Bericht Futuring Critical Theory (09.2023)

Lukas Marvin Thum 

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«Kritische Theorie heute kann dazu beitragen, Räume zu öffnen oder offenzuhalten für andere Begriffe, andere Bilder, andere Vorstellungswelten.»1

Hundert Jahre ist das Institut für Sozialforschung dieses Jahr alt geworden. Gefeiert wurde das Jubiläum vom 13. bis 15. September mit einer großen internationalen Konferenz in den Räumen der Universität Frankfurt. Der Anspruch der Konferenz war es, die Kritische Theorie erst zu sezieren, diese dann mit globalen und materialistischen Perspektiven zu bearbeiten, und  sie am letzten Tag dann bearbeitet wieder zusammenzusetzen. Die so rekonstruierte Kritische Theorie sollte für die Zukunft gewappnet sein. Anders ausgedrückt lautete das Motto der Veranstaltung: Futuring Critical Theory.

100 vergebene Jahre oder die Frage nach dem Anderen

Vor dem Hintergrund der letzten Wochen und eigentlich der letzten Jahre gewinnt man jedoch schnell den Eindruck, dass die letzten 100 Jahre kritische Theoriebildung in Frankfurt und darüber hinaus vergebens waren.

Mit Schrecken ist zu beobachten, wie sich weite Teile der gesellschaftlichen Linken von jeder kritischen Selbstreflexion verabschiedet haben und Seit an Seit mit Fundamentalisten schreiten. Auch die Debatten um die Fragen von Migration und Asyl, die in der SPD und darüber hinaus geführt werden, scheinen ohne viel (kritische) Denkleistung vonstatten zu gehen. Wie eingangs zitiert, geht es der Kritischen Theorie darum, anderes Denken und Handeln zu ermöglichen. Ganz nach dem Verständnis, das Max Horkheimer für die Art der Theoriebildung der Kritischen Theorie postuliert hat, hat sie einen emanzipierenden Anspruch. Einen Anspruch, den die SPD ebenfalls für sich formuliert,2 jedoch momentan anscheinend vergessen hat.
Denn Emanzipation wirft Fragen auf, auf die Antworten gefunden werden müssen. «Wer» soll emanzipiert werden/sich emanzipieren? «Wovon» soll sich emanzipiert werden? Und «wohin» zeigt die Bewegung, die Emanzipation vollzieht? Emanzipation geht von einem Subjekt aus, welches den Status Quo überwindet und in etwas Anderes übergeht. Diesem Anderen muss jedoch ein Platz im Denken und Handeln zukommen.

Futuring Critical Theory

Das Denken dieses erst einmal unbestimmten Anderen stand im Zentrum der Konferenz des IfS. Der rote Faden, der sich durch alle vier Phasen der Konferenz zog, war die Arbeit an Begriffen, ihre Aktualisierung und der Versuch, mit ihnen Räume zu öffnen, um den Status Quo besser zu verstehen, oder Möglichkeiten aufzuzeigen, die über ihn hinausweisen.

Dabei ging es ebenfalls darum, die mythischen Figuren der frühen Frankfurter Schule3 auf den Boden des Hier und Jetzt zurückzuholen und sie und ihre Ideen mit Themen wie Rassismus und dem aktuellen Stand kapitalistischer Systeme zu konfrontieren.

Unter dem Motto der Globalisierung und der Materialisierung versuchten die Teilnehmer*innen auf den Panels, die Kritische Theorie zu nutzen, um zum einen globale Krisenphänomene zu erfassen – Klimawandel, die humanitäre Katastrophe im Umgang mit Migration, Veränderung und Globalisierung kapitalistischer Systeme – und zum anderen durch eine (Re)Materialisierung des Repertoires der Kritischen Theorie diese Krisen besser zu verstehen. Dabei standen sowohl Fragen nach dem Grund der Passivität gegenüber dem Klimawandel als auch nach dem erneuten erstarken autoritären Denkens in liberal kapitalistischen Systemen im Fokus der Wissenschaftler*innen. Auch die Frage nach der Natur und unseren Abfallprodukten in dieser wurde im Kontext eines situierenden Materialismus aufgeworfen.
Das Ganze wurde im letzten Teil und in dem Perspektiven Papier des IfS in die Zukunft gedacht. Hierbei nennt das IfS zwei grundlegende Theoriestränge, die es zusammen mit und gestützt auf empirische Forschung entwickeln möchte. Der Fokus liegt auf einer Krisentheorie des Funktionierenden und einer Praxistheorie des Möglichen. «In aller Kürze und vorläufiger Annäherung formuliert: Dass es so weiter geht, ist die Krise – ob es aber so weiter geht und weiter gehen kann, erweist sich erst in der alltäglichen gesellschaftlichen Praxis.»4

Das Andere denken in der Sozialdemokratie

Ohne auf die einzelnen Vorträge und Diskussionen der Konferenz en detail einzugehen, ist die wichtigste Lehre aus der Konferenz, dass kritisches Denken einen Unterschied machen kann.

Um ein Beispiel zu geben: Die Analyse rechter und rechtsextremer Organisationsformen in Brasilien wurde von Bruna Della Torre auf der Konferenz so erweitert, dass nicht mehr nur klassische Formen der Organisation politischer Gruppen – bspw. Parteien – begriffen werden konnten, sondern über eine Umformulierung der Thesen zur Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer wurde versucht, die Organisation über Telegram und andere digitale Medien besser zu verstehen. So wird aus einzelnen, in den digitalen Medien radikalisierten Akteuren wieder eine sich organisierende Gruppe. Etwas, das durch klassische Begriffe und Methoden der Analyse von rechten Gruppen nicht fassbar gewesen wäre.

Dass unser Denken und unsere Begriffe, die wir dafür verwenden, immer schon gesellschaftlich vermittelt sind, sollte mittlerweile eine Binsenweisheit für all jene sein, die für sich in Anspruch nehmen, kritisch mit der Welt zu interagieren. Ergebnisse aus feministischer Theoriebildung und Debatten in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unterstreichen diese Einsicht immer wieder. Dass man dadurch nicht in die postmoderne Falle tappen muss, jeglichen Anspruch auf Wahrheit als rein strategisch zu betrachten, zeigen auch neuere Ansätze, die jedoch den kritischen Impetus gegenüber bürgerlichem und liberalem Denken und ihrem Objektivitätsbegriff beibehalten.5

Was bedeutet dies nun für die Sozialdemokratie, welche Rolle kann die Kritische Theorie in den nächsten 100 Jahren in ihr einnehmen? Und wieso sollte sie eine Rolle spielen?

Die Frage nach dem wieso möchte ich damit beantworten, in dem ich auf die Tradition verweise, in welche sich die SPD in ihrem Grundsatzprogramm selber stellt: «Nach ihrer Gründung war sie [die SPD, L.T.] beides: Emanzipationsbewegung der Arbeiter und Demokratiebewegung […].»6 In ihren drei Grundwerten will sie dieses Erbe fortsetzen. Wie wir jedoch schon gesehen haben, bringt die Verpflichtung zu Emanzipation Fragen mit sich, die eine Antwort verlangen und beschreibt eine Denkbewegung, die vollzogen werden muss.

Die Frage nach dem Subjekt der Emanzipation möchte ich an dieser Stelle ausklammern. Ob es ein revolutionäres Subjekt gibt, es nur eines ist, oder eine Pluralität von Gruppen und welche dies genau sein könnten, ist eine Debatte, die an anderer Stelle geführt werden muss.

Als viel wichtiger erscheint mir die Frage nach dem «Wovon?» und dem «Wohin?». Die doppelte Forschungsausrichtung des IfS – eine Krisentheorie des Funktionierenden und eine Praxistheorie des Möglichen – aufgreifend, müssen wir also auf der einen Seite fragen, welche Teile des Status Quo krisenhaft und damit zu überwinden sind und auf der anderen Seite müssen wir es schaffen, zumindest Räume zu öffnen, um zu begreifen, wie wir soziale Praktiken fördern können, die auf ein anderes Morgen hinweisen.

Gerade die erste Aufgabe scheint in der aktuellen Konstellation der sozialdemokratischen Bewegungen nicht zu funktionieren. Um zu erkennen, welche Teile der aktuellen Gesellschaftsformation krisenhaft sind, welche Strukturen, Mechanismen und Institutionen also Subjekte in ihrem Status Quo halten und ihnen ihre Autonomie und Selbstbestimmung nehmen, muss sich das kritische Denken aus dem Status Quo heraus bewegen, ohne dabei jedoch zu vergessen, dass es seine Wurzel immer in diesem behält. Es muss kurz gesagt Begriffsarbeit leisten, ohne dabei zu vergessen, dass jegliche – auch kritische – Begriffe gesellschaftlich vermittelt sind.
Diese Aufgabe produziert immer eine Spannung. Die Spannung wird umso größer, je tiefer das Denken in den Strukturen des Status Quo eingebettet ist. Für die SPD bedeutet dies, dass – will sie sich Räume schaffen, in denen das Andere gedacht werden kann – sie eine Spannung zwischen ihrer Verflechtung mit den gesellschaftlichen Strukturen – dem Mitwirken in Regierungsverantwortung, ihrer Integration in Ministerien und den Institutionen der Republik – und dem Denken in Opposition zu ihnen aushalten muss. Momentan scheint ihr dazu die Kraft und der Mut zu fehlen.

Doch nur, wenn sich die SPD in diese Spannung, in diesen Konflikt begibt, kann sie sich als emanzipatorische Bewegung realisieren. Die Frage nach dem «Wohin?» kann nur im Rückgriff auf das «Wovon?» beantwortet werden.

Will die SPD wieder eine emanzipatorische politische Kraft werden, die sich für diejenigen einsetzt, die im Status Quo Autonomie und Selbstbestimmung verloren haben, dann muss sie die beschriebene Spannung in ihrem Denken und ihrer Praxis nicht bloß aushalten, sondern auch explizit suchen und sie konstruktiv in ein Anderes auflösen. Dafür kann die Kritische Theorie thematische und methodische Stichwortgeberin sein. Gerade die beiden, im Perspektiven Essay des IFS vorgestellten Forschungslinien scheinen eine gute Quelle für eine innerparteiliche Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu sein. Sie würden gerade jene Spannung erzeugen, die gebraucht wird.  Den Mut und die intellektuelle Leistung, diese Spannung einzugehen und sie auszuhalten, muss die Sozialdemokratie jedoch selbst aufbringen. Dazu scheinen sie und ihre Akteure momentan nicht in der Lage. 

1 Institut für Sozialforschung (Hg.): 100 Jahre IfS Perspektiven. Frankfurt am Main 2023, S. 13.

2 SPD-Parteivorstand: Hamburger Programm. 2007, S. 12.

3 Die späteren oder noch lebenden Vertreter*innen dieser Schule wurden kaum genannt. Der Name von Jürgen Habermas fiel nach meinem Kenntnisstand nur ein Mal und die jüngeren Wissenschaftler*innen bezogen sich fast ausschließlich auf die früheren Vertreter wie Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Walter Benjamin. Ein Umstand, aus dem ich keine direkten Schlussfolgerung ziehen möchte, den ich jedoch erwähnenswert finde.

4 Institut für Sozialforschung (Hg.): 100 Jahre IfS Perspektiven. Frankfurt am Main 2023, S. 5.

5 Vgl. Linda Martín Alcoff: «An Epistemology for the Next Revolution» In: TRANSMODERNITY: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World 1, no. 2 (2011), https://doi.org/10.5070/T412011808 (28.11.2023) sowie Frieder Vogelmann: Die Wirksamkeit des Wissens: Eine Politische Epistemologie, Erste Auflage. Berlin 2022.

6 SPD-Parteivorstand: Hamburger Programm. 2007, S. 12.

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