Wider den deutschen Ungeist – Juso-Hochschulgruppen und der Kampf gegen Antisemitismus: Eine Polemik

Von Carl Julius Reim

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«Der Antisemitismus wird nicht immer wahrgenommen, wenn man nicht von ihm betroffen ist. Wer ihn aber hört, für den ist er wie ein Peitschenknall direkt über dem Ohr, wie ein Gewehrlauf im Nacken, wie ein Tritt in den Bauch mit metallbeschlagenem Stiefel.»1

Als Grundwerte schreiben sich die Juso-Hochschulgruppen Sozialismus, Feminismus und Internationalismus auf die roten Fahnen. In der politischen Praxis gehört jedoch mindestens noch ein vierter Grundwert in diese Reihe: Der Kampf gegen jeden Antisemitismus. Dieser Kampf wurde weder durch die  Besiegung des deutschen Nationalsozialismus beendet noch ist ein solches Ende absehbar. Vielmehr bleibt die Auseinandersetzung mit Antisemitismus grundlegend für einen Verband, der seinem emanzipatorischen Selbstverständnis genügen will.

Hochschule und Antisemitismus

Mit dem Verständnis der Hochschule als politischem Raum geht nicht nur das allgemeinpolitische Mandat einher, sondern ebenso die Feststellung, dass sich die Charakteristika des politischen Raums auch an der Hochschule wiederfinden. Die Debatten in der Bundesrepublik prägen jene an den Hochschulen und umgekehrt. Dies gilt auch für das deutscheste aller deutschen Charakteristika, den Antisemitismus. Nicht nur ist der Tod ein Meister aus Deutschland, der tödliche Antisemitismus bleibt auch in der Bundesrepublik nur spärlich verhüllt. Der deutsche Nationalgedanke war von Beginn an aufs Engste mit der Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden verknüpft, diese Verbindung bleibt bestehen.2 

Wie die nahezu täglichen Angriffe auf jüdisches Leben und erst recht der versuchte Massenmord in Halle zeigen, bleibt dieser Hass grundlegend für die deutsche Gesellschaft.3 «Nie wieder Deutschland» heißt, sich dieser deutschen Normalität entgegenzustellen. Die vermeintliche Zivilisierung nach der Niederringung des deutschen Unwesens durch die Alliierten erweist sich als dünne Kruste, unter der es weiter brodelt. Ein emanzipatorischer Verband, wie es die Juso-Hochschulgruppen sind, muss diese Gefahr ernst nehmen und gegen sie einstehen.

Die nur langsam in Gang kommende Aufarbeitung der Verstrickungen deutscher Universitäten in die deutsche Barbarei vehement voranzutreiben ist ein wichtiger, aber nicht ausreichender Teil dieses Kampfes. In der Bundesrepublik ist es Teil des guten Tons geworden, mit sinnentleertem Gedenktheater ein Minimum an geheuchelter Anteilnahme für die deutschen Verbrechen zu zeigen, ohne daraus die notwendigen Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen. Statt über die realen Gefahren für lebendige Juden und Jüdinnen zu sprechen, wird das Gedenken an jüdische Tote zur Schutzbehauptung gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Im politischen Diskurs scheint es dieser Tage schwerer zu wiegen, ein Gegenüber des Antisemitismus zu entlarven, als tatsächlich antisemitisch zu denken und zu sprechen. Ob im Parlament oder auf Lehrstühlen, Antisemit*innen suhlen sich im Wegschauen und der Akzeptanz der vermeintlich «demokratischen Mitte.»

Befreite Gesellschaft – für alle?

Mit den bereits zitierten Grundwerten der Juso-Hochschulgruppen ist der Anspruch verbunden, gegen jede Diskriminierung und jeden Hass einzustehen. Feminismus und Antirassismus haben in dieser Hinsicht in den letzten Jahren und Jahrzehnten eindrucksvolle Erfolge erringen können. Auch im Kampf gegen Antisemitismus waren die Juso-Hochschulgruppen stets stabile Kämpfer*innen. Blickt man jedoch auf die Entwicklungen in der internationalen, und immer mehr auch der bundesrepublikanischen, Linken, besteht Anlass zur Sorge. 

Mit der Verschiebung zugunsten von Identitätsfragen setzt sich in den letzten Jahren immer stärker ein Verständnis durch, in dem Antisemitismus – wenn überhaupt – nur noch als Nebenschauplatz wahrgenommen wird. Kritik beispielsweise an islamistischem Antisemitismus wird ignoriert undjene Aktivist*innen, die etwa auf Verstrickungen zwischen dem Zentralrat der Muslime in Deutschland und islamistisch-antisemitischen Gruppen, sehen sich dem fingierten Vorwurf der Islamophobie ausgesetzt. Wer den vermeintlich progressiven Konsens kritisiert, wird aus der Bewegung ausgeschlossen.

Dieses Verständnis, das David Baddiel als «Jews don’t count» zusammenfasste,4 versteht Jüdinnen und Juden nicht als diskriminierte Minderheit, sondern als Teil der weißen, unterdrückenden Mehrheit. Eine Ideologie, in der die globalen wie lokalen Probleme ohne Trennschärfe in Hierarchien aus Unterdrückten und Unterdrückern, schwarz und weiß eingeteilt wird, verliert nicht nur jede Subtilität, sondern auch den spezifischen Hass auf Juden und Jüdinnen aus den Augen. Dass dabei nicht selten alte antisemitische Bilder wie jenes vom «strippenziehenden Juden im Hintergrund» verwendet werden, um unleugbare Missstände in der Welt antisemitisch zu verfälschen, verwundert nicht. Wie zuletzt die documenta 15 zeigte, ist antisemitisches Bild- und Gedankengut in der postkolonialen Szene wie in der globalen Linken zur Regel geworden. Auch feministische Bewegungen sind von Antisemitismus nicht frei.5 Dass es weiterhin Juden und Jüdinnen sind, die «praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieh[en],»6 nehmen diese selbsternannten Linken billigend in Kauf. Sich von diesem antisemitischen Strom nicht mitreißen zu lassen, bleibt die dauernde Aufgabe der Juso-Hochschulgruppen.

Am Yisrael Chai!

Der Internationalismus der Juso-Hochschulgruppen versteht sich nicht als bedingungslose Solidarität, sondern als kritisch-solidarische Auseinandersetzung mit linken Kräften in anderen Teilen der Welt. Teil einer intelligenten sozialistischen Analyse der Weltlage muss sein, sich nicht von überholten Klischees leiten zu lassen, sondern wachen Auges Entwicklungen zu verfolgen und Schlüsse zu ziehen. Die imperiale Aggression autoritärer Staaten wie Russlands oder des Iran als solche zu benennen, ist dabei Grundvoraussetzung für alles Weitere. Eine radikale Kritik des sozialdemokratischen Appeasements gegenüber dem verbrecherischen Mullah-Regime im Iran muss das kritisch-solidarische Verhältnis zur SPD aushalten. 

Besonders notwendig ist ein solch waches Auge in der «deutschsprachigen, von Sachkenntnis oft ungetrübten Nahost-Diskussion.»7 Während Tagesschau und pastellfarbene Instagram-Kacheln im Gleichschritt den Meinungskreuzzug gen Jerusalem anführen, muss eine emanzipatorische Linke den Tatsachen unbefangen gegenübertreten. Die steigende antisemitische Gewalt auf der ganzen Welt macht beklemmend deutlich, dass Juden und Jüdinnen einen Schutzraum bitter nötig haben. Diese Lebensversicherung stellt ihre Wichtigkeit mit erschreckender Regelmäßigkeit unter Beweis. Von allen Nachbarn am Tag seiner Unabhängigkeitserklärung angegriffen, setzt sich Israel seit nunmehr 75 Jahren erfolgreich gegen Vernichtungsphantasien seiner Feinde zur Wehr. Sich der aggressiven Politik des Iran sowie der palästinensischen Terrororganisationen Hamas und Fatah entgegenzustellen, heißt zugleich auch, die Shoah-leugnenden Lügner in Teheran, Gaza und Ramallah zu entlarven. Die unbedingte Solidarität mit Israel und seinen Selbstverteidigungskräften muss Grundlage einer internationalistischen Politik bleiben, wenn sie den Kampf gegen Antisemitismus ernstnimmt.

Ob die jeweilige israelische Regierung den sozialistischen Ansprüchen genügt, ist dabei nachrangig. Dass die aktuelle Regierung Netanyahu von Israelfeind*innen weltweit als nachträgliche Legitimation für antisemitische Gleichsetzungen zwischen dem demokratischen Israel und der Schreckensherrschaft des nationalsozialistischen Deutschlands benutzt wird, macht einmal mehr deutlich, dass weite Teile des politischen Diskurses nicht an der politischen Lage zwischen Jordan und Mittelmeer interessiert sind, sondern nach Vorwänden suchen, die Existenz Israels grundlegend zur Disposition zu stellen. Die einzige Demokratie im Nahen Osten sieht sich einer beispiellosen Feindschaft ausgesetzt, die vor Doppelstandards nur so trieft. Der als Antizionismus getarnte Hass auf Israel lässt sich nur mit Blick auf den zugrundeliegenden Antisemitismus verstehen und einordnen. Wer die Existenzberechtigung des jüdischen Staates nicht als unverhandelbar anerkennt, kann in einem emanzipatorischen Diskursraum nur als Gegnerin, keinesfalls aber als ebenbürtige Partnerin mit abweichender Meinung angesehen werden.

Selbst denken

Als emanzipatorischer Verband muss es Anspruch der Juso-Hochschulgruppen sein, sich vom dominierenden Denken in Klischees zu befreien und die Welt zu sehen, wie sie ist. Hannah Arendts Warnung, dass Fakten, die den Interessen oder Gefühlen einer dominanten Gruppe zuwiderlaufen mit zunehmender Feindseligkeit begegnet wird,8 hat an Aktualität nichts verloren. Es wird deutsch in der globalen Linken. Dieser lähmenden Diskursverschiebung müssen sich die Juso-Hochschulgruppen entschieden widersetzen.

Neben der weiteren Stärkung klarer Beschlusslagen zum Themenkomplex Antisemitismus und Israel und der kritischen Analyse eigener wie befreundeter Positionen gehört dazu auch die praktische Arbeit. Enge Kooperationen mit der Jüdischen Studierendenunion und dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft sind stabile Orientierungspunkte, ebenso wie der Kampf für die Anerkennung der vollen IHRA-Antisemitismusdefinition an Hochschulen. Grundlage für all dies bleibt jedoch die wache Analyse des Geschehens. Nur Antisemitismus, der als solcher erkannt und benannt wird, kann effektiv bekämpft werden. Das gebietet nicht nur die Verantwortung einer in der Bundesrepublik tätigen politischen Organisation, sondern ist auch lebendiger Ausdruck der Grundwerte der Juso-Hochschulgruppen.

Literatur

Adorno, T. W. und Horkheimer, M., Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, 22. Auflage, ungekürzte Ausgabe (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2016 [1947]).

Arendt, H., ‚Truth and Politics’ in Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought (East Rutherford: Penguin, 2006 [1968]), S. 223-59.

Baddiel, D., Jews Don’t Count: How Identity Politics Failed One Particular Identity (London: TLS, 2021).

Chutnik, S., Weibskram, (Berlin: Vliegen, 2012 [2008]).

Grigat, S., Die Einsamkeit Israels: Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung (Hamburg: KVV konkret, 2014).

Reim, C. J., ‚Kein ‚anderes Deutschland‘ in Sicht: ‚Deutsche‘ Identitätspolitik zwischen Kontinuität und Neuinterpretation‘, Perspektiven.DS 37 (2020), 216-9.

Salzborn, S., Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern (Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2020).

Stöver, M., ‚Im Zweifel gegen den Burgfrieden: Zur notwendigen Kritik des Antisemitismus unter Feminist*innen‘ in K. Linkerhand (Hrsg.), Feministisch streiten: Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen (Berlin: Querverlag, 2018), S. 268-75.


1 S. Chutnik, Weibskram, (Berlin: Vliegen, 2012 [2008]), S. 80.

2 C. J. Reim, ‚Kein ‚anderes Deutschland‘ in Sicht: ‚Deutsche‘ Identitätspolitik zwischen Kontinuität und Neuinterpretation‘. Perspektiven.DS 37 (2020), 216-9.

3 S. Salzborn, Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern (Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2020), S. 5. 

4 D. Baddiel, Jews Don’t Count: How Identity Politics Failed One Particular Identity (London: TLS, 2021).

5 M. Stöver, ‚Im Zweifel gegen den Burgfrieden: Zur notwendigen Kritik des Antisemitismus unter Feminist*innen‘ in K. Linkerhand (Hrsg.), Feministisch streiten: Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen (Berlin: Querverlag, 2018), S. 268-75.

6 T. W. Adorno und M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, 22. Auflage, ungekürzte Ausgabe (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2016 [1947]), S. 177. 

7 S. Grigat, Die Einsamkeit Israels: Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung (Hamburg: KVV konkret, 2014), S. 8.

8 H. Arendt, ‘Truth and Politics’ in Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought (East Rutherford: Penguin, 2006 [1968]), S. 223-59, auf S. 231.

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