas war unklar, was man nach drei Jahren neoliberaler Dominanz noch Hoffen und Fordern konnte. 

Auch die Gesellschaften hatten sich verändert. Eine Analyse dazu brachte es dabei Ende der 2010er Jahre zu einer gewissen Prominenz: In den modernen Gesellschaften käme es zu einer drastischen Polarisierung. An den Endpolen standen sich dabei mit Kosmopoliten und Kommunitaristen zwei ganz verschiedene Lager gegenüber.

Als Kosmopoliten galten dabei jüngere, gut qualifizierte und wohlhabende Eliten, die oft in den Städten lebten, weltoffen und frei, die sich für Menschen- und Freiheitsrechte einsetzten und gar kein Problem mit Migration hatten, schließlich seien sie selbst Teil globaler Wanderungsbewegungen. Denen gegenüber stünden die weniger gebildeten, weniger wohlhabenden Menschen, die ihre lokalen Gemeinschaften schützen wollten, deshalb gegen Zuwanderung seien und eine gerechtere Verteilung des Wohlstands wollten (vgl. Merkel, 2017).

Im politischen Wettbewerb würden davon vor allem zwei Kräfte profitieren: Grüne und liberale Parteien, die die Kosmopoliten vertreten und Rechtspopulisten, die die Kommunitaristen vertreten.  Sozialdemokratische Positionen hätten dazwischen kaum mehr einen Raum, entsprechend müssten sich sozialdemokratische Parteien für eine Seite entscheiden (vgl. Merkel, 2018). 

Andere betonten genau das Gegenteil: In Zeiten, in denen die Gesellschaften auseinanderdriften, müssen fortschrittliche politische Kräfte zusammenführen. Es ginge darum, Brücken zu bauen statt Gräben zu vertiefen. Schließlich lägen die Lebenswelten der Menschen nicht so weit auseinander, wie behauptet. Und bei den Forderungen nach wechselseitiger Anerkennung und Freiheitsrechten einerseits und Verteilungsgerechtigkeit andererseits gebe es kein zwingendes entweder/oder. Sie dienen dem gleichen Ziel: Menschen sollen ein selbstbestimmtes Leben führen können, ohne Armut und ohne Bevormundung (hierzu exemplarisch Hollenberg/Krell, 2018). 

In den USA ist eine Politikerin besonders erfolgreich, die beide Forderungen miteinander verknüpft. Alexandra Ocasio-Cortez (*1989) beschreibt sich selbst als demokratische Sozialistin. Sie wurde 2019 ins Repräsentantenhaus gewählt. Dort setzt sie sich für die Black Lives Matter-Bewegung ein und für einen höheren Mindestlohn. Ihr Beispiel zeigt: Forderungen gegen Diskriminierung und für sozialen Ausgleich stehen zueinander nicht im Widerspruch. Und mit ihnen kann man sogar Wahlen gewinnen. Bernie Sanders (*1941), der Parteikollege von Alexandra Oacasio-Cortez, hat es auf den Punkt gebracht: „Our job is not to divide. Our job is to bring people together” (in: Corasaniti, 2016).

Für einen modernen demokratischen Sozialismus bedeutet das eigentlich gar nichts Neues: Egal, ob man wegen seines Geschlechts oder wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wird, oder ob man nicht mithalten kann, weil der Lohn nicht zum Leben reicht – beides muss überwunden werden. 

Und was jetzt? 

Wie steht es um den demokratischen Sozialismus nach 200 Jahren? Kann der Begriff noch begeistern? Und kann er eine Richtung für politisches Handeln vorgeben? Taugt er für den politischen Wettbewerb? Fest steht: Ohne Menschen, die sich für die Ideen des demokratischen Sozialismus einsetzen, ist er eine leere Worthülse. 

Die Kernidee des demokratischen Sozialismus bleibt freilich attraktiv: Es geht um den Kampf gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, oder Gewalt gegen Minderheiten. Und es geht um den Kampf für faire Löhne, Umverteilung, bezahlbares Wohnen, vernünftige Pflege, sozialen Zusammenhalt und den Erhalt eines bewohnbaren Planenten. Es geht um eine Gesellschaft, in der Jeder und Jede ein freies Leben führen kann, in der das Geschlecht oder der soziale Hintergrund nicht über den Lebensweg bestimmt und in der kein anderer entscheidet, wen man lieben darf und wen nicht. Im demokratischen Sozialismus steckt die Hoffnung, dass die Welt zu einem richtig guten Ort werden kann. 


Literatur

Beauvoir, Simone de (1951): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg.

Bernstein, Eduard (1984 [1899]): Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Bonn. 

Brandt, Willy (1986): Demokratischer Sozialismus. In: Meyer, Thomas et al (Hrsg.): Lexikon des Sozialismus. S. 120 – 123. 

Grebing, Helga (2015): Rosa Luxemburg und ihr Konzept einer Sozialistischen Demokratie. In: Krell, Christian (Hrgs.): Vordenkerinnen und Vordenker der Sozialen Demokratie. Bonn. S. 214 – 220.

Heller, Hermann (1971): Gesammelte Schriften. Bde. 1 – 3. Leiden. 

Hollenberg, Sönke / Krell, Christian (2018): Die Linke, die Kosmopoliten und die Kommunitaristen. Über einen Gegensatz, der keiner sein muss. In: SPW, H 6. S. 59 – 65. 

Krell, Christian / Woyke, Meik (2015): Die Grundwerte der Sozialdemokratie. Historische Ursprünge und politische Bedeutung. In: Krell, Christian / Mörschel, Tobias (Hrsg.): Werte und Politik. Wiesbaden. S. 93 – 137.  

Meyer, Thomas (1977): Bernsteins konstruktiver Sozialismus: Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus. Bonn.

Misik, Robert (2015): Was Linke Denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co. Wien.  

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