Internationalismus ohne Osteuropa? Wieso linke Kräfte gut daran tun, osteuropäische Perspektiven wahrzunehmen^1

Von Laura Loew

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Universitätsinstitute, die sich auf historischer, kulturwissenschaftlicher oder linguistischer Ebene mit Osteuropas Sprache, Geschichte und Gesellschaft auseinandersetzen, stellen üblicherweise eigene Biotope dar, in deren Gänge sich selten andere VertreterInnen der jeweiligen Fachdisziplinen verirren. Aber genau wie viele andere gesellschaftliche Bereiche sind auch diese Mikrokosmen mit der Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf das gesamte ukrainische Territorium sozusagen implodiert. In letzter Minute geplante Vorlesungen zur Geschichte der Ukraine, deren HörerInnenzahlen wenn nicht ganz die Marke von Einführungsveranstaltungen in Maschinenbau erreichen, so doch fachinterne Rekorde brechen, reihenweise Meinungsbeiträge in deutschen Leitmedien, die zuvor vereinzelten Fachkoryphäen vorbehalten waren, und die auf einmal freiwerdenden Finanzmittel, die Universitätsleitungen nun fast bereitwillig zur Verfügung stellen, sind nur einige Anzeichen dieser plötzlichen Popularität. Und nun ist es selbstverständlich müßig, sich über die Funktionsweisen von Aufmerksamkeitsökonomie zu echauffieren, über das Kaputtsparen der Osteuropaforschung an deutschen Hochschulen, oder gar die Leier zu bemühen, dass OsteuropaexpertInnen schon vor Jahren vor genau diesem Szenario gewarnt hätten. Es lohnt jedoch, nochmal einen Blick darauf zu werfen, wie die deutsche Wissenschaft und Politik, besonders auch sozialdemokratische und progressive Stimmen, in den letzten Jahren über Osteuropa2 diskutiert haben, diese Debatten mit Diskursen in den Ländern selbst abzugleichen und schließlich abzuwägen, wie sich diese Diskussion produktiv weiterentwickeln kann. Die Reflexion darüber ist nicht zuletzt auch ein Teil der notwendigen Auseinandersetzung mit den Leerstellen eines Internationalismus der westlichen Linken. Denn dieser ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten allzu oft in einem aus den 1970er Jahren überlieferten anti-amerikanischen Reflex verblieben, womit auch die Glorifizierung der Sowjetunion und Russlands als deren vermeintlicher Nachfolger als Kämpfer gegen den westlichen Imperialismus einhergeht. Der Blick auf Osteuropa – über Russland hinaus – kann auch für ein linkes Internationalismusverständnis im Hinblick darauf helfen, alte Gewissheiten aufzubrechen und einen nuancierten Blick auf ein internationales Machtverhältnis zu werfen, das sich schon lange nicht mehr nach dem Deutungsmuster des Kalten Krieges erklären lässt.

«MusterschülerInnen» oder «Problemkinder» – Osteuropa nach dem Systemwandel

Auf politischer Ebene schwang das Bewertungspendel in den letzten Jahren von Begeisterung für die Turbo-Demokratisierung (und -Kapitalisierung), insbesondere in den «neuen» EU-Mitgliedsländern, um zu einem (erneuten?) Rückständigkeits-Narrativ angesichts von Wahlerfolgen von Populisten, Rechtsstaatsbedrohungen wie in Polen oder Ungarn oder Einschränkungen von Menschenrechten, wie Einschränkungen von Abtreibungsrechten oder Diskriminierung von LGBT-Personen. Ergänzend wird in diesen Diskursen einem aufgeklärten (west-)europäischen Verfassungspatriotismus ein aggressiver, ethnisch exklusiver osteuropäischer Nationalismus entgegengesetzt – nicht zuletzt ist die einem Teil der westlichen Linken immer noch nicht ausgetriebene putinsche Mär von «Nazis in der Ukraine» dieser Gegenüberstellung geschuldet. Einerseits wird damit die Globalität populistischer und autoritärer Strömungen ignoriert, die alternative Modernitätsvorstellungen zur liberalen, demokratischen Weltordnung präsentieren. Ob islamistische Radikale, evangelikale Rechtsextreme in Südamerika und den USA oder die von einigen als «Raschismus»3 bezeichnete Ideologie Russlands und ihre Zöglinge á la Le Pen, Kaczyński, Salvini oder Orban, sie alle vereint der Abscheu gegen die «verkommene» westliche Welt. 

Andererseits verkennt diese Argumentation jedoch auch den spezifischen lokalen Kontext der «postkommunistischen/-sozialistischen» Staaten. Frei nach dem Motto «für Demokratie gekämpft, den Kapitalismus for free dazubekommen» erlebte Osteuropa in den 90er Jahren eine Phase der wilden Neoliberalisierung, die zwar das Lob Westeuropas, aber auch Arbeitslosigkeit, den Zusammenbruch von Infrastruktur, insb. im ländlichen Raum, und große soziale Ungleichheit zur Folge hatte – und bis heute hat. Die Losungen von Demokratie und Liberalismus wurden damit für viele Menschen diskursiv verknüpft mit den realen Erfahrungen von Armut und Erniedrigung und sind es bis heute. Die jüngsten Wahlerfolge von Populisten bis Rechtsextremen in diesen Regionen werden nur allzu oft – wie auch im westdeutschen Diskurs über Ostdeutschland – als „Demokratieunfähigkeit“ abgetan. Diese plumpe Bewertung ignoriert einerseits die materiellen Verlusterfahrungen, die viele BürgerInnen der «postkommunistischen/-sozialistischen» Staaten nach dem Systemwandel erlebt haben, andererseits aber auch die Kränkungen auf identitärer Ebene, die dieser Bruch nach sich zog. Um das «ostalgische» Sentiment zu überwinden und die Abwanderung der potentiellen WählerInnenschaft einer Linken – nicht nur in Mittel- und Osteuropa – zu Rechtspopulisten zu verhindern, muss es sozialdemokratischen und sozialistischen politischen Kräften also gelingen, die negativen Konnotationen großer Teile der Bevölkerung mit einer liberalen Gesellschaftspolitik und der Vertretung demokratischer Werte aufzubrechen. Damit das gelingt, muss sie die sozialen Nöte aufgreifen, ohne dabei bei gesellschaftspolitischen Fragen in Populismus abzurutschen und betonen, dass Demokratie und (neoliberaler) Kapitalismus kein untrennbares Wortpaar ist.

Zwischen «Ostalgie» und «Dekommunisierung» – der Blick auf die staatssozialistische Vergangenheit

Doch nicht nur die materiellen Bedürfnisse eines großen Teils der Bevölkerung, der nicht direkt von der demokratischen und kapitalistischen Wende in Mittel- und Osteuropa profitiert hat, wurden im (west-)europäische und liberalen politischen Diskurs lange ignoriert. Während die post-sozialistischen und -kommunistischen Staaten sich nach 1989/91 auf einem geschichtspolitischen Spektrum zwischen radikaler (zumindest diskursiver) Dekommunisierung und mangelnder Aufarbeitung bewegen, spielt sich die Debatte in der deutschen Linken zwischen einer unkritischen Verherrlichung der „realsozialistischen“ Systeme und dem Herumwerfen mit «Totalitarismusthesen» ab, das die Auseinandersetzung mit der Spezifik der staatssozialistischen Systeme verunmöglicht. Weder die eine noch die andere Ausprägung dieser vergleichbaren Debatten bildet jedoch die realen Erfahrungen der diversen Bevölkerungsgruppen dieser Staaten ab.

Der Bruch mit den staatssozialistischen Systemen auf geschichts- und erinnerungspolitischer Ebene führte in vielen Staaten Mittel- und Osteuropas zu einer Rückbesinnung auf nationale Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts.4 Diese Suche nach einer «vor-kommunistischen» nationalen Identität führte neben der Rückbesinnung auf demokratische politische Traditionen teilweise zum Rückgriff auf ethnisch-nationalistische AkteurInnen der Zwischenkriegszeit und die Glorifizierung antikommunistischer WiderstandskämpferInnen, die in einigen Fällen jedoch während des Zweiten Weltkriegs aus zweckrationalen oder ideologischen Gründen mit den Nationalsozialisten kollaborierten.5 Praktisch zeigt sich diese neue Geschichtspolitik in der Umbenennung von Straßen, dem Abriss und der Neuerrichtung von Denkmälern oder der Einrichtung von Gedenktagen.6 Im Gegensatz dazu berufen sich entweder einzelne politische AkteurInnen (meist die Nachfolgerinnen der jeweiligen Kommunistischen Parteien) oder ganze Staaten explizit auf das sowjetische/sozialistische Erbe und verweigern sich einer Aufarbeitung. Die kommunistischen Verbrechen werden entweder ignoriert (bspw. Russische Föderation und Belarus dar) oder externalisiert. Letztere Tendenz findet sich vor allem in den ehemaligen sozialistischen Satellitenstaaten und in den nicht-russischen Sowjetrepubliken, in denen die kommunistischen Funktionäre als «aus Moskau gesendet» markiert und die Traditionen eigener sozialistischen und kommunistischen Bewegungen ignoriert werden. 

Parallel dazu können in «westlichen» (linken) Diskursen entweder die Glorifizierung der sowjetischen und kommunistischen Staaten beobachtet werden, die von Gulag-Memes in den sozialen Medien, der Benutzung sowjetischer Symbolik oder gar dem aktiven (theoretischen) Bezug auf Lenin bis Mao reicht, oder allerdings das liberal-bürgerliche Paradigma von den zwei gleichzusetzenden Totalitarismen.  Ersteres ignoriert nicht nur offensichtlich das Unrecht der kommunistischen Staaten, sondern fällt auch dem Trugbild von Internationalismus und gesellschaftlicher Gleichheit zum Opfer, das die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten gerne vor sich hertrugen.7 Doch auch die zweite Position stellt eine Vereinfachung dar. Der totalitäre Charakter insbesondere des stalinistischen Systems und der Staatsterrorismus durch Deportationen, Zwangsarbeit und die versuchte Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen ist unbestritten. Die diskursive Parallelisierung der NS-Diktatur und des Sowjetkommunismus jedoch entlässt aus der Verantwortung, sich kritisch mit der Spezifik der staatssozialistischen Systeme – ihrer über 70-jährigen Existenz in dutzenden unterschiedlichen Ländern – auseinanderzusetzen. Außerdem öffnet sie gerade in der deutschen Debatte Tür und Tor für die Entlastung des eigenen schlechten Gewissens8 angesichts des nationalsozialistischen Terrors, der sich von deutschem Boden auf ganz Europa erstreckt hatte. 

Schließlich greift keiner dieser dargestellten Diskurse die Diversität der Erfahrungen der Bevölkerung der staatssozialistischen Systeme auf; von Opfern der autoritären Unterdrückung zu Bildungsaufsteigern aus sozial schwachen Schichten, von opportunistischen Parteikadern zu idealistischen Sozialisten, deren Traum eines humanen Kommunismus in den 1930ern der Sowjetunion oder spätestens 1967/68 platzte. Eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit Mittel- und Osteuropas erfordert sowohl intern als auch extern die Anerkennung der Leiden Verfolgter einerseits, muss aber gleichzeitig die Entmündigung anderer Bevölkerungsgruppen vermeiden, indem ihnen ihre Lebenserfahrungen und -leistungen abgesprochen und sie als «Verführte» einer Ideologie dargestellt werden. Es lohnt dabei, einen Blick auf interne, linke KritikerInnen der staatssozialistischen Systeme zu werfen, die (zu Beginn) keinesfalls die Überwindung des Sozialismus, sondern ganz im Gegenteil, dessen Weiterentwicklung und Verbesserung forderten. Dazu gehören beispielsweise die Budapester Schule rund um Georg Lukács, die jugoslawische Praxis-Gruppe oder (jüdischstämmige) WissenschaftlerInnen wie Zygmunt Baumann, die nach der antizionistischen Kampagne 1967/68 emigrieren mussten.

Nicht alle nur russisch, christlich, weiß – Diversität in Osteuropa

Ein weiteres Bild, das den westlichen Blick auf Osteuropa dominiert, ist die Vorstellung der Region als ethnisch und religiös homogene. Dies spiegelt sich in der Unfähigkeit der deutschen Behörden wieder, den aus der Ukraine fliehenden Drittstaatenangehörigen, die sich dort schon lange ein Leben aufgebaut haben, Schutz zu gewähren, in der Verwunderung vieler Deutscher, wieso viele der ukrainischen Flüchtlinge denn russisch sprechen würden oder in der Annahme, die immer wieder in linken Internet-Diskursen geäußert wird, nämlich, dass Osteuropäer keine rassistische Diskriminierung erfahren könnten, weil sie ja alle weiß und christlich seien. Auch die bereits genannte Vorstellung der osteuropäischen Nationalismen als außergewöhnlich ethnisch exklusiv und rassistisch schreibt sich in dieses Denkmuster ein.9 

Diese Perspektive ignoriert die Multikulturalität, – religiosität und -lingualität, der Region, die historisch lange Traditionen hat. Sowohl die ersten jüdischen wie auch die ersten muslimischen Bevölkerungsgruppen siedelten sich im Zuge des Mittelalters in Osteuropa an. Juden schufen sich in Polen und Litauen bereits im 16. Jahrhundert eine überregionale Selbstverwaltung,10 Mittel-/Osteuropa wurde im 17. Jahrhundert zum Ausganspunkt des Chassidismus11 und sieben israelische Ministerpräsidenten wurden in Osteuropa geboren.12 Das jüdische Leben in Osteuropa wurde durch den Holocaust beinahe vollständig ausgelöscht und durch den wahlweise als anti-Kosmopolitismus, anti-Kapitalismus oder anti-Trotzkismus getarnten sowjetischen Antisemitismus konnte das Judentum als kollektive Identität in den sozialistischen Staaten auch nicht wiedergeboren werden. An die jüdische Bevölkerung erinnern häufig nur noch materielle Überreste wie zweckentfremdete Synagogen oder verwachsene Friedhöfe, andererseits wachsen die jüdischen Gemeinden in den Metropolen wieder (durch Zuwanderung oder Rückkehr zu den familiären Wurzeln) und die Erinnerung an die ehemaligen NachbarInnen wird durch eine wachsende Zahl an Gedenkstätten und Museen aufrechterhalten. Während die (historische) Existenz einer jüdischen Minderheit in Osteuropa vielen noch geläufig ist, so ist über muslimische autochthone kaum etwas bekannt.

Erste muslimische Bevölkerungsgruppen wie die Tataren kamen im Zuge der Eroberungen der sogenannten „Goldenen Horde“ im 13. und 14. Jahrhundert nach Ost- und später durch die Herrschaft des Osmanischen Reiches auch nach Südosteuropa.13 Diese bilden, vor allem in Mittel-/Osteuropa, oft nur sehr kleine Gemeinden, doch prägen trotzdem seit Jahrhunderten ihre Geschichte dieser Region mit. Neben tatarischen Bevölkerungsgruppen bspw. in Ostpolen oder in Trakai in Litauen sind vor dem aktuellen Kontext besonders die Krimtataren zu nennen, deren Khane vom 15.-18. Jahrhundert über die Krim herrschten. Die folgenden Ent-tatarisierungsbemühungen des Russischen Imperiums, das die Krim im Jahr 1783 in sein Territorium eingliederte, gipfelten in der Sowjetunion schließlich in der genozidalen Deportation des Jahres 1944. Nachdem den Krimtataren im Jahr 1989 schließlich das Rückkehrrecht gewährt wurde, stellen sie nun wieder etwa 12% der Bevölkerung der Halbinsel, die seit 2014 einer der zentralen Schauplätze des schon damals begonnenen russischen Krieges gegen die Ukraine ist. Während die Integration in das nationale Selbstverständnis und die politische Selbstverwaltung der Krimtataren in der Ukraine kein einfacher Prozess war, so haben sich die Krimtataren mit ihrer mehrheitlich sehr pro-ukrainischen Haltung während des Euromaidan 2013/14 und in dem seitdem währenden Krieg Russlands gegen die Ukraine ihre Zugehörigkeit in das ukrainische Nationenverständnis regelrecht erkämpft.14 

Die Kriegsausweitung Russlands seit Februar 2022 betrifft die Krimtataren in besonderem Maße. Beispielhaft kann dafür die im September in Russland angeordnete «Teilmobilisierung» stehen, die laut einigen Schätzungen auf der von Russland annektierten Krim zu 90% Krimtataren betrifft.15 Dies schreibt sich in die Berichte darüber ein, dass auch andere Russische Teilrepubliken, deren Bevölkerung keine ethnischen Russen sind, überproportional von der Mobilisierung getroffen sind.16 Denn auch die Russische Föderation selbst ist keineswegs ein ethnisch oder religiös einheitlicher Staat, sondern verfügt über die größte muslimische Bevölkerung Europas (ausgenommen der Türkei). Diese besiedelte die heute Russland zugehörigen Gebiete teilweise schon lange vor der Ankunft ostslawischer Bevölkerung in diese Regionen.17 Dieser Eindruck einer einheitlichen Identität wird in der deutschen Debatte auch häufig auf die Sowjetunion übertragen, die als direkter Vorgänger Russlands angesehen wird. Damit werden die 14 weiteren Sowjetrepubliken mit fatalen Folgen für die politische Debatte unter den Tisch gekehrt, beispielsweise, wenn aus historischer Pietät gegenüber der Sowjetunion argumentiert wird, es sollten keine deutschen Panzer gegen eine russische Armee eingesetzt werden – die historische Verpflichtung Deutschlands gegenüber der Ukraine, deren SoldatInnen ebenso in der Roten Armee gekämpft hatten, wird dabei geflissentlich ignoriert.

Und wie weiter? Anknüpfungspunkte für neue Perspektive auf Osteuropa

Nachdem seit Februar nun halb Twitter einmal kurz von Virologie- zu Ukraine-ExpertInnen geworden ist und «Waffenlieferungen» auch in der Linken kein schmutziges Wort mehr ist, bleibt die Frage, welche nachhaltigen Veränderungen der Russische Angriffskrieg auf die Ukraine auf die deutsche politische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte haben wird.

Ein Konzept, das in der politischen Szene schon vor einigen Jahren aufgetaucht ist, ist der Begriff «post-ost», mit dem sich (linke) AktivistInnen mit osteuropäischem Migrationshintergrund bezeichnen. Auch der Begriff «Antislawischer Rassismus» wird in diesem Kontext häufig verwendet. Mit diesen beiden Bezeichnungen soll auf analytischer und praktischer Ebene die spezifische Diskriminierung von OsteuropäerInnen gefasst und deren Perspektive sichtbar gemacht werde. Entstanden aus dem Bedürfnis, sich in aktuelle linke Diskurse von Intersektionalität und Rassismuskritik einzufügen, können diese Kategorien die Debatte, die eben vor allem die gesellschaftlichen Realitäten ihres Entstehungskontexts in den USA abbildet, sinnvoll für die (west-)europäische Migrationsstruktur erweitern. Diese ist stark durch Einwanderung aus Osteuropa geprägt,18 doch ist diese Bevölkerungsgruppe häufig nicht unmittelbar als solche wahrnehmbar, da sie sich phänotypisch kaum von der deutschen Mehrheitsbevölkerung unterscheiden und in den Familien oft ein starker Assimilationsdruck herrscht.19 Dieser «Unsichtbarkeit» entgegenzuwirken ist eines der Ziele der «post-ost»-Bewegung. Auch die geschichtspolitische Debatte in Deutschland hat sich in den letzten Jahren stärker auf die Verbrechen der Wehrmacht in Osteuropa konzentriert, was sich am Beispiel der diversen Debatten rund um Gedenkstätten für die deutsche Besatzung in Polen spezifisch oder in (Ost-)Europa generell beobachten lässt.20 Die nationalsozialistischen Überlegenheitsfantasien über die und die rassistische Abwertung der «slavischen Völker» sind Aspekte, die auch durch das Konzept des «Antislawischen Rassismus» gefasst werden sollen, ebenso wie die stereotypsierte Darstellung von OsteuropäerInnen im Film (Bären, Wodka, Bösewichte) oder die herablassende Behandlung osteuropäischer Frauen, die in (West-)Europa im unterbezahlten Sorgearbeits-Sektor angestellt sind. Dieser Begriff gilt einigen als analytisch (noch) nicht klar genug gefasst, subsumiert er doch eine große Bandbreite von Phänomenen und ordnet sich in die Logik identitätspolitischer Debatten ein.

Auch unter osteuropäischen AktivistInnen sind diese beiden Konzepte umstritten. Der «post-ost»-Bewegung wird von einigen Russozentrismus vorgeworfen und auch die Unterordnung unter die Kategorie «Osten», oft verbunden noch mit dem Attribut «post-sowjetisch» oder «post-kommunistisch», wird als Verfestigung künstlich geschaffener Setzungen kritisiert. Und tatsächlich bedienen sich die «post-ost»-AktivistInnen eines strategischen Essentialismus, um aus ihrer Position als Betroffene ihren Ansichten Gehör zu verleihen. Ob ein Aktivismus, der sich aus individueller Betroffenheit speist und sich auf persönliche Erfahrungen bezieht die jahrzehntelange geopolitische Vernachlässigung und das fehlende historische Wissen über den «Osten» beseitigen kann, ist fraglich. Doch andererseits kann man diese Strategie als realpolitische Notwendigkeit anerkennen, da der (linke) Diskurs derzeit nach diesen Spielregeln und mit Hilfe dieser Kategorien funktioniert. Und tatsächlich scheint die «post-ost»-Bewegung, befeuert durch diverse Ereignisse, wie beispielsweise die Proteste in Belarus 2020, die Verschärfung der Abtreibungsregelungen in Polen im Herbst des selben Jahres oder nun schließlich die Ausweitung des russischen Angriffs auf das gesamte ukrainische Territorium, inzwischen ein fester Teil der linken Szene geworden zu sein. Davon zeugen Einladungen zu Podiumsveranstaltungen, die Präsenz auf sozialen Medien oder auch nicht zuletzt der Umstand, dass der (ironische) Bezug auf sowjetische Symboliken oder sogenannte «Gulag-Witze» auch in der linken Szene zumindest nicht mehr unwidersprochen bleiben.

Ähnliche Debatten werden, verstärkt seit Februar des Jahres 2022, in wissenschaftlichen Kontexten geführt. Ob auf persönlicher oder institutioneller Ebene die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit russischen WissenschaftlerInnen verhandelt werden (an eine weitere Kooperation mit Institutionen denkt wohl niemand ernsthaft nach) oder wahlweise die Forderungen nach der De-Kolonisierung, -Russifizierung oder -Imperialisierung Osteuropas und seiner Erforschung diskutiert werden. Was dies auf der Ebene der Lehr- und Forschungsgestaltung bedeutet, ist dabei sogar wohl weniger umstritten als die theoretischen Fundamente dieser Ideen. Denn dass der überhöhte Stellenwert der russischen Geschichte und Sprache in den Osteuropawissenschaften reduziert werden muss, dass auf die Relevanz und die Interessen aller Staaten, die bis jetzt oft einfach nur «dazwischen» lagen, geachtet werden muss, das leuchtet wohl noch jedem und jeder ein. Doch um die Begrifflichkeiten, theoretischen Grundlagen und Forschungsperspektiven, die über diese Praxismaßnahmen hinausgehen, wird rege gestritten. Die Frage nach dem kolonialen Charakter des Russischen und Sowjetischen Imperiums, aber auch anderer historischer Großreiche der Region, wie beispielsweise des polnisch-litauischen Staates, wird schon seit Jahren diskutiert. In letzter Zeit hat die Geschichtswissenschaft den Begriff der «Imperien» für diese Staatengebilde bemüht, und unter anderem auf deren ethnische und religiöse Diversität verwiesen. Doch all dies, so KritikerInnen, würde die russische Dominanz nur verschleiern; die Perspektive müsse endlich in Richtung «Peripherie» verschoben werden, in Richtung der imperialen oder kolonialen Subjekte, die aus ihrer Subalternität hervortreten sollen. Dass eine solche de-Imperialisierung oder de-Kolonialisierung stets auch einen re-essentialisierenden oder re-nationalisierenden Charakter trägt, ist einer der Kernkonflikte eines dekonstruktivistischen Wissenschaftsverständnisses und gleichzeitig auch einer internationalistischen Linken.21 

Dass in einem globalen, vermeintlich post-nationalen Zeitalter nationale Befreiungskämpfe und die Herausbildung nationaler Historiographien einen progressiven Charakter haben können, scheint anachronistisch, ist aber angesichts der geopolitischen, materiellen Realitäten zu einem Umstand geworden, an dem sich sowohl Wissenschaft als auch progressive politische AkteurInnen abarbeiten müssen. Für die Forschung bedeutet dies, sich zwar durchaus im Sinne einer de-Russifizierung auf die vielen anderen Staaten und Gruppierungen zu fokussieren, die im weit verstandenen «Osteuropa» existieren und agieren, ohne dabei aber en passant neue kohärente Nationalhistoriographien zu schaffen, die anschließend wieder in einem mühsamen historischen Prozess dekonstruiert werden müssen. Für sozialdemokratische und sozialistische politische Kräfte bedeutet dies, sich mit linken und progressiven Kräften in Osteuropa auseinanderzusetzen und diese in zu unterstützen in einerseits ihrem Streben nach Demokratie und Unabhängigkeit in einem globalen Kontext und andererseits in ihrem Bestreben nach sozialer Gerechtigkeit und Pluralismus innerhalb ihrer Gesellschaften. Es bedeutet aber auch, in linken internationalistischen Debatten aus tradierten Denkmustern auszubrechen, die sich nur zwischen den Polen «Westen/USA» und «Russland» abspielen und in denen die Rollen von «gut» und «böse» schon vorverteilt sind.

1 Dieser Artikel ist in seiner ursprünglichen Fassung zuerst erschienen unter dem Titel «Osteuropa weiter denken – ein Plädoyer für neue Perspektiven in der (deutschen) Debatte über Osteuropa» im Heft «Impulse» der Willy-Eichler-Akademie e.V., https://europa-impulse.de/wp-content/uploads/2023/04/13_Impulse-2023-April_mit-Laura-Clarissa-Loew.pdf. 

2 Der Begriff «Osteuropa» müsste eigentlich auch Teil einer Reflexion über den deutschen Diskurs sein, da er weder geographischen noch historisch oder politisch eindeutig verwendet wird und häufig auch schon eine Wertung und Zuschreibung enthält. In diesem Kontext wird er aber in dem Sinne verstanden, wie er in der deutschen Debatte meist verwendet wird, ist, nämlich als (generalisierende) Sammelbezeichnung aller post-sozialistischen Staaten.

3 Ukr. «рашизм», siehe auch: Snyder, Timothy: The War in Ukraine Has Unleashed a New Word.

In a creative play on three different languages, Ukrainians identify an enemy: ‘ruscism.’, in: The New York Times Magazine, 22.04.2022, https://www.nytimes.com/2022/04/22/magazine/ruscism-ukraine-russia-war.html [06.05.2023].

4 Wobei pauschal eine re-Nationalisierung zu diagnostizieren unangemessen wäre, da die staatssozialistischen sich ganz genau so nationaler Narrative bedienten und somit bspw. das Gedenken an Minderheiten ausschlossen. Ein Gedenken an die jüdischen Opfer des Holocaust beispielsweise wurde in Mittel- und Osteuropa erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wirklich möglich.

5 Beispielsweise die „Verstoßenen Soldaten“ in Polen, die OUN-UPA in der Ukraine, Garegin Nschdeh in Armenien oder die „Lettischen Legionäre“ in Lettland.

6 Siehe bspw.: Декомунізація, in: Український Інститут Національної Пам’яті, https://uinp.gov.ua/dekomunizaciya-ta-reabilitaciya/dekomunizaciya [06.05.2023]; Dekomunizacja Przestrzeni Publicznej, in: Instytut Pamięci Narodowej, https://ipn.gov.pl/pl/upamietnianie/dekomunizacja [06.05.2023].

7 Dies tritt besonders eklatant im Falle der Sowjetunion zu tage, die spätestens nach dem Ende der « коренизация» (Einwurzelungspolitik) im Jahr 1928 zu einer Russifizierungspolitik umschlug, die alle sowjetischen Teilrepubliken betraf.

8 Vgl. die Debatte um den sog. «(ersten) Historikerstreit»

9 Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass es in osteuropäischen Ländern durchaus dominante ethnisch basierte nationalistische Strömungen gibt, doch diese konkurrieren oft mit breiter gefassten Nationskonzepten.

10 Vgl. Goldberg, Jakub/Kaźmierczyk, Adam: Wstęp, in: dies. (Hg.): Sejm Czterech Ziem. Źródła, Warszawa 2011, S. 5-22.

11 Vgl. Ettinger, Shmul: The Council of the Four Lands in: Polonsky, Antony/Basista, Jakub/Link-Lenczowski, Andrzej (Hg.): The Jews in Old Poland 1000 – 1795, London/New York 1993, S. 93-109, hier S. 106.

12 David Ben-Gurion, Mosche Scharet, Levi Eschkol, Golda Meir, Menachem Begin, Jitzchak Schamir, Schimon Peres.

13 Vgl. Introduction, in: Górak-Sosnowska, Katarzyna (Hg.): Muslims in Poland and Eastern Europe. Widening the European Discourse on Islam, Warszawa 2011, S. 9-11, hier S. 9.

14 Zur Geschichte der Krimtataren vgl. bspw. Jobst, Kerstin S.: Gefährliche Fremde und Titularnation? Partizipation der Krimtataren im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion, in: Boeckh, Katrin et al. (Hg.): Staatsbürgerschaft und Teilhabe. Bürgerliche, politische und soziale Rechte im östlichen Europa, München 2014, S. 179-198 und Zasztowt, Konrad: The Crimean Tatar Muslim Community: Between Annexed Crimea and Mainland Ukraine, in: Studia Religiologica 52 (1) 2019, S. 27-48.

15 Vgl. Walker, Shaun: ‘A way to get rid of us’: Crimean Tatars decry Russia’s mobilisation, in: The Guardian, 25.09.2022, https://www.theguardian.com/world/2022/sep/25/a-way-to-get-rid-of-us-crimean-tatars-decry-russia-mobilisation [06.05.2023].

16 Ilyushina, Mary: Anger flares as Russia mobilization hits minority regions and protesters, in: The Washington Post, 23.09.2022, https://www.washingtonpost.com/world/2022/09/23/russia-mobilization-minorities-ukraine-war/ [06.05.2023].

17 Vgl. Der Islam in Russland, in: bpb.de, https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-316/, [06.05.2023].

18 Vgl. bspw. Destatis: Gut jede vierte Person in Deutschland hatte 2021 einen Migrationshintergrund, 12.04.2022, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_162_125.html#:~:text=Von%20den%2022%2C3%20Millionen,%25)%20aller%20Menschen%20mit%20Migrationshintergrund 06.05.2023].

19 Vgl. bspw. Loew, Peter Oliver: Unsichtbar? Polinnen und Polen in Deutschland – die zweitgrößte Zuwanderergruppe, in: bpb.de, 17.10.2017, https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/256398/unsichtbar-polinnen-und-polen-in-deutschland-die-zweitgroesste-zuwanderergruppe/#node-content-title-1 [06.05.2023].

20 Vgl. z.B. Stabsstelle zur Errichtung des Dokumentationszentrums „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ (ZWBE), https://www.dhm.de/museum/ueber-uns/stabsstelle-zur-errichtung-des-dokumentationszentrums-zwbe/ [06.05.2023] oder zum geplanten „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“, in: Deutsches Polen Institut, https://www.deutsches-polen-institut.de/politik/polen-ort/ [06.05.2023].

21 Vgl. die Debatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Kassymbekova, Botakoz/Werberger, Anette: Das Herrschervolk regiert noch in den Köpfen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.08.2022; Kindler, Robert/Rupprecht, Tobias/Urbansky, Sören: Die Verdammten der russischen Erde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.08.2022; Schulze-Wessel, Martin: Faschismus? Genozid? Vernichtungskrieg?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.20222.

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