Editorial: «Orientierungssuche in der Zeitenwende»

Editorial zur «perspektivends» 02/2016

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Erneut ist allseits von einer Zeitwende die Rede, von einer ähnlich tiefgreifenden Zäsur wie damals 1989/90, als die «Wende» in der Implosion und Transformation der kommunistischen Welt mündete. Aber welche Zeitenwende erleben wir heute wohin? Wie orientieren wir uns als demokratische Sozialisten und soziale Demokraten in diesen neuen Zeiten? Wie viele Fehler sind selbstgemacht, wo die Armen, Abgehängten und Ängstlichen aus den Augen verloren wurden? Sind unsere alten Orientierungen eigentlich noch zeitgemäß oder müssten sie nicht geradezu eine Renaissance erleben? Wie kann die linke Mitte, besonders die SPD, weiterem Siechtum und kontinuierlichem Niedergang entgehen? Was kann dem Kontrollverlust der Politik gegenüber dem globalisierten Kapitalismus noch entgegengesetzt werden?

Brexit, Trump, völkisch-rechtsradikale Parteien und Bewegungen, Terror, aus der «Willkommenskultur» wurde oft Angst vor der «Flüchtlingsflut»: 2016 ist manche Weiche falsch gestellt worden. Wird nun 2017 das Jahr der Entscheidung zwischen denjenigen, die die liberale und soziale Demokratie verteidigen und denjenigen, die für einen die Menschenwürde missachtenden Autoritarismus stehen? Warnende Worte gab es genug: Er ist wohl besiegelt, der Abschied von dem, was man bis dahin «den Westen» nannte (Joschka Fischer). Wir sind Zeitzeugen der Neuvermessung der Welt (Sigmar Gabriel). Wir erleben eine Zeitenwende, weil das, worauf wir uns stets verlassen haben, Vernunft und Verstand, keine Kategorien mehr sind, auf die wir uns verlassen können (Nicol Ljubić). Nach unseren Maßstäben ist Trump ein Faschist (Claus Leggewie). Sie sollten diese Art von «besorgten Bürgern», statt um sie herumzutanzen, kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus. (Jürgen Habermas). Wir erleben die Rückkehr des Faschismus (Jakob Augstein), usw. usf.

Im Schwerpunkt dieses Heftes finden sich hierzu unterschiedliche Analysen, Aspekte und Meinungen. Antworten müssen wohl besonders zu folgenden Themen gefunden werden: Wie orientieren wir uns in der soziokulturellen, quer zur rechts-links-Achse liegenden, Frage von Offenheit und Toleranz versus Schließung und Abgrenzung? Wie kann eine neue Gleichheitspolitik mit den neuen Unterschichten entwickelt und glaubhaft verkörpert werden, damit Chancen für alle wirklich werden, damit die Nachfolger der Arbeiterklasse nicht den Rechten überlassen bleiben? Wie kann eine Politik notwendiger Sicherheit so gestaltet werden, dass sie nicht den Angstund Panikmachern auf den Leim geht und nicht mithilft, dass alles weiter ins Rutschen kommt, weg von Demokratie, Freiheit, kultureller Vielfalt, Empathie für Minderheiten? – Vielleicht macht Mut, dass in der krisenhaften Zuspitzung, in der manche Barbarei Land gewann, auch die Alternative eines demokratischen Sozialismus, der mehr sein will als ein Aufsteiger- und Modernisierungsprojekt, wieder sichtbar wurde – von Bestsellern wie Paul Mason Postkapitalismus oder Axel Honneth Die Idee des Sozialismus bis zum unerwarteten Erfolg von Bernie Sanders, der gegen Trump die US-Präsidentschaft möglicherweise gewonnen hätte. Und der nach der Niederlage der Demokraten seinen Optimismus nicht verlor: «Ich bin betrübt, aber nicht überrascht von diesem Wahlausgang. Es ist kein Schock für mich, dass Millionen für Mr. Trump stimmten, weil sie den ökonomischen, politischen und medialen Status quo satt haben … Als ich meine Bewerbung um die Präsidentschaft beendete, bat ich meine Unterstützer, dass die politische Revolution weitergehen möge. Nun muss das mehr denn je geschehen.»

Die perspektivends haben sich immer als intellektuelles Mitmachprojekt verstanden. In diesem Heft findet sich eine neue Rubrik junge perspektiven, verantwortet von Simon Obenhuber und Moritz Rudolph. Damit wollen wir unterstreichen, wie sehr wir daran interessiert sind, unsere Debatten gerade für die jüngere Generation zu öffnen und Nachwuchswissenschaftlerinnen und – wissenschaftlern einen besonderen Raum zur Publikation anzubieten. Obenhuber und Rudolph gebührt besonderer Dank für ihre Initiative, mit einem Call for papers, anknüpfend an den Text «Programmatische Grundlagen des demokratischen Sozialismus» von Willy Brandt, große Resonanz ausgelöst zu haben. Vielleicht gelingte auch in den folgenden Ausgaben diese Seiten zu einer festen Einrichtung zu machen, auf denen grundsätzliche Debatten, durchaus mit generationsspezifischem Blick und ziemlich tabulos aus Sicht der Jüngeren (aber auch untereinander) geführt werden können.

Denn wie formulierte es Willy Brandt, der jugendliche Hoffnungsträger von 1949, einst: «Grundsatzfragen verdienen ernstgenommen zu werden. Sie sind für uns keine Angelegenheit der Taktik. Sie erfüllen uns auch nicht mit irgendeinem Bangen vor dem, was als Endergebnis herauskommen mag, wenn wir mit entschlossenem Realismus ans Werk gehen.» Ganz in diesem Sinne findet sich wie immer in unserem Heft ein breites Meinungsspektrum, der offene und begründete Diskurs ohne machtpolitische Taktik – das bleibt unser Markenzeichen!

Kira Ludwig und Klaus-Jürgen Scherer für die Redaktion der perspektivends

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